Dirk Maxeiner / 16.05.2021 / 06:25 / Foto: 玄史生 / 24 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Das Jahr der Schlange

Ich habe eine Warteschlangen-Phobie. Freiwillig stelle ich mich nirgends an. Und unfreiwillig auch nicht. Ich erinnere mich an einen Besuch auf dem Münchner Oktoberfest – in einer Zeit, als nur die Gangster Masken trugen und die Söderteska für eine schwedische Provinz gehalten wurde. Die vielen Fahrgeschäfte lockten und mein kleiner Sohn wollte unbedingt da hinein. Doch überall Warteschlangen: vor dem Riesenrad, dem Twister, dem Looping, selbst am Kassenhäuschen des Autoscooters. Das einzige Fahrgeschäft ohne Schlange war ein Flohzirkus. Da stand kein Mensch an. Außer uns. Tim wollte nicht hinein, musste aber. Der Nachwuchs erholte sich nur schwer nörgelnd von dieser Schlangenvermeidungsstrategie und reagiert bis heute traumatisiert auf das Wort Flohzirkus. Erst sehr viel später hat er begriffen, wie lehrreich der Besuch war. Er weiß jetzt beispielsweise, nach welchem Vorbild die Bundes-Pressekonferenz organisiert ist.

Es sind harte Zeiten für Schlangen-Muffel. In China fällt das Jahr der Schlange auf 2025, zumindest in Bayern haben wir es vorgezogen. Gestern überall Corona-Schlangen. Vor Aldi, vor Lidl, vor OBI. Schon von Ferne zu sehen. Ich bin mit Sabines kleinem Fiat abgedreht, wie eine Gazelle vor einer mit Krokodilen verseuchten Wasserstelle. Am Wochenende gibt’s deshalb bei uns Dosenfutter. Irgendwas mit Thunfisch. Immer noch besser als Schlange. Und gesünder. DDR-Sozialisierte erinnern sich an die Warteschlange vor der Konsum-Filiale, wenn es Südfrüchte gab. Bundesbürger erinnern sich eher an Disneyland, denn auch da bezahlte man Geld für den ganzen Tag Schlange stehen. 

Mit einem Unterschied: Für Disney grübelten über 100 wissenschaftlich beschlagene Wartespezialisten. In einem umfangreichen Programm wurde ein Schlangenentertainmentprogramm entwickelt. So nannte man das mathematisch und psychologisch optimierte Wartesystem. Mit Schlangenentertainment hätte die DDR vermutlich noch zehn Jahre länger durchgehalten. Ich empfehle auch der herrschenden Söderteska, sich Gedanken zu machen. Man könnte beispielsweise Leinwände aufstellen und kurze Filmchen zeigen, wie Markus Söder die bayrische Verfassungsmedaille in Gold überreicht wird. Da kommt doch gleich gute Laune auf in der Schlange.

Ordentliche Schlangen zum Plündern gebildet

In Großbritannien geht ja schon länger das Gerücht, Patriotismus stehe in der Schlange. Als dort das hungernde Volk im Krieg für Essensrationen anstehen musste, wurde das Bild von tadellos wartenden Menschen politisch aufgeladen – und zu einem britischen Symbol für Anstand, Fair Play und Demokratie verklärt. Nach der Beförderung des Nichtstuns zur Heldentat hat die Bundesregierung also noch Luft nach unten; die weltrettende Dimension des Schlangestehens muss endlich ins rechte Licht gerückt werden, man denke nur an die Impfschlange.

Die Briten haben das inzwischen so verinnerlicht, dass die Hooligans 2011 während Straßenunruhen ordentliche Schlangen zum Plündern bildeten. Immer der Reihe nach versorgte sich einer nach dem anderen mit Elektrogeräten, auch ein beschädigter Geldautomat wurde diszipliniert geleert. Angesichts dieses Beispiels bin ich bereit, meine Schlangenaversion für den folgenden Fall zurückzustellen: Sollte sich irgendwo mal eine Schlange bilden, an deren Ende man der Antifa gepflegt eins auf die Zwölf geben kann, bin ich bereit, eine Wartezeit von bis zu 15 Minuten in Kauf zu nehmen. 

Prinzipiell empfehle ich den im Westen aufgewachsenen Lesern von Achgut.com das polnische Brettspiel Kolejka, um sich auf den Stand unserer östlichen Landsleute zu bringen. Spielbeschreibung:

„Einkaufen in leeren Läden – Jeder Spieler erhält einen Einkaufszettel und versucht, die nötigen Waren zu ergattern, indem er seine Spielfiguren in den Warteschlangen vor den diversen Läden einreiht. Nach der (knappen) Warenlieferung beginnt die Drängelphase, an deren Ende nur die ersten in der Schlange Waren nach Hause tragen können. Es gewinnt, wer zuerst alle Waren seines Einkaufszettels erstanden hat.” 

Für den Fall einer Eurokrise kann das Spiel dann noch um eine Trainings-Einheit in einer britischen Geldautomatenschlange ergänzt werden.

Beschäftigungsmotor Schlange

Schon im Jahr 2016, Gott habe es selig, verbrachte die deutsche Nation 57.000 Jahre beim Schlangestehen an Supermarktkassen und dergleichen, auf den Einzelnen umgerechnet etwa 30 Tage des Lebens. Doch da geht noch was. Die Warteschlange dürfte sich in den nächsten Jahren zu einem echten Beschäftigungsmotor entwickeln und den Autobahnstau mühelos als Kernbranche des deutschen Wohlstandes überholen. Auch ungelernte Kräfte haben eine große Chance als professionelle Schlangesteher, also als jemand, der für einen anderen in der Schlange steht, der gerade keine Zeit hat (oder andernorts eine Schlange wahrnehmen muss).

In Großbritannien wurde bereits vorgeschlagen, aktuelle Kenntnisse im Schlangestehen zum Bestandteil des Einbürgerungstests für Migranten zu machen. In der Sowjetunion hießen die Schlangenprofis „Tramitadoren“, arbeiteten im Schichtdienst und bei jedem Wetter. In Italien heißen sie „Codista“ und es hat sich ein Mindestlohn von etwa 10 Euro eingebürgert. In Deutschland muss gewerbsmäßiges Schlangestehen selbstverständlich versteuert werden und unterliegt der Sozialversicherungspflicht. Aus Gründen der Schlangengerechtigkeit sollten die Finanzbehörden jedoch schnell eine Gesetzeslücke schließen: Wer selbst Schlange steht, erzielt einen geldwerten Vorteil und sollte diesen ebenfalls versteuern müssen. Hilfsweise ist für das Nicht-Schlangestehen Vergnügungssteuer zu erheben.

 

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

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Ridley Banks / 16.05.2021

Hier in den Staaten ist das Schlange stehen voellig normal und nicht negativ besetzt. Sehr diszipliniert und unaufgeregt.

C. Harnisch / 16.05.2021

Bringen Sie diese Dilettanten in Berlin nicht noch auf Ideen, irgendwelche Steuern einzufuehren! Schließlich verursacht der Schlangestehende? beim tiefen Schnaufen ob des langen wartens unsinnigerweise reichlich Co2. Und der Deutsche waere sicherlich hoch erfreut darueber, daß er noch mehr Steuern zahlen darf und dadurch sogar noch die Welt rettet…

K. Schmidt / 16.05.2021

Das große Schlangestehen im Merkeldeutschland werden wir erst noch erleben - vor Tafeln und Suppenküchen,

Stanley Milgram / 16.05.2021

Die perfektesten Warte-Schlangen sah ich in Singapore an Bus- oder Taxiständen. Vermutlich gibt es dort 8 Stockhiebe und 1.000 Dollar Strafe fürs Vordrängeln. Die gibt es auf jeden Fall, wenn man der Vordermännin versehentlich beim Drängeln mit der Hand an den Po kommt. Daher hält jeder korrekten Abstand. Möglicherweise haben die Singaporianer auch verstanden, dass es nicht schneller geht, wenn der Abstand zwischen den Wartenden reduziert wird. Hier in Deutschland reicht ja mittlerweile ein böser Blick, dass sich der Hintermann gleich mal entschuldigend einen Meter zurückzieht. Wie war die Strafe bei Unterschreiten des Mindestabstandes? Der in schmalen Gängen ja eh nicht eingehalten werden kann, außer man legt sich bei Gegenverkehr ins Nudelregal oder stellt sich auf die leere Palette mit dem preiswerten Klopapier. Da fallen mir grad wieder die Simpsons-Prophezeihungen ein, siehe Youtube “Prophezeiung - Simpsons Covid-19-Virus - Vorhersage für Corona 2020”... beste Scene wie eine Aerosol-Wolke an der roten Ampel wartet… lol

Frances Johnson / 16.05.2021

Ich mag Schlangen gar nicht und habe nichts dafür übrig, dass man aus ihren Häuten nichts herstellen soll. Schlangen, echte, haben den Vorteil schöner kleiner glänzender Schuppen, weswegen ich sie zuweilen mit etwas Indy-artigem Horror im Zooo oder in Büchern betrachte. Kürzlich empfahl mir jemand Bali. Hast du dort eine Schlange gesehen?, frage ich. Antwort ja. Sofort war Bali bei mir out, zumal ich feuchtheiß, im Gegensatz zu Schlangen, nicht schätze. Die sogenannten Schlangen mag ich, genau wie Sie, auch nicht. Sie lösen Verzicht bei mir aus und sind einer der Hauptgründe, warum ich nicht so gern fliege. Ganz besonders schrecklich sind die sogenannten Schlangen (das Englische hat dafür zwei Worte, queue und snake, abgesehen von serpent) an deutschen Flughäfen. So schlecht gekleidete Leute kann man allenfalls noch in London Luton oder Heathrow betrachten. Shorts, Jogging-Anzug. Die Steueridee ist witzig, würde jedoch nicht funktionieren. Mehr Personal würde gehen, das zahlt dann mehr Steuern als wenig Personal. Erzählen Sie das mal Aldi und Lidl.

Enrique Mechau / 16.05.2021

Die eiskalte Altstalinistin im Kanzleramt und ihre kriechenden Apparatschiks, sowie ihre Nachfolger nach 9.26 werden die geschaffenen Machtinstrumente nicht wieder relativieren, sondern verschärfen und der neue VGH in KH wird das alles als verfassungsmäßig . Frau Dr. Staatsratsvorsitzende hatte ja auch in der DDR - mit Schlangestehen und Bückware - eine sehr schöne Jugend verbracht und nach Übertritt in die BRD Bedauert, dass hier dass Volk mitbestimmen dürfe.  Also werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass - der sofortige Ausstieg aus sämtlichen auf fossilen Rohstoffen basierende Strom/Wärmeerzeugung beschlossen wird -, Verbrennungsmotoren verboten werden. Die damit verbundenen Dominoeffekte; (Stromabschaltung, [kein Wasser, kein Klo] Heizung besteht aus mehr Pullover und der Kolter vorm Fenster, Versorgungsengpässe in fast allen Gütern des täglichen Bedarfs; sind dieser Bagage völlig egal, denn wie in allen Diktaturen sind die Herrschenden überversorgt und das Volk darf sie am Arsche lecken.

Bechlenberg Archi W. / 16.05.2021

@Knapp, Heinerich: Das tut mir aufrichtig Leid. Schicken Sie die Rechnung an Maxeiner, der hat damit angefangen!

Marianne Denninger / 16.05.2021

Gerade in den Verkehrsmeldungen/swr: SCHLANGEN beim” Impf!- Drive-In ” ( man geniesse den Begriff ) in Speyer. Im Nachrichtenteil davor die Meldung: Impfung muß nach 6 Monaten wiederholt werden u. das fortlaufend. Schönen Sonntag an alle noch Selbstdenkenden!

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