Es ist eines der Lieblingsmärchen deutscher Medien: Die tragische Geschichte vom Ende Amerikas. Noch vor wenigen Monaten fabulierte der Spiegel über den „Niedergang einer großen Nation“. Hundertschaften von Reportern durchkämmen jedes Jahr die Vorstädte der USA, auf der Suche nach Indizien ökonomischen Verfalls und moralischer Degeneration. Parallel dazu genießen die Deutschen die Autosuggestion, ihr Land sei ein Hort der Toleranz, ganz entgegen dem, was sie gebetsmühlenhaft „das prüde Amerika“ nennen. All diesen Geschichten gemein ist eine parallele Fetischisierung der USA und ihres „Niedergangs“.
Dumm nur: Mit der Realität hat das nicht viel zu tun. Die USA gehen gar nicht unter. Kulturell nicht, und wirtschaftlich auch nicht. Nehmen wir die Kultur: Gesellschaftlich prägende, neue kulturelle Formate kommen regelmäßig aus den USA, werden zuverlässig zu Exportschlagern – und führen zu oft bedauernswerten Imitationsversuchen. Ein solches Format ist beispielsweise das der Qualitäts-Fernsehserie. Viel wurde in den Feuilletons darüber geschrieben, und zurecht: Serien wie „The Wire“, „Sopranos“ oder „Suits“ sind die Bildungs- und Entwicklungsromane unserer Zeit. Sie haben in ihrer Erzählstruktur mit belletristischen Narrationen mehr zu tun als mit dem klassischen Hollywood-Kino. Und sie liefern eine neue Art der Gesellschaftskritik – eine, die cleverer daherkommt als das aufgeregte Anti-Kapitalismus-Theater à la René Pollesch.
Und ökonomisch? Das Pro-Kopf-GDP lag laut OECD 2011 in den USA bei gut 48.000 US-Dollar, in Deutschland bei knapp 39.500 Dollar. Und es ist auch nicht so, dass die Wachstumszahlen der vergangenen Jahre einen rasanten Aufholprozess Deutschlands (von der EU will ich hier gar nicht sprechen) belegen könnten. Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland in den vergangenen Jahren keine ökonomische Erholung gegeben hätte. Es heißt aber, dass der offenbar innig herbeigesehnte Niedergang der USA sich in Zahlen kaum wiederspiegelt.
Wie auch? Anders als von vielen Reports über die (in den vergangenen Jahren natürlich kriselnde) US-Autoindustrie impliziert, ist das Land durchaus nicht bar jeder unternehmerischen Erfolgsgeschichten. Die größte schreibt immer noch das Internet. Man muss es einfach noch mal sagen: Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon, eBay oder Zynga produzieren zwar keinen physischen Güter, erwirtschaften aber dennoch ganz realen Wohlstand. (Dasselbe gilt übrigens, sofern sie solide gemanagt werden, auch für Banken.)
Die IT-Giganten aus Kalifornien sind auch ein Faktor, den die Unternehmensberatung Roland Berger in der aktuellen Ausgabe ihres Wirtschaftsmagazins think:act als eine Kernstärke der USA ausmacht. „The World’s most creative economy“ ist dort ein tragender Essay durchaus provokativ betitelt. Dieser verweist neben der Online-Dominanz auf den demografischen Faktor. Das Magazin (welches ich, das sei aus Gründen der Transparenz gesagt, als Chefredakteur fünf Jahre lang verantwortete), verweist hier auf UN-Zahlen. Und die zeigen, dass in 2050 in den USA 25 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein werden, in China zum Beispiel hingegen über 30 Prozent.
Eine Provokation für Ökonomiebetrachter, die momentan ein wenig zu berauscht sind von der deutschen Erfolgsgeschichte: Die Berater prognostizieren auch ein Comeback der US-Industrieproduktion. Und in der Tat: Anders als vor ein paar Jahren in Europa vermutet, lebt ja sogar General Motors noch.
Wobei die USA in Sachen physischer Produktion natürlich ihre Schwächen haben. Sachen machen galt halt eine Zeit lang als wenig sexy. Am prägnantesten – und lustigsten – verwies darauf übrigens eine amerikanische Fernsehserie: „30 Rock“, die die Fährnisse eines fiktiven US-Fernsehsenders begleitet. Dessen Chef hatte irgendwann die Idee, als Verlängerung der Inhalte auch noch die zum Fernsehabend nötigen Sofas zu bauen. Das Unterfangen scheiterte an der Unfähigkeit der Mitarbeiter. Aber immerhin – es taugte zu einem Stück witzigem Fernsehinhalt.