Pieter Cleppe, Gastautor / 10.08.2019 / 13:00 / Foto: FaceMePLS / 15 / Seite ausdrucken

Der „No-Deal“ und die EU: Erwachsene im Raum?

Die Brexit-Verhandlungen sind zu einem „Chicken Game“ verkommen. Die EU wiederholt ständig, dass sie nicht bereit sei, die Gespräche über den Deal, den Theresa May abgeschlossen hat, wieder aufzunehmen. Das schließt so ziemlich jedes Zugeständnis an das Vereinigte Königreich aus.

Es war vorhersehbar, dass die EU nicht einfach am Tag nach Boris Johnsons Amtsantritt ihre Meinung ändern würde, aber was wird in den nächsten Wochen geschehen? Werden die Hauptstädte der EU das Rücknahmeabkommen erneut prüfen und vielleicht die Bedingungen des Brexit-Verhandlungsmandats, das sie der Europäischen Kommission erteilt haben, um Zugeständnisse zu machen, ändern?

Rational gesehen ist es das, was sie tun sollten. Irland würde durch die Vermeidung eines No-Deal-Brexit viel mehr von dem erreichen, was es will, als durch einen No-Deal-Brexit. Schließlich könnte ein No-Deal die irische Wirtschaft noch härter treffen als die britische, und weil die irische Regierung eine Art von Grenze hochziehen müsste, könnten sowohl der Friedensprozess als auch die Beziehungen der Iren zu ihren EU-Partnern unter Druck geraten.

Auch für die anderen EU-Mitgliedstaaten ist ein Deal grundsätzlich besser als kein Deal. Jeder Schaden für die britische Wirtschaft würde wenig dazu beitragen, den Schmerz zu lindern, der der belgischen, französischen, niederländischen und deutschen Wirtschaft zugefügt würde. Angesichts der Vorhersagen einer deutschen Rezession und der eskalierenden Handelsspannungen zwischen den USA und China – für die die EU aufgrund ihrer schwächeren industriellen Basis besonders anfällig ist – kann man sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt für einen No-Deal-Brexit für Europa vorstellen.

Wird die EU also rational handeln? Niemand kann die Zukunft vorhersagen, aber es gibt eine Reihe von Gründen zu der Annahme, dass es zumindest eine Chance gibt.

EU-Historie: Flexibel bis zum Vertragsbruch

Erstens hat die EU-Seite bereits während des Brexit-Prozesses eine gewisse Flexibilität gezeigt. Im November räumte sie ein, dass im Rahmen des "Backstop" ganz Großbritannien – und nicht nur Nordirland – zollfreien Zugang zur EU erhalten könnte. Ein weiteres Beispiel ist, dass es  im Frühjahr, nach wochenlangen großartigen Erklärungen, dass die EU „bereit“ sei für einen No-Deal, letztendlich nur ein isolierter französischer Präsident immer noch vorgab, dass dies tatsächlich so sei. Es war damals nicht sehr glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass Calais wochenlang von Zollstreiks geplagt worden war, wobei alle sehen konnten, dass eine ausreichende Vorbereitung der Verwaltung mit großen Fragezeichen versehen war. Verschiedene Berichte, darunter einer vom CBI, haben gezeigt, dass die EU auch heute noch nicht wirklich so gut vorbereitet ist, wie sie behauptet.

Etwas grundsätzlicher betrachtet, sind Behauptungen, die EU sei nicht in der Lage, bestimmte ihrer „heiligen“ – und oft willkürlich definierten – "Prinzipien" zu verletzen, einfach sachlich falsch. Während der Krise in der Eurozone wurden an einem Wochenende Notfall-Rettungsfonds in Höhe von Abermilliarden Euro vereinbart, was einen offenen Verstoß gegen den Buchstaben und den Geist des EU-Vertrages darstellte, da Deutschland seine D-Mark nur im Gegenzug für ein Rettungsverbot im Vertrag (No-Bailout-Klausel) geopfert hatte. Während des Chaos der Migrationskrise haben Mitgliedstaaten einfach aufgehört, das Schengener Abkommen, welches die Passkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft hat, anzuwenden und damit erneut in fragwürdiger Weise das Recht gebeugt. 

Im Laufe der Jahre hat die EU Vereinbarungen, die sie mit Regierungen getroffen hatte, schon erneut überprüft, nachdem Volks- und Parlamentsabstimmungen sie angefochten hatten. In den 90er Jahren erhielten die Dänen ein Opt-out vom Beitritt zum Euro und anderen großen EU-Systemen, nachdem der Maastricht-Vertrag in einem Referendum abgelehnt wurde. Weniger Zugeständnisse wurden den Iren gewährt, nachdem sie in den 2000er Jahren zweimal einen neuen EU-Vertrag abgelehnt hatten, den Niederländern, nachdem sie 2016 in einem Referendum den EU-Ukraine-Vertrag abgelehnt hatten, und dem wallonischen Parlament, das sich weigerte, dem Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada im selben Jahr zuzustimmen.

Einige haben argumentiert, dass es sich hierbei ausschließlich um Zugeständnisse an die Mitgliedstaaten gehandelt hat, welche dem Vereinigten Königreich wahrscheinlich nicht angeboten werden, da es sich gerade aus der Mitgliedschaft verabschiedet. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass hier angesichts der wirtschaftlichen Integration der EU27 tatsächlich zur Vermeidung von Schäden verhandelt wird, die das Herausbrechen eines Teils der gesamteuropäischen Wirtschaft entstehen können. Dies ist eine innereuropäische Scheidung, und der Austritt des Vereinigten Königreichs ist keine Kleinigkeit, da seine Wirtschaft gleich groß ist wie die der 19 kleinsten Mitgliedstaaten der EU.

Einer Situation der gegenseitigen Schuldzuweisung

Darüber hinaus war die EU in der Vergangenheit flexibel gegenüber Nicht-EU-Ländern - zum Beispiel gegenüber der Schweiz und der Ukraine - und trat mit beiden in Handelsbeziehungen ein, in denen die "heiligen" vier Freiheiten nur teilweise verwirklicht waren. So beinhaltet der EU-Ukraine-Vertrag beispielsweise keine Personenfreizügigkeit, die von der EU-Propaganda unter anderen Umständen als angeblich "untrennbar" mit der Öffnung für den Waren- und Dienstleistungsverkehr verbunden bezeichnet wird.

Es gibt jedoch auch gute Gründe zu der Annahme, dass die EU nicht rational sein wird und weiterhin Konzessionen ablehnen wird. Wenn Boris Johnson ihnen nicht versichert, dass irgendwelche Zugeständnisse tatsächlich zu einem Deal führen werden, wird es schwierig. Und die EU-Seite mag selbstgefällig sein, wenn um den No-Deal-Brexit geht. Sie mag denken, dass der vorhergesagte massive Verlust von Arbeitsplätzen vernünftigerweise durch bestimmte Maßnahmen gemildert werden könne, wobei sie aber vergisst, dass sie sich dann in einer Situation der gegenseitigen Schuldzuweisung befinden wird, was es schwerer machen dürfte, solchen Maßnahmen zuzustimmen.

Wie groß wäre der Spielraum für Flexibilität für den französischen Präsidenten Macron, wenn die französischen Fischer den Zugang zu den britischen Gewässern verlieren, was eine automatische Folge des No-Deal-Brexit wäre? Und wie viel Verhandlungsspielraum hätten irische Politiker noch, wenn sie, um heimische Kritik an  einer schlechten Vorbereitung auf den No-Deal abzubiegen, dem Vereinigten Königreich die Schuld geben? Es ist nicht klar, dass die EU-Seite das alles durchdacht hat, also verlasse dich nicht darauf, dass sie die Erwachsenen im Raum sind.

Der Artikel erschien zuerst auf The Telegraph.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

johannes Langeland / 10.08.2019

Es wird Zeit das die EU ihre Bürocratie fallen lässt,du endlich für das Volk arbeitet ,aber nein es wird noch mehr blodsinn erfunden, kein Wunder dass immer mehr Länder und burger unzufrieden sind ,Brüssel fang endlich an wieder sinnvoll zu arbeiten,sonst mach denn laden zu und wir kumnen wieder zu tagesordnung übergehen,ohne na sorgen zumachen ob ob der Rauch grau oder blau sein muss Gruss ein burger

Karla Kuhn / 10.08.2019

Für mich sind alle NICHTBEMÜHUNGEN der EU dazu da, den Briten den Ausstieg so madig zu machen wie möglich. Denn NACH dem Ausstieg wird kaum eines von den Szenarien, die die EU und auch Deutschland immer wieder an die Wand malen eintreten. England geht nicht unter, die Wirtschaft nicht, die vielen Ausländer werden weiter als Gastarbeiter arbeiten können, denn schließlich braucht sie die Wirtschaft und mit Sicherheit stehen Amerika und Australien hinter den Briten. Die große Angst der EU scheint zu sein, daß der Austritt den Briten nur zugute kommen kann und dadurch andere EU GEBER Länder animiert sein könnten, ebenfalls auszutreten. Denn wenn immer mehr so arme Länder wie Albanien- das Armenhaus Europas- aufgenommen werden, werden die Geber Länder völlig überfordert, was zu einem allgemeinen Bruch der EU führen kann. Die EWG war im Verhältnis zur EU eine wirklich SINNVOLLE Vereinigung und genau die sollte wieder angestrebt werden, zusammen mit einer drastischen Reduzierung des aufgeblähten EU Parlaments.

Rolf Mainz / 10.08.2019

Die EU ist ein Papiertiger, und genau so sollte man sie auch behandeln. Sämtliche ihrer Drohungen haben sich seit jeher als gegenstandlos erwiesen. Ihr wirtschaftlicher Kollaps ist absehbar, der Zusammenbruch der Organisation wird zwangsläufig folgen. Sicher, Abertausende hochbezahlter EU-Beamter werden alles daran setzen, diese Zeitpunkte aufzuschieben, verhindern werden sie das Ende jedoch nicht. Dumm dastehen wird insbesondere Deutschland, welches sich von Brüssel zum grössten Schuldner Europas machen liess. Am Brexit wurmt die EU insbesondere die Courage der Briten, dem Schrecken ein Ende zu machen - und die Tatsache, dass mit Grossbritannien einer der wenigen Nettobeitragzahler das sinkende Schiff verlässt.

Hermann Philipps / 10.08.2019

Der Daily Telegraph is eine sehr Tory-nahe Zeitschrift. Andere britische Zeitungen gehen sehr viel kritischer mit dem lügengesteuerten Referendum und dem anschließenden Brexit-Chaos im Vereinigten Königreich um. Hier hätte die EU mit weiteren Zugeständnissen gar nichts zu gewinnen.

Sepp Kneip / 10.08.2019

Wir haben eine Gemeinschaft und diese Gemeinschaft besteht aus mehrern Mitgliedern. Sie alle haben sich dieser Gemeinschaft freiwillig angeschlossen. Es sollte eine Gemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen sein. Aber hat sich die EU nicht zu etwas ganz anderem entwickelt? Zu einem verkrusteten Bürokratenmonster, das bar jeglichen Reformwillens ist? Die Aufforderungen an die Kommission, solche Reformen einzuleiten, auch von Großbritannien, sind kläglich gescheitert. Ist es da nicht legitim, eine solche Gemeinschaft zu verlassen? GB will das, die EU blockiert. Die EU ist zu einer Sekte mutiert, in die jeder rein kommt, aber nicht wieder raus. Das wird die EU zerstören.

H. Schmidt / 10.08.2019

Deal…No Deal. Lieber ein Ende mit Schrecken als kein Ende. Ist doch egal. England sollte endlich den Mut haben diesem korrupten EU-Verein endlich Bye, Bye zu sagen. Das Pfund sinkt im Wert schon gewaltig. Ist doch egal. USA und Australien fangen die Engländer wieder auf und spannen sie in Ihr System ein. Während die EU immer weiter im Boden versinkt hat England auch wieder die Chance weit, weit vor den Deutschen aus dem Keller zu kriechen. Der Vorsprung ist mit den Mutigen und nicht mit den Loosern (den Deutschen) die bis zur Selbstvernichtung den Weg des geringsten Widerstands gehen. Die Engländer sollten mehr Mut haben es endlich hinter sich zu bringen dieses fragwürdige EU-Konstrukt zu verlassen.

Mike Loewe / 10.08.2019

Dass die EU eine Art Kindergartenspiel ist, erkennt man schon daran, dass vergessen wurde, für Mitglieder eine Möglichkeit zum Austritt und ein Vorgehen dafür vorzusehen. Die Satzung jedes drittklassigen Fußballvereins da vor Jahrzehnten schon weiter.

Gabriele Klein / 10.08.2019

Auffallend die Bemühungen Englands den No-Deal vorzubereiten.  Dieser wird ausgiebig in britischen Medien analysiert und diskutiert. In den deutschen Medien hingegen erfährt man diesbezüglich fast nichts. Auf den No Deal werden vor allem wir nicht vorbereitet sein.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Pieter Cleppe, Gastautor / 10.04.2024 / 12:00 / 3

Die Bauern lassen Brüssel keine Ruhe – und auch die Industrie nicht!

Die Proteste der Landwirte sind zwar hierzulande aus den Medien verschwunden. Sie erschüttern aber weiterhin Brüssel. Auch die Industrie macht sich immer mehr Sorgen wegen…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 17.02.2024 / 10:00 / 14

EU-Handels-Suizid im Namen des Klimas

Die EU erschwert mit immer bizarreren Auflagen den internationalen Handel und schießt sich dabei selbst ins Knie. „Klimaschutz“ gäbe es auch viel billiger. Im Vorfeld…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 06.02.2024 / 14:00 / 6

Der Welthandel und das Pulverfass Nahost

Viele Frachtschiffe, die von Asien nach Europa fahren, meiden jetzt das Rote Meer und die Suezkanal-Route, weil die jemenitischen Huthi-Rebellen Schiffe in der Region angreifen.…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 18.01.2024 / 11:00 / 32

Muss „Klimarettung“ immer links sein?

... oder gibt es auch eine wirklich marktwirtschaftliche Variante? Vielleicht ist ja gerade die gängige Plan- und Kontrollwirtschaft das Problem. Überlegungen aus Anlass der WEF-Konferenz…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 30.12.2023 / 10:00 / 43

Der EU-Kurs: Ohne Kompass ins Jahr 2024

Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ist eine der treibenden Kräfte des aktuellen EU-Kurses, der aber zunehmend mit den Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 13.12.2023 / 12:00 / 20

EU-Gipfel: Zwickmühlen zwischen schlecht und noch schlechter

Vor dem bevorstehenden EU-Gipfel haben sich zahlreiche Probleme aufgestaut. Wie die oft fundamentalen Zwickmühlen gelöst werden sollen, weiß eigentlich keiner. Und es geht um Geld,…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 01.12.2023 / 14:00 / 16

Saubere Energie durch freie Märkte

Von Pieter Cleppe und Rod Richardson. Ein internationales Klimaabkommen ist in Arbeit. Es soll die Märkte für Wettbewerb, Handel, Innovation und beschleunigte Kapitalflüsse öffnen, indem wichtige Markt- und…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 21.11.2023 / 14:30 / 4

Mark Rutte – der Nachgeber

Im Vorfeld der niederländischen Wahlen am 22. November lohnt es sich, eine Bilanz der Leistungen des Mannes zu ziehen, der die niederländische Politik seit 13…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com