Die Brexit-Verhandlungen sind zu einem „Chicken Game“ verkommen. Die EU wiederholt ständig, dass sie nicht bereit sei, die Gespräche über den Deal, den Theresa May abgeschlossen hat, wieder aufzunehmen. Das schließt so ziemlich jedes Zugeständnis an das Vereinigte Königreich aus.
Es war vorhersehbar, dass die EU nicht einfach am Tag nach Boris Johnsons Amtsantritt ihre Meinung ändern würde, aber was wird in den nächsten Wochen geschehen? Werden die Hauptstädte der EU das Rücknahmeabkommen erneut prüfen und vielleicht die Bedingungen des Brexit-Verhandlungsmandats, das sie der Europäischen Kommission erteilt haben, um Zugeständnisse zu machen, ändern?
Rational gesehen ist es das, was sie tun sollten. Irland würde durch die Vermeidung eines No-Deal-Brexit viel mehr von dem erreichen, was es will, als durch einen No-Deal-Brexit. Schließlich könnte ein No-Deal die irische Wirtschaft noch härter treffen als die britische, und weil die irische Regierung eine Art von Grenze hochziehen müsste, könnten sowohl der Friedensprozess als auch die Beziehungen der Iren zu ihren EU-Partnern unter Druck geraten.
Auch für die anderen EU-Mitgliedstaaten ist ein Deal grundsätzlich besser als kein Deal. Jeder Schaden für die britische Wirtschaft würde wenig dazu beitragen, den Schmerz zu lindern, der der belgischen, französischen, niederländischen und deutschen Wirtschaft zugefügt würde. Angesichts der Vorhersagen einer deutschen Rezession und der eskalierenden Handelsspannungen zwischen den USA und China – für die die EU aufgrund ihrer schwächeren industriellen Basis besonders anfällig ist – kann man sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt für einen No-Deal-Brexit für Europa vorstellen.
Wird die EU also rational handeln? Niemand kann die Zukunft vorhersagen, aber es gibt eine Reihe von Gründen zu der Annahme, dass es zumindest eine Chance gibt.
EU-Historie: Flexibel bis zum Vertragsbruch
Erstens hat die EU-Seite bereits während des Brexit-Prozesses eine gewisse Flexibilität gezeigt. Im November räumte sie ein, dass im Rahmen des "Backstop" ganz Großbritannien – und nicht nur Nordirland – zollfreien Zugang zur EU erhalten könnte. Ein weiteres Beispiel ist, dass es im Frühjahr, nach wochenlangen großartigen Erklärungen, dass die EU „bereit“ sei für einen No-Deal, letztendlich nur ein isolierter französischer Präsident immer noch vorgab, dass dies tatsächlich so sei. Es war damals nicht sehr glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass Calais wochenlang von Zollstreiks geplagt worden war, wobei alle sehen konnten, dass eine ausreichende Vorbereitung der Verwaltung mit großen Fragezeichen versehen war. Verschiedene Berichte, darunter einer vom CBI, haben gezeigt, dass die EU auch heute noch nicht wirklich so gut vorbereitet ist, wie sie behauptet.
Etwas grundsätzlicher betrachtet, sind Behauptungen, die EU sei nicht in der Lage, bestimmte ihrer „heiligen“ – und oft willkürlich definierten – "Prinzipien" zu verletzen, einfach sachlich falsch. Während der Krise in der Eurozone wurden an einem Wochenende Notfall-Rettungsfonds in Höhe von Abermilliarden Euro vereinbart, was einen offenen Verstoß gegen den Buchstaben und den Geist des EU-Vertrages darstellte, da Deutschland seine D-Mark nur im Gegenzug für ein Rettungsverbot im Vertrag (No-Bailout-Klausel) geopfert hatte. Während des Chaos der Migrationskrise haben Mitgliedstaaten einfach aufgehört, das Schengener Abkommen, welches die Passkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft hat, anzuwenden und damit erneut in fragwürdiger Weise das Recht gebeugt.
Im Laufe der Jahre hat die EU Vereinbarungen, die sie mit Regierungen getroffen hatte, schon erneut überprüft, nachdem Volks- und Parlamentsabstimmungen sie angefochten hatten. In den 90er Jahren erhielten die Dänen ein Opt-out vom Beitritt zum Euro und anderen großen EU-Systemen, nachdem der Maastricht-Vertrag in einem Referendum abgelehnt wurde. Weniger Zugeständnisse wurden den Iren gewährt, nachdem sie in den 2000er Jahren zweimal einen neuen EU-Vertrag abgelehnt hatten, den Niederländern, nachdem sie 2016 in einem Referendum den EU-Ukraine-Vertrag abgelehnt hatten, und dem wallonischen Parlament, das sich weigerte, dem Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada im selben Jahr zuzustimmen.
Einige haben argumentiert, dass es sich hierbei ausschließlich um Zugeständnisse an die Mitgliedstaaten gehandelt hat, welche dem Vereinigten Königreich wahrscheinlich nicht angeboten werden, da es sich gerade aus der Mitgliedschaft verabschiedet. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass hier angesichts der wirtschaftlichen Integration der EU27 tatsächlich zur Vermeidung von Schäden verhandelt wird, die das Herausbrechen eines Teils der gesamteuropäischen Wirtschaft entstehen können. Dies ist eine innereuropäische Scheidung, und der Austritt des Vereinigten Königreichs ist keine Kleinigkeit, da seine Wirtschaft gleich groß ist wie die der 19 kleinsten Mitgliedstaaten der EU.
Einer Situation der gegenseitigen Schuldzuweisung
Darüber hinaus war die EU in der Vergangenheit flexibel gegenüber Nicht-EU-Ländern - zum Beispiel gegenüber der Schweiz und der Ukraine - und trat mit beiden in Handelsbeziehungen ein, in denen die "heiligen" vier Freiheiten nur teilweise verwirklicht waren. So beinhaltet der EU-Ukraine-Vertrag beispielsweise keine Personenfreizügigkeit, die von der EU-Propaganda unter anderen Umständen als angeblich "untrennbar" mit der Öffnung für den Waren- und Dienstleistungsverkehr verbunden bezeichnet wird.
Es gibt jedoch auch gute Gründe zu der Annahme, dass die EU nicht rational sein wird und weiterhin Konzessionen ablehnen wird. Wenn Boris Johnson ihnen nicht versichert, dass irgendwelche Zugeständnisse tatsächlich zu einem Deal führen werden, wird es schwierig. Und die EU-Seite mag selbstgefällig sein, wenn um den No-Deal-Brexit geht. Sie mag denken, dass der vorhergesagte massive Verlust von Arbeitsplätzen vernünftigerweise durch bestimmte Maßnahmen gemildert werden könne, wobei sie aber vergisst, dass sie sich dann in einer Situation der gegenseitigen Schuldzuweisung befinden wird, was es schwerer machen dürfte, solchen Maßnahmen zuzustimmen.
Wie groß wäre der Spielraum für Flexibilität für den französischen Präsidenten Macron, wenn die französischen Fischer den Zugang zu den britischen Gewässern verlieren, was eine automatische Folge des No-Deal-Brexit wäre? Und wie viel Verhandlungsspielraum hätten irische Politiker noch, wenn sie, um heimische Kritik an einer schlechten Vorbereitung auf den No-Deal abzubiegen, dem Vereinigten Königreich die Schuld geben? Es ist nicht klar, dass die EU-Seite das alles durchdacht hat, also verlasse dich nicht darauf, dass sie die Erwachsenen im Raum sind.
Der Artikel erschien zuerst auf The Telegraph.