Erich Wiedemann / 02.01.2021 / 14:00 / Foto: Pixabay / 30 / Seite ausdrucken

Deutschland – die verspätete Nation

Tanz und Remmidemmi im Ichilow-Krankenhaus in Tel Aviv. Es gab was zu feiern. Soeben hatten die ersten Corona-Impflinge die Station verlassen.

Die Israelis impfen wie die Weltmeister. Die Impfstationen sind 24 Stunden am Tag geöffnet – sieben Tage in der Woche. In den ersten neun Tagen wurden über eine halbe Million Menschen geimpft. Das waren rund 5,5 Prozent der Bevölkerung. In Deutschland waren es bis zum Silvestertag 131.000. Das sind weniger als ein Prozent.

Warum sind die Deutschen so langsam und die Israelis so schnell? Und nicht nur die Israelis. Großbritannien bekam allein bis Silvester vier Millionen Impfdosen und hat für 2021 die Zusage für rund 40 Millionen weitere erhalten. Im ganzen Königreich sind seit über einer Woche mehr als hundert Impfstationen tätig. Auch die 94-jährige Queen Elizabeth II. und ihr 99-jähriger Ehemann Philip haben sich impfen lassen.

Für Israels Premierminister, Benjamin Netanjahu, war die Impfung von Anfang an Chefsache. Er hatte zweimal persönlich mit dem Geschäftsführer der Herstellerfirma Pfizer, Albert Bourla, in New York telefoniert. Der Deal, der dabei herauskam: die Lieferung von acht Millionen Dosen. 

Die Israelis zahlen dafür 30 US-Dollar pro Ampulle, die EU dagegen nur 18 Dollar. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt auch die Preise in Corona-Zeiten. Die Mehrausgaben haben sich für den Staat Israel aber gelohnt. Er hatte zuvor bereits eine Vereinbarung für den Verkauf eines Impfstoffes mit dem amerikanischen Pharmaunternehmen Moderna abgeschlossen. Damit ist er schon überversorgt. Bei dem gegenwärtigen Tempo werden im März rund 60 Prozent der Population geimpft sein. Das reicht, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen.

Gemeinsam und zusammen anfangen

Großbritannien begann mit der Immunisierung fast zwei Wochen vor den Deutschen, und zwar mit dem Wirkstoff, der von Biontech und Pfitzer in Mainz mit großzügiger finanzieller Unterstützung des Bundes, also unter Einsatz von Steuergeld, entwickelt worden war. Ebenso die Vereinigten Staaten. Niemand hat die Frage gestellt, ob und wie viele Menschen, die in Deutschland an der Seuche starben und in den kommenden Wochen noch sterben werden, hätten gerettet werden können. 

Auch die Zulassung des Impfstoffs hatte sich aus politischen Gründen verzögert. Gesundheitsminister Spahn lehnte einen deutschen Alleingang ab. Er wolle damit warten, bis die EU das Serum zulassen würde. Das dauerte deutlich länger als die Zulassung in Großbritannien und in den USA. Denn bei der EU geht’s nicht schnell und schon gar nicht, seit Ursula von der Leyen dort das Sagen hat. "Lasst uns so bald wie möglich gemeinsam mit dem Impfen anfangen, zusammen mit einem Start am selben Tag", sagte von der Leyen im Europaparlament.

In Großbritannien kann inzwischen auch der Corona-Impfstoff der Universität Oxford und des Pharmakonzerns AstraZeneca eingesetzt werden. Die britische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel hat dem Mittel die Zulassung erteilt, obwohl es weniger wirksam sein soll als das deutsche.

Europe first

Deutschland startete nicht nur mit Verspätung, sondern auch mit einem Mangel an Impfstoff. Verantwortlich war die EU-Kommission. Die Hersteller BioNTech und Pfizer hatten 500 Millionen Dosen zum Kauf angeboten. Die EU bestellte aber nur 200 Millionen und erhöhte einige Tage später auf 300 Millionen. Mehr noch als an Impfstoff fehlte es an Professionalität. Sie habe, so BioNTech-Chef Uğur Şahin, auch auf Impfstoffe anderer Hersteller gesetzt, die nun nicht schnell genug liefern könnten. Sahin über die Stimmungslage in Brüssel: „Offenbar herrschte der Eindruck: Es wird alles nicht so schlimm.“

Jens Spahn hätte mit guten Erfolgsaussichten auch bilateral über die Lieferung von zusätzlichen Kontingenten verhandeln können. Aber er sagte, er hätte nicht „hintenrum“ verhandeln wollen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprang ihm bei. Man dürfe ärmeren Ländern den Stoff schließlich nicht wegschnappen. Spahn und Schäuble folgen gehorsam der Merkel-Linie. Nicht Germany, sondern Europe first. Der Impfstoff müsse ein „globales öffentliches Gut“ werden, der, so die Kanzlerin, für „alle Teile der Welt“ zugänglich sei.

Ganz gleich, ob Spahn aus ethisch hochwertigen Motiven nicht rechtzeitig gehandelt oder ob er seine Chance verschlafen hat – die Folgen waren Lieferengpässe in mehreren Bundesländern. Die Eröffnung des Behandlungszentrums am alten Flughafen Berlin-Tegel etwa musste abgesagt werden, weil nicht genug Impfstoff zur Verfügung stand.

So sieht der „Impfnationalismus“ aus

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat angeregt, die Zweitimpfung zeitlich nach hinten zu verlegen, um die Vorräte zu strecken. Denn bereits nach der ersten Impfung ist mehr als die Hälfte der Geimpften geschützt. 

BioNTech will auch weitere Fabriken in Produktion gehen lassen, um die Bedarfslücken zu füllen. Aber das geht natürlich nicht von heute auf morgen.

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider erteilte dem CDU-Gesundheitsminister einen wohlfeilen Tadel. Er müsse „das Chaos nun schnell beenden.“ Schneider hätte sagen können, dass beim Impfstoffeinkauf den deutschen Interessen Vorrang vor internationalen Interessen einzuräumen sei. Doch das tat er nicht. Denn das hätte ja die Solidaritätsdoktrin seiner Partei beschädigt.

Für Jakob Augsteins „Freitag“ steht trotz widriger Faktenlage das Urteil fest: „Purer Impfnationalismus“. Doch diesen Vorwurf kann man den Deutschen nicht machen. Sonst hätten sie ja genug von dem Stoff. 

Foto: Pixabay

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Dominik Langer / 02.01.2021

Erst hieß es, wir wären schon Mitte Dezember bereit, zu impfen, dann wird es dennoch mehrfach verkackt. So, wie ich es mir dachte. Aber wenn sich 50% der Leute eh nicht impfen lassen wollen (verständlicherweise), wird es auch zu keinem plötzlichen Engpass kommen. Zumindest nicht auf lange Sicht. Die Zweitimpfung nach hintern zu verlegen, halte ich für einen SCHWEREN Fehler. Da gerade vor allem die anfälligsten jetzt geimpft werden, also die, für die diese Impfung womöglich wirklich bedeutsam ist, sollten diese Menschen den bestmöglichen Schutz schnellstmöglich erhalten…und nicht erst später. Das einzige Argument, das man da gelten lassen könnte, wäre, dass es in den Sommermonaten vermutlich zu deutlich weniger Infektionen kommen wird. Diese Zeit könnte man also dann tatsächlich für solch eine Strategie nutzen. Wird aber sowieso wieder verkackt, also warum aufregen? Die “Immunität” hält wohl auch nur wenige Monate an, was heißt, dass evtl. schon viele nachgeimpft werden müssen, bevor die ersten überhaupt “dran” waren. Die Infektionen werden mit dem Impfstoff anscheinend nicht verhindert, also…spitze. Dann fehlt nur noch, dass wir in einigen Monaten oder Jahren merken, dass die Langzeitwirkungen doch nicht so dufte sind…der Impfstoff doch nicht so gut wirkt…oder zu viele Menschen an einer Impfung sterben, die für fast 8 Milliarden Menschen gedacht ist. Ich verzichte vorerst dankend, bleibt ja eh alles geschlossen. Und ich sitz sowieso nur daheim rum und hab fast keine Menschenkontakte, juchu. Seit Installation dieser tollen App vor Monaten schon noch keine einzige Risikobegegnung. Ich bin eigentlich schon enttäuscht, nachdem selbst ich statistisch gesehen schon direkt mit dem Virus in Kontakt hätte kommen müssen.

Stephan Bujnoch / 02.01.2021

Perfide, meineidig und völlig unfähig. Zu Allem fähig, zu nichts zu gebrauchen. Wie kann eine Kanzlerin in einer - in ihrer eigenen Wahrnehmung - seit dem 2. Weltkrieg größten Herausforderung, einer tödlichen Pandemie, die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Impfstoff in Brüsseler Funktionärshände legen? Hat sie nicht geschworen Nachteile für das Volk abzuwenden? Weiß sie nicht, daß Brüsseler Mühlen noch langsamer mahlen als die berliner Mühlen und sich einen Dreck um deutsche Interessen scheren? Nein, nein, sie weiß das alles. Aber wenn es darum geht, Europa-Haltung zu zeigen, dürfen doch Corona-Leugner oder andere Demokratiefeinde nicht die durch dieses Versäumnis zwangsläufig entstehenden zusätzlichen deutschen Todesfälle auf die Goldwaage legen,- schließlich geht es ja um Europa. Wo gehobelt wird fallen auch Späne. Was macht eigentlich Herr Haldenwang? Außer cum ira et studio nach rechts zu schielen, bzw. dorthin wo er rechts verortet. Wo immer das ist, man darf davon ausgehen, daß “rechts” weit rechts von der Mitte anfängt. Alles ist relativ, es kommt nur auf den eigenen Standpunkt an. Und den haben die Polit-Schranzen schon immer selbst definiert.

Jürgen Fischer / 02.01.2021

Ach hört doch auf, das ist doch so geplant: Damit man demnächst sagen kann, es sind viel zu wenige geimpft, also müssen wir den Lockdown noch ein paar Wochen ... Monate ... Jahre ... weitermachen. Wartet’s nur ab!

Michael Lorenz / 02.01.2021

Interessant, warum sich das Problem einer Impfpflicht erledigt hat: unsere Qualitätsregieung enttäuscht auch dieses Mal nicht - sie versemmelt zuverlässig JEDES Thema! Ich sage aber trotzdem nicht “danke”, denn ich berappe ja den Gesamtpreis dafür mit: ruinierte Bildung, Altersvorsorge, Industriestandorte, Energieversorgung, Bundeswehr, Sicherheitslage ... (unfassbar, was man hier so alles aufzählen muss. Kann das noch Dummheit sein?).

Georg Dobler / 02.01.2021

Nicht böse sein Herr Wiedemann, aber als ich den Satz las “Mehr noch als an Impfstoff fehlte es an Professionalität.”... Sie meinen die Deutsche Regierung und das Gesundheitsministerium ??.... Sie, ...Verzeihung, ich steh eine hundertstel Sekunde vor einem gesundheitsbedrohenden Lachanfall… sind bis heute von Professionalität seitens der Regierung ausgegangen ..... Hahahahu ..sorry ...hihahahahuuahah ..verzeihung ..die werden bis Weihnachten 2021 es nicht hinkriegen ....Professionalität…!!  … hahahuuhuhua   ... tschuldigung..

M. Marten / 02.01.2021

Karl-Heinz @Vonderstein “Ich vermute, die Deutschen sind die einzigen, die sich diesbezüglich nicht selber am nächsten sind und darüber nachdenken, dass auch die Ärmeren in der Welt geimpft werden können.”  Monty Python’s Flying Circus.

gerhard weisser / 02.01.2021

Ich stimme dem Autoren zu. Die meisten anderen Autoren auf Achgut spielen die Kennzahlen der Epidemie herunter oder leugnen Sie (Übersterblichkeit), als wäre der Tod Älterer ohne Belang. Das Leugnen der Infektionsrisiken trägt zur Massenveranstaltungen wie bei die Party bei Rennes in Frankreich bei. Ein solches Weltbild ist mit Ursache der gut belegten Intensivbetten – aber es liegen ja nur alte Rentenempfänger drin, Türken und Osteuropäer wie Dr. Frank schon vermutete.

M. Marten / 02.01.2021

werter Autor Erich@Wiedemann. “Auch die 94-jährige Queen Elizabeth II. und ihr 99-jähriger Ehemann Philip haben sich impfen lassen.” ach Gottchen, dann ist ja alles in Ordnung, na denn man tau, gute Werbung.

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