November. In der Luft der Geschmack nach kaltem Metall. Aus der Ferne, zunächst auf deutsche Medienberichte angewiesen, nehme ich die Causa Hubertus Knabe wahr, und schlage mich mit der Frage herum, ob und wie weit sie mich etwas angeht. Meine Teilnahme ist zunächst persönlich, weil ich Hubertus Knabe kenne. Seit 1991. Er war damals Lektor bei Rowohlt in Berlin und versuchte, nachdem er mich in einer Veranstaltung erlebt hatte, mich zu einem Buch zu überreden. Ich wollte dieses Buch nicht schreiben, weil ich ahnte, dass es mir jede Menge Ärger bringen würde.
Doch Hubertus wusste sich durchzusetzen, das heißt, mich zum Schreiben des Buches zu bewegen. Das war ganz ungewöhnlich in der damals schon trägen deutschen Buchbranche: dass ihm so an diesem Buch lag. Dass ihm überhaupt an etwas lag. Er rief mich ein Dutzend Mal an, besuchte mich in meinem Büro in der Freien Universität, legte ein Blatt Papier vor mich hin und einen Stift und verlangte, ich sollte ein Exposé schreiben, auf der Stelle, ein paar Sätze, wie ich mir das Buch vorstellte. Eher würde er nicht gehen. Und ich schrieb einen Satz und noch einen, und wie es zu gehen pflegt: Beim Schreiben gerieten meine Gedanken in Bewegung und ich schrieb das Blatt voll. Und schrieb dann auch das Buch. Es brachte mir eine Menge Ärger ein, wie ich geahnt hatte, doch es wurde auch ein erstaunlicher Erfolg.
Das habe ich nicht vergessen: Hubertus' Engagement, seine Energie. Seine Fähigkeit, etwas in Bewegung zu bringen. Das Buch hieß Nachtgedanken über Deutschland, es war ziemlich pessimistisch, manches – zum Glück nicht alles – von dem, was ich voraussagte, ist eingetroffen. Ich erinnere mich, dass ich fürchtete, die Strukturen der geistigen Unterdrückung, der Überwachung, der Einschränkung der freien Meinung, die mich und viele andere aus dem Osten vertrieben hatten, würden überleben und sich im vereinigten Deutschland einnisten. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur erfolgte schon damals, als das Buch erschien, im Frühjahr 1992, auffallend halbherzig. Möglichst vermieden wurde das traurige Thema westlicher Mitschuld, der Duldung und Billigung der ostdeutschen Verbrechen durch die westdeutsche Linke.
„Ein Dorado für Mitläufer und Mittäter“
„Wer nachträglich danach fragte“, schrieb ich damals, „fand sich schnell in den Gefilden der Abgeschalteten wieder, auf dem Parnass der ewigen Außenseiter, in der Rolle eines Verdächtigen. Dafür stiegen dubiose Leute auf, je dubioser, umso höher.“ An wen dachte ich? An die FDJ-FunktionärInnen, die zwanzig Jahre später Deutschlands Politik bestimmen sollten? „Das vereinte Deutschland ist im Begriff“, schrieb ich weiter, „erneut ein Dorado für Mitläufer und Mittäter zu werden, für die ewig angepasste Schicht, die für eine Kontinuität des Versagens steht.“ Damals habe ich viel darüber nachgedacht und publiziert, zum Beispiel in dem von Cora Stephan herausgegebenen Sammelband Wir Kollaborateure, der gleichfalls bei Rowohlt erschien. Hat auch hier Hubertus mitgewirkt? Cora Stephan schrieb darin ahnungsvoll, gleich im Eingangstext, über „die geistige Wiedererrichtung der DDR.“
Heute, ein Vierteljahrhundert später, lässt sich feststellen: Sie ist erfolgt. Und der Fall Hubertus Knabe steht dafür. Deutschland erinnert wieder an die DDR. Die Einschüchterung, die Abschaltung, die Zensur bedienen sich anderer Mittel, in der Regel sanfter, subtiler, heimlicher und heimtückischer als damals, doch mit dem gleichen Ziel: jeden verdächtig und mundtot zu machen, der von der Parteilinie abweicht oder, wie man heute sagt, von der politischen Korrektheit. „Die Gedenkstätte Hohenschönhausen hat sich unter der Leitung von Herrn Dr. Knabe zur wichtigsten Erinnerungsstätte an die Verbrechen der SED entwickelt“, schrieb kürzlich der ehemalige Bürgerrechtler Arnold Vaatz. „Keine andere derartige Gedenkstätte kann auf einen ähnlichen Zuspruch verweisen.“ Und eben darum ist Hubertus untragbar geworden. Das ist die Logik im System des Scheiterns.
Denn eins scheint heute vergessen zu sein: Die DDR war nicht nur ein Symbol für Unterdrückung, Anpassung, Angst, Denunziation und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sie war auch ein grandioses Scheitern, ein Flop, ein historisches Debakel. Es ist – und war immer in der Geschichte – das Zeichen der Dummen, dass sie abweichende Gedanken nicht als Anregung verstehen, sondern als Gefahr. Solchen Versuchen war nie Erfolg beschieden, jedenfalls nicht lange. Ob es die stalinistischen Säuberungen waren oder das Sperren von Scherzen auf Facebook, ob Anklagen wegen „staatsfeindlicher Hetze“ oder das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“.
Auch dem Versuch, Hubertus Knabe auszuschalten, wird kein Erfolg beschieden sein. Hubertus hat mich damals zum Schreiben eines Buches bewegt, zur Aufgabe meines Schweigens. Er wird weiter Dinge in Bewegung bringen. Und auch selbst nicht schweigen.