Wolfram Weimer / 03.04.2020 / 06:25 / Foto: Gary Dee / 100 / Seite ausdrucken

Die liberale Corona-Bekämpfung

Die Bewältigung der Corona-Krise ist nicht alternativlos. Während viele Länder Europas – auch Deutschland – auf radikale Massen-Quarantänen mit wochenlangen Ausgangssperren und Kontaktverboten setzen, vertrauen die Staaten Ostasiens einer ganz anderen Strategie. Von Japan bis Singapur, von Hongkong über Taiwan bis Südkorea läuft die Wirtschaft weiter, einen Shutdown der Gesellschaft gibt es nicht, Schulen und Geschäfte bleiben offen. Und doch kommen die Ostasiaten viel besser durch die Krise als die Europäer. Ihr Rezept: Masken für alle, dichtes Controlling und digitales Tracking der Erkrankten. Abstand halten (vor allem bei Alten) und auf Hygiene achten sowieso. Der Erfolg ist verblüffend, die Infektion scheint in Ostasien besser kontrolliert als im maskenfreien Lockdown-Europa.

Schweden geht nun einen dritten Weg. In Stockholm will man – mit besorgtem Blick auf Europa – die extremen Freiheitsbeschränkungen ebenso vermeiden wie die ruinösen Folgen einer Volkswirtschaft in Vollbremsung. Stockholm vertraut einer intelligenten Selbstkontrolle seiner Bürger. Es gibt keine rigiden Verbote, die Schulen und Geschäfte schließen nicht, die Wirtschaft arbeitet noch, das gesellschaftliche Leben bleibt weitgehend intakt, selbst der Skizirkus läuft vergnügt weiter. Nur größere Versammlungen von mehr als 50 Personen sollen unterbleiben.

Stefan Löfven, Chef der rot-grünen Minderheitsregierung, kommuniziert den verblüffenden Corona-Liberalismus als typisch schwedisches Bekenntnis zur Freiheit der Bürger. Die werde man nicht, wie fast überall woanders, massiv einschränken: „Es gibt eine individuelle Verantwortung, die muss jeder für sich selbst, für seine Mitmenschen und sein Land übernehmen. Wenn alle das tun, kommen wir als Gesellschaft auch durch diese Krise.”

Doch das schöne Narrativ vom mündigen Schweden, der den Virus auch ohne Verbote in Schach halte, erzählt nur die halbe Wahrheit. Denn hinter der schwedischen Liberal-Strategie steckt ein Plan. Der oberste Epidemiologe des Landes, Anders Tegnell, (er ist so etwas wie der Virologe Christian Drosten für Deutschland), glaubt nicht an den Erfolg von Shutdowns: „Ich möchte daran erinnern, dass Italien sehr früh sogenannte harte Maßnahmen ergriffen hat: Sie stoppten Flüge nach China, sie kontrollierten ihre Grenze.” Das habe aber nichts genutzt. Es sei vielmehr wichtig, sich klug und differenziert dem Virus zu stellen und Kollateralschäden zu vermeiden.

„Völlig sinnlose Maßnahmen“

Tegnell hält pauschale Abschottungen an Grenzen oder Schulschließungen für „völlig sinnlose Maßnahmen”: „Eine Verbreitung in der Schule ist nicht gefährlich.” Bei Kindern verlaufe diese Krankheit mild und sie würden sie auch nicht in dem Maße weiterverbreiten, wie es bei anderen Coronaviren oder Grippe der Fall sei. Im Gegenteil könnten Kinder rasch eine massenhafte Immunität aufbauen. Zudem würden sonst die Eltern im Job fehlen, deren Einsatz man gerade in der Krise benötige. Und auf keinen Fall sollten die Großeltern die Betreuung übernehmen, da diese besonders gefährdet seien.

Löfven und Tegnell halten es für illusorisch, das Coronavirus lasse sich überhaupt irgendwie aufhalten. Im Gegenteil: Ein zu starkes Eindämmen der Infektionswelle berge auch Risiken. Massenhafte Kontaktsperren führten dazu, dass der Erreger im Herbst wiederkehren werde. Nach Ansicht der Epidemiologin Annika Linde – sie war von 2005 bis 2013 oberste Virologin des Landes – besteht die Strategie Schwedens darin, bewusst zu versuchen, so schnell wie möglich eine sogenannte „Flockimmunitet”, eine Herdenimmunität, zu erreichen, um das Virus dauerhaft zu stoppen. Ob das funktionieren kann, ist wissenschaftlich hoch umstritten.

Ministerpräsident Löfven hat also drei Dinge im Auge: die Vernunft der Schweden zur Selbstkontrolle zu aktivieren, die Herdenimmunität möglichst schnell zu erreichen und bei alledem die Wirtschaft Schwedens möglichst wenig zu beschädigen. Darum verfolgt er eine Trippelschrittstrategie, um die Arbeitsprozesse möglichst lange aufrecht zu erhalten und nur dosiert “zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen” zu ergreifen.

Löfven geht damit ein Risiko ein. Es könnte nämlich sein, dass Schweden nur etwas später als Deutschland oder Italien von der vollen Wucht der Infektion getroffen wird und dann womöglich mit der liberalen Strategie fahrlässig gehandelt hat. Es könnte aber auch sein, dass Löfven mit seiner Augenmaßpolitik und Herdenimmunitätstrategie den weitsichtigeren Weg eingeschlagen hat. Da die Wissenschaft hier meinungsgespalten und unsicher ist, gibt der Sozialdemokrat als oberste politische Losung aus: „Es geht jetzt um gesunden Menschenverstand.”

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European

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Leserpost

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Wilfried Cremer / 03.04.2020

Die Schweden haben ihre Rigorosität bereits verbraucht bzw. Greta damit angereichert. Jede Art von Strenge ist seitdem mit Dämlichkeit kontaminiert und darum oberpeinlich.

Juliane Mertz / 03.04.2020

Schauen wir mal die Zahlen an: Deutschland hatte am 5.3. 400 Infizierte. Schweden hatte am 10.3. 400 Infizierte. Jeweils 10 Tage später hat Deutschland am 15.3. 6012 Infizierte und Schweden am 20.3.  1639 Infizierte. In den letzten 14 Tagen Kontaktsperre stiegen die Zahlen in Deutschland um den Faktor 10 , in Schweden ohne Maßnahmen um den Faktor 3.  (Quelle Wikipedia) Achso, wer jetzt sagt, dass Schweden aber nicht so dicht besiedelt ist, dem sage ich, dass Schweden genau deswegen auch einen anderen Weg gehen darf.

Jürgen Kunze / 03.04.2020

Als Naturwissenschaftler kann ich Löfven und Tegnell nur bestätigen. Es geht aber auch nicht um die Verhinderung von Sterbefällen bei der “Sonderbehandlung” ganzer Völker,  sondern nur um die zeitliche Streckung der Sterbefälle. Masken für alle wären gut, wenn die Häupter unseres Landes Pandemievorsorge ernst genommen hätten. Nun haben wir nicht nur die Fotoindustrie nach Asien verlegt, sondern eben auch die Maskenindustrie. Wir sind in die Maskenabhängigkeit geraten. Und nun kommt die Burka zum Zuge! Wenn sich jetzt herausstellt, dass die Burkaträgerinnen eine größere Überlebenschance haben, sollten sich alle Politikerinnen damit bewaffnen. Im Laufe der Zeit würde sich dann ihr Anteil an den Bullshitproduzenten automatisch erhöhen und es müssten keine Quoten erzwungen werden.

G. Kramler / 03.04.2020

Es besteht der Verdacht, dass die Politik auch deshalb auf Repression plus Nothilfen setzt, weil damit die Macht der Politik unfassbar schnell, leicht, und weit ausgebaut werden kann.

Norbert Petschat / 03.04.2020

Schön und gut - aber wie lange hält Schweden diese Linie durch? Es lässt sich ja von Tag zu Tag verfolgen, wie die Todesrate in Schweden steigt: Aktuell (gestern) 5,5%. Bis 8%? Bis 10%? Boris Johnson hat es schnell kapiert und eine Kehrtwende eingelegt. Das wird in Schweden auch kommen, aber bis dahin sind viele Menschenleben zu beklagen.

Andreas Klüter / 03.04.2020

Sehr geehrter Herr Weimer, ihre Meinung in allen Ehren, aber warten wir was Schweden angeht noch eine Woche ab. Dann werden wir sehen. In Schweden läuft alles ohne Mundschutz, die Altenheime sind befallen, die Fallzahlen steigen sehr schnell. Mal sehen, wie lange das noch geht. Leider wird zu viel gewartet und zu wenige Entscheidungen getroffen, die in anderen Ländern schon begonnen werden und von denen Sie Hr. Weimer auch reden. Meine Vorschläge wären recht simpel aber ein Versuch wäre es wert, wer bessere hat, gerne, keine Denkverbote, “Denk-Sport” ist gefragt um die beste Lösung zu finden und die Kontaktsperren weitestgehend aufzuheben, durch abwarten wird dies nicht geschehen. 1. Maskenpflicht im öffentlichen Raum, auch im Bus und Flugzeug, ( jajaja, er will schon wieder eine Verpflichtung aber m. E. unerlässlich, aber keine Denkverbote, wer eine bessere Idee hat, gerne !!) 2. Abstand halten in den Geschäften, so kann zumindest jeder seinem Job nachgehen 3. Bei größeren Läden oder auch kleinen, Helfer, die die Griffe Wägen mit Desinfektion reinigen, mit evtl. Temperaturmessung und kontaktlosen Desinfektionsständern am Eingang. So kann jeder weiter Einkaufen. Mit Auflagen ist es besser als gar nicht Einkaufen können, gerade für die Betreiber und Mitarbeiter. 4. Wenn möglich kontaktloses Bezahlen 5. Leider werden auch weiter Veranstaltungen mit mehr als 10 Personen bis auf weiteres nicht möglich sein. Das Virus breitet sich sonst zu schnell aus. (Bin gerne offen für andere Vorschläge). 6. Bundesliga, Euro-Leage, Champions-Leage vor leeren Rängen, dafür aber weiterspielen und das ganze übertragen. Sicherlich gibt es noch viel mehr. Aber es wäre ein Anfang, bei dem Jeder, vom Busunternehmer, Flugbegleiterin, Textilverkäuferin und andere profitieren würden, denn sonst gehen viele in Konkurs und kein Staat wird sie retten können. Kredite ohne Einnahmen sind Sargnägel für die Betriebe und bringen aus meiner Sicht auf lange Sicht nicht viel.

Donatus Kamps / 03.04.2020

Schwedens Gesundheitssystem wird so kollabieren, wie das in Italien oder Spanien. Interessant wäre es gewesen, wäre Schweden den vierten Weg gegangen: es gibt keinen Lock-Down, aber folgendes Gesetz: wenn sich Menschen, die nicht zum gleichen geschlossenen Cluster gehören, auf weniger als drei Meter annähern, müssen sie eine Maske tragen oder bei geschlossenem Mund schweigen. Alle Restaurants, Schulen, Betriebe und Geschäfte haben diese Regel umzusetzen, dann dürfen sie offen bleiben. Wer sich krank fühlt, muß sich zu Hause in Quarantaine begeben. Man sollte Experimente machen mit jungen Leuten, die eine Corona-Partei feiern wollen, und sich stattdessen dem wissenschaftlichen Experiment zur Verfügung stellen, wie Menschen in einer WG mit einem Corona-Infizierten zusammenleben können, ohne sich anzustecken.

Johannes Termer / 03.04.2020

Löfven zeigt damit Rückgrat. Es ist eine für einen Politiker sehr gefährliche Entscheidung. Sollte das Virus wider Erwarten doch völlig außer Kontrolle geraten, dann wird man ihn dafür verantwortlich machen. Es ist kein Wunder, dass Merkel - wie immer - den einfachsten Weg geht und einfach nachplappert, was die sozialen und herkömmlichen Medien und ein paar wenige Experten ihr vorsagen. Geht die Wirtschaft den Bach runter war eben das Virus schuld und es sind doch alle sooo überzeugt davon, dass ein Lockdown bis zum Sankt-Nimmerleinstag der einzig richtige Weg ist. Meiner Meinung nach ist der schwedische Weg aber der einzig Richtige. Was ist denn unser Endziel hier? Warten, bis es einen Impfstoff gibt? Das ich nicht lache, das dauert selbst im besten Fall noch viele Monate. Die Herdenimmunität während des Lockdowns herbeiführen, damit auch jeder Patient die volle Aufmerksamkeit des medizinischen Personals bekommt? Na dann sollten sich die Leute schon mal eine Höhle suchen, in der sie danach leben können und sich auf echte Leichenberge einstellen, weil das gesamte Gesundheitssystem genau wie der Rest des Landes mangels Wirtschaftskraft in sich zusammenfällt. Es ist ein Irrsinn was hier passiert, diese feigen und wieder einmal ‘alternativlosen’ Maßnahmen vernichten Wohlstand, den Generationen vor uns erarbeitet haben. Nach drei Wochen Lockdown, der bereits grob geschätzt 120 Milliarden Euro unwiderruflich vernichtet hat, haben wir in etwa 1000 Tote, wie überall sonst nahezu ausschließlich sehr alte und sehr kranke Menschen. In der Saison 2017/2018 sind 25000 Menschen an Influenza gestorben. Wahnsinn. Aber laut unserer großartigen Kanzlerin ist ein Ende nicht in Sicht - warum auch, wenn doch in den sozialen Medien die Lemminge sich gegenseitig im gutsein überbieten und jeden an den Pranger stellen, der es wagt, Zweifel zu hegen?

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