Rainer Grell / 02.11.2016 / 06:11 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 6 / Seite ausdrucken

Die goldene Regel der Rücksichtnahme auch für Schweine?

Zu meinem Beitrag „Gesetze des Wahnsinns“ schrieb Achse-Leser Thomas Friedrich: „Gibt es irgendein Argument, warum sich die moralische Rücksichtnahme an der Speziesgrenze orientieren sollte? Wenn ja, dann habe ich es in dem Artikel nicht gefunden.“ In der Tat, lieber Thomas Friedrich, gibt es in meinem Beitrag kein Argument, warum sich moralische Rücksichtnahme an der Speziesgrenze orientieren sollte. Ich finde die auf den ersten Blick verblüffende Frage aber so interessant, dass ich versuchen möchte, eine Antwort darauf zu geben.

Als Ausgangspunkt wähle ich die Goldene Regel, die vermutlich den kleinsten gemeinsamen interkulturellen Nenner darstellt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder in den Worten Jesu: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen auch“ (Lukas 6, 31, fast gleichlautend Matthäus 7, 12). Doch schon lange vor der Bibel lehrte „Meister Kung“ K’ung fu-tzu (latinisiert Konfuzius) (551–479 v. Chr.): „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ Ähnliche Aussagen finden sich im hinduistischen Mahabharata und in den Lehren Buddhas. Und im Talmud lautet der Satz: „Was dir verhasst ist, das tue deinem Nächsten nicht.“ Im Koran findet sich die Regel nicht, aber ein Hadith (Ausspruch) Mohammeds lautet: „Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.“ Allerdings ist offen, ob mit Bruder jeder Mensch oder nur ein Muslim gemeint ist.

Rechtlich fand die Goldene Regel ihren ersten Niederschlag in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793, in deren Artikel 6 es heißt « Ne fais pas à un autre ce que tu ne veux pas qui te soit fait. » (Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.) Wenn man etwas tiefer blickt, könnte man sie heute in der Würde des Menschen in Artikel 1 unseres Grundgesetzes wiederfinden. Dieses philosophisch, religiös und rechtlich begründete Gebot ist zeitlich und räumlich derart verbreitet, dass man es als durch die evolutionäre Entwicklung genetisch verankert ansehen könnte, wie das etwa der Biologe Hans Mohr tut. Erfahrungsgemäß würde einen das aber unweigerlich dem Vorwurf einer „biologistischen“ Sichtweise aussetzen und damit in eine Ecke drängen, aus der man nur schwer wieder herauskäme. Ich lasse den Punkt deshalb offen und halte fest: Das, was der Achse-Leser „moralische Rücksichtnahme“ nennt, ist eine weltweit verbreitete menschliche Verhaltensweise und auch Verhaltensnorm.

Kern dieser Verhaltensweise ist die Gegenseitigkeit. Deswegen kann sie nur auf menschliche Gemeinschaften bezogen und beschränkt sein. Gegenüber anderen Spezies wäre sie vollkommen wirkungslos, weil kein einziges Lebewesen außer dem Menschen entsprechende Übereinkommen treffen könnte. Solange sich Löwen nicht zum Veganismus bekennen, können wir mit ihnen auch keine Vereinbarungen abschließen, die das gegenseitige Verhalten betreffen. Und für Löwen und Antilopen oder Zebras untereinander gilt dies erst recht. Warum die genetische Nähe von Mensch und Menschenaffen anders zu bewerten sein sollte als von Mensch zur Maus und zum Schwein, bleibt offen. Dabei hat nicht nur Churchill, sondern sein Landsmann George Orwell (in „Animal Farm“) auf die besondere Verwandtschaft von Menschen und Schweinen hingewiesen: “The creatures outside looked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man again; but already it was impossible to say which was which.” (letzter Satz des Romans)   

Unsere Beziehungen zu allen nicht-menschlichen Lebewesen werden immer einseitig sein

Unsere Beziehungen zu allen nicht-menschlichen Lebewesen werden immer einseitig sein. Das heißt natürlich nicht, dass wir ihnen gegenüber aller „Moral“ ledig sind und machen können, was wir wollen. Zwar könnten sich gläubige Menschen diesbezüglich auf 1. Mose 9, 2 berufen, wonach Gott zu Noah sprach: „Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht, und über alle Fische im Meer; in eure Hände seien sie gegeben.“ Daraus kann jedoch mitnichten der göttliche Befehl abgeleitet werden, mit der belebten Natur nach Belieben zu verfahren. Denn dann wäre bald nichts mehr da, „was sich regt und lebt“ und dem Menschen als „Speise“ dienen könnte.

Es ist also ein Gebot der Vernunft, sorgsam mit unserer Umwelt umzugehen, weil wir uns sonst unserer eigenen Lebensgrundlagen berauben würden. Das kann man „moralische Rücksichtnahme“ nennen, wenn einem danach ist. Die Thesen von Precht, Schmidt-Salomon und Singer kann man damit nicht begründen. Das eigentliche Problem liegt vielmehr darin zu erkennen, wann eine ökonomisch sinnvoll erscheinende Handlung ökologisch gefährlich und letztlich sogar sinnlos ist. Wie schwer diese Erkenntnis fallen kann, hat Bertolt Brecht lange vor der grünen Bewegung so zum Ausdruck gebracht:

„Und sie sägten an den Ästen, auf denen sie saßen und schrien sich ihre Erfahrungen zu, wie man besser sägen könne. Und fuhren mit Krachen in die Tiefe. Und die ihnen zusahen beim Sägen schüttelten die Köpfe und sägten kräftig weiter.“

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Willi Halm / 02.11.2016

Lb. Herr Grell,  Sie beschreiben zweifellos den ethisch, moralischen Mainstream. Dennoch eine Anmerkungen: Die “Goldene Regel” gilt nicht nur für Menschen, sondern in allen gesellschaftlich organisierten Lebensgemeinschaften, Ameisen, Bienen, Schimpansen, etc. - ein Naturgesetz, sozusagen. Beim Menschen gilt sie von Natur aus lediglich für die kleinste Einheit, die sich als Gesellschaft von Gleichen versteht, nach Platon selbst für eine Räuberbande. Es war ein religiös, philosophisch bedingter , keinesfalls zwangsläufiger, sondern ein mit Waffen durchgesetzter Fortschritt,  die auf der Goldenen Regel basierenden Menschenrechte auf alle Menschen aus zu dehnen. Denken Sie sich eine Welt aus, in der nationalsozialistische Rassisten den Sieg davon getragen hätten. Ihr Begründung , nur Menschen könnten/würden eine entsprechende Übereinkunft formulieren, ist ein theoretisches/hypothetisches Konstrukt. Es begründet aber im Kern die Formulierung eines positiven, d.h. gesetzten Rechts und keineswegs eine moralische Zwangsläufigkeit. Unter dem Aspekt, dass es sich um eine positive Rechtssetzung handelt, besteht kein logischer Zwang zur Eingrenzung des Begriffs der Goldene Regel auf Menschen.

Jens Richter / 02.11.2016

Ich habe die “Krone der Schöpfung” immer so aufgefasst, dass wir Könige sind, aber gütige und vor allem vernünftige Könige, und die sorgen dafür, dass es ihren Untertanen gut geht. Die einen geben uns ihre Arbeitskraft und Steuern, die anderen Fleisch, Milch und Fell. Und wie Sie schon schrieben, das können sie nur, wenn man anständig für sie sorgt und sie vor totaler Ausbeutung schützt. Es wäre wünschenswert, wenn in Deutschland der “Steuerzahlerschutz”(wieder) einen so hohen Stellenwert wie der Tierschutz hätte.

Richard Loewe / 02.11.2016

Hallo Herr Grell, gute Idee, den Leserkommentar als Aufhanger fuer einen neuen Beitrag zu nehmen. Ich fand den Kommentar auch bemerkenswert. Nicht weil er so weit ab vom Schuss waere - ich glaube, er stellt die komplett unreflektierte politische Mehrheitsmeinung dar. Ich fand ihn interessant, weil er von einem Achse-Leser gemacht wurde. Achse-Leser sind normalerweise reflektiert und bloeken nicht einfach die politische Mehrheitsmeinung. Ausser ein paar verwirrten Koepfen (Singer) wuerde niemand auf die Idee kommen, Ethik ohne Vernunft machen zu wollen und genau das ist ja eine Ethik, die nicht zwischen Mensch und Tier unterscheidet. Das verstehen die meisten Progressiven nicht, ebenso wenig wie sie Ihren (und meinen) logischen Einwand gegen ein tiefes und aggressives Gefuehl verstehen. Fuer die Emotivisten ist es naemlich unmenschlich Vernunft walten zu lassen. Dass Ethik ohne Logik ganz schnell unethisch wird, ist so einfach wie unverstanden. Man muss nicht in die Bibel schauen, um gegen Tierquaelerei zu sein: Respekt ist das Anerkenntnis des Menschseins in sich selbst und im anderen Menschen. Der Respekt gegenueber der eigenen Menschlichkeit gebietet es, Natur behutsam zu nutzen. Das kann man recht gut aus Kant und Hegel ableiten. Und: ich mag Schweineschnitzel auch lieber als Pommes. Wenn auch nur knapp!

Alexander Wildenhoff / 02.11.2016

Ein Vertrag unter Menschen beruht auf Gegenseitigkeit. Und wenn die Machtbalance einigermaßen ausgeglichen ist, gilt der alte moralische Imperativ: Pacta sunt servanda – Verträge müssen eingehalten werden.  Das hat das Überleben unserer Spezies nachhaltig befördert, was man durchaus auch als biologischen Vorteil im darwin´schen Sinne im Kampf der vielen Spezies untereinander sehen kann.  Die moralisch begründete Selbstverpflichtung, ins Grundgesetz zu schreiben, dass   gentechnisch uns nahestehende Arten vom Speiseplan der Individuen zu verschwinden zu haben, die an der Spitze der Nahrungskette stehen,  kann nicht nachhaltig sein. Auch wenn Schmidt-Salomon Handschlagvertäge mit Gorillas abschließen will. Um bei Bertold Brechts Dreigroschenoper zu bleiben: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. 

Hans Meier / 02.11.2016

Wunder schön! Exakte Beschreibung! Merkel und ihre Ferkel, sie sitzen in den Ästen und täglich sägen sie.

Peter Rauch / 02.11.2016

“Kern dieser Verhaltensweise ist die Gegenseitigkeit. Deswegen kann sie nur auf menschliche Gemeinschaften bezogen und beschränkt sein. Gegenüber anderen Spezies wäre sie vollkommen wirkungslos, weil kein einziges Lebewesen außer dem Menschen entsprechende Übereinkommen treffen könnte.” Geht es hier um eine vertragliche Vereinbarung? Menschliche Übereinkommen sind mindestens genauso wirklungslos. Und ein bisschen viel von anderen Säugern verlangt, Lukas, Matthäus, Konfuzius, dem hinduistischen Mahabharata, Buddha, dem Talmud oder gar dem Schächter Mohammed oder sonst irgendwelchen Irrationalismen zu folgen. Wenn der Mensch (...falls dieser individuell überhaupt dazu fähig ist…) doch im Spiegel des eigenen Ichs begreift, das Leid vermeidbar ist, müsste er auch begreifen, dass das schlichte Nichtvorhandensein dieser Gabe nicht davon entbindet, ein moralisches Wesen zu sein.

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