Corona ist schon noch da, so irgendwo in Gütersloh, aber in Bayern haben die Biergärten wieder auf, und während ich mit meiner Bezugsperson da herumsitze, kommt ein Paar des Weges und fragt, ob es sich – natürlich im gebührenden Abstand – an unseren Tisch setzen dürfen wollen können würde. Wenn es uns nichts ausmacht. Macht uns nichts aus. Mir egal. Ist ein freies Land. Wenigstens noch. So halbwegs.
Der Mann des Pärchens ist dunkelhäutig, und er kommt mir bekannt vor. Nun ist es ja so, dass mir viele Menschen bekannt vorkommen, sei es, dass ich sie kenne oder sie jemandem ähnlich sehen, den ich kenne oder gekannt habe. Der Schatz weiß so etwas, weil er ein fotografisches Gedächtnis für Personen hat. Für den aktuellen Kontostand jetzt nicht so, da braucht es eher mein mathematisches Gedächtnis, aber was Gesichter angeht, da ist der Schatz ein biologischer Scanner mit einer Gigaterabyte-Festplatte.
Also flüstere ich dem Schatz zu: „Ich kenne den Mann. Glaube ich. Kenne ich den?“ Der Schatz schaut verstohlen ans andere Ende der Bankgarnitur. „Ich weiß nicht“, sagt er, „er kommt mir aber auch bekannt vor ...“ Gut, das hilft nicht weiter. Ich will schon anheben mit: „Entschuldigung, aber woher kommen Sie ...“ Aber da fällt mir siedend heiß ein, dass es heute unschicklich ist, eine Person mit dunklerererererer Hautfarbe, zumal, wenn sie vielleicht aus der Internationalen Party- und Event-Szene kommt, nach ihrer Herkunft zu fragen.
Ich könnte mich natürlich erkundigen, aber dann hätte ich vielleicht einen Journalisten der taz oder der Süddeutschen neben mir und der würde mich dann fragen, ob ich ein Rassist wäre, weil ich ihn fragen würde, woher er käme und dann müsste ich wortreich erklären, dass dem nicht so ist und würde mich verteidigen, und wer sich verteidigt, der klagt sich ja an, und plötzlich wäre der ganze Biergarten gegen mich, weil ich so ein intolerantes und rassistisches Schwein bin, und ich kriege ein Hausverbot bis in die dritte Generation und darf nie mehr in den Biergarten, weil ja alle zur Zeit so ein Geschiss machen.
Dann wäre ich sozial und beruflich erledigt
„Was ist los? Du wirkst so in Dich gekehrt“, fragt der Schatz. „Indisch?“, frage ich zurück, noch ganz in Gedanken an den mindestens 1,50 Meter entfernten Banknachbarn. „Du denkst doch über irgendetwas nach ...“, insistiert der Schatz. „Ach...“, seufze ich und schaue in das halbvolle Apfelwein-Glas mit seinem geriffelten Karomuster.
Ich könnte es vielleicht anders formulieren: „Entschuldigung, aber Sie kommen mir bekannt vor. Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?“ Nur: Das klingt nach einem dämlichen Anmachspruch. Wie: „Kommen Sie öfter hierher?“ Dann wiederum würde er mich vielleicht fragen, ob ich ihn für schwul halte, und dann müsste ich jetzt ebenso wortreich erklären, warum ich das nicht tu und dass das ja außerdem nicht schlimm wäre, wenn er schwul schwäre, ich selbst sei ja hauptsächlich heterosexuell und der Schatz da am Tisch sei meine Frau, und dann würde er sagen, dass viele Schwule aus Tarngründen verheiratet sind und dann wären wir sofort wieder in einer Diskriminierungsdiskussion, und wenn er dann auch noch ein schwuler Reporter wäre, dann wäre ich sozial und beruflich erledigt und so geht es auch nicht.
Viel zu riskant. Man weiß ja heute nie, mit welcher Befindlichkeit man es zu tun bekommt. Ich könnte im Vorfeld aber fragen: „Entschuldigung, sind Sie Mitarbeiter einer eher linken Tageszeitung oder eines Magazins?“ Dann wäre ich vom Grunde her save, außer, er ist tatsächlich Mitarbeiter einer eher linken Tageszeitung oder eines Magazins, dann würde er mich fragen, ob ich damit sagen wolle, er sei ein „Handlanger der Systempresse“ und ob ich Pegida wählen und bei der AfD mitlaufen würde und Corona leugne und ich wäre dann voll in der Abwehrhaltung, obwohl ich doch eigentlich nur ...
„Norman? Du bist Norman?“
Da! Er steht auf und legt seinen Maulkorb an. Verträumt sehe ich ihm nach. „Thilo?“, fragt der Schatz und wischt mir mit der rechten Hand vor den Augen herum. „Hast Du einen Schlaganfall oder Dich verliebt?“, will er wissen, der Schatz. Aber nein, ich hingegen will wissen, was er von dem Tresen vorne am Ausschank mitbringt. Da! Zwei Apfelwein. Er muss also von hier sein. Nur die Anfänger kaufen hier Bier. Er setzt sich, nimmt seine Spuckmaske ab, schiebt ein Glas zu seiner Begleiterin, lächelt und prostet mir zu.
„Du kennst die Leute auch nur, wenn Du Lust hast“, grinst er mich wie ein Kühlergrill an. Ja, also, ich, ähm, hehe, das ist doch der Dings ... „Sorry“, sage ich, „ich komme gerade nicht ...“, sage ich und komme gerade auch nicht weiter. Denn mein Unbekannter grinst erneut: „Komm ... Thilo. Weißt Du echt nicht, wer ich bin? Und ich dachte immer, ich sei unverwechselbar ... Sankt Joseph Grundschule, 1973 bis 1975 ...“
Herrgott! Ich weiß ja nicht einmal mehr, wo das verdammte Gymnasium war, von dem ich geflogen bin. Außerdem sind meine Eltern oft umgezogen und haben mich blöderweise jedes Mal mitgenommen. Ich sehe mir meinen Kindergartenfreund an und erkenne Norman. Norman hat mich fasziniert, weil er zum einen neu hinzukam und außerdem das einzige schwarze Kind bei uns in der Schulklasse war. Sein Vater, so erinnere ich mich dunkel, war amerikanischer Soldat, seine Mutter von irgendwo. Ganz verwaschen und in Schlieren kehren die Erinnerungen zurück.
Einmal hat er mich, glaube ich, verhauen, weil ich es mir nicht hatte verkneifen können, ihn in meiner kindlichen Unschuld zu fragen, ob er sich nur von Schokolade ernähren würde. Ich war vier Jahre alt, da macht man sich noch eigene Gedanken. Speziell Anfang der 70er Jahre, als die eigenen Eltern noch in Klamotten herumliefen, vor denen sich heute sogar Clowns ekeln, und ihre Kinder in diese elenden Nicki-Klamotten packten, da weißt du als siebenjähriger Bub vom Land nichts von Genetik oder der Welt da draußen, aber wie Schokolade aussieht, das weißt du.
„Norman? Du bist Norman?“, frage ich voller Freude über mein Gedächtnis. „Roman“, korrigiert er mich, aber ich war wenigstens dicht dran. „Ja, genau“, bestätige ich ihn, dass er seinen eigenen Namen kennt, „Roman!“. „Roman, das Schokoladenmännchen“, ergänzt er, und plötzlich schäme ich mich ganz arg, dass ich früher so unsensibel war. Das würde mir heute nicht mehr passieren. Und dann fordere ich den Schatz auf, aufzustehen und erhebe mich auch. „Ich muss leider los“, sage ich kläglich, „wir müssen noch etwas Dringendes erledigen“, rede ich und wünsche „Schade, alles Gute!“ Dann schnappe ich den verdutzten Schatz und wir verlassen quasi fluchtartig den Biergarten. „Alles in Ordnung? Der war doch nett“, stellt der Schatz sachlich richtig fest. „Das mag sein“, antworte ich, „aber der Mann stellt für mich aufgrund seiner Herkunft ein Sicherheitsrisiko dar.“ „Weil er schwarz ist?“, hakt der Schatz nach und dann muss ich sozusagen Farbe bekennen, weil mir plötzlich wieder alles eingefallen ist: „Nein. Die sind seinerzeit aus Gütersloh zugezogen.“
(Weitere Kindheitserinnerungen des Autors auch unter www.politticker.de)