Als größter Wohltäter der deutschen Linksdenkenden erweist sich seit Wochen Wolfgang Schäuble. Dessen harte Linie zum Thema Griechenland-Kredite dient ihnen als Steilvorlage. Mit großem Enthusiasmus machen sie sich jetzt über ihn her. Endlich mal wieder erhebt der für die linke Identität so wichtige Typus des „hässlichen Deutschen“ sein lang vermisstes Haupt. Endlich kann man sich mit Wonne von ihm distanzieren. Und so quellen die sozialen Medien über mit rhetorischen Orgien nationaler Selbstkritik und Prozessen linker Selbstvergewisserung – jeweils via Verdammung der hartherzigen Regierung.
Um Griechenland geht es dabei nur am Rande. Die Frage, ob und wie Athen zu einem eigenen Wachstumspfad gelangen könnte, wird nur peripher und relativ gelangweilt gestreift. Sie interessiert die Schäuble-Kritiker nicht. Diese drehen sich stattdessen um sich selbst. Sie betreiben letztlich so etwas wie eine Entmündigung der Griechen im Dienste der eigenen rhetorischen Figuren. Man interessiert sich nicht für Griechenland – und, in anderen Kontexten, auch nicht für den Rest der Welt. Man befasst sich mit der eigenen Befindlichkeit und arbeitet sich mit Freude am Bild des erbarmungslosen Deutschen ab. Hier zeigt sich eine Form des linken Nationalismus und Chauvinismus. Man hält sich selbst für etwas ganz Besonderes und zwingt der ganzen Welt eine ermüdende Debatte über den deutschen Ungeist auf.
Diese Denkform machte sich einst schon der Godfather des marxistischen Denkens in Deutschland zu eigen, Adorno. Der deklarierte bekanntlich, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben. Nationale Selbstüberschätzung auch das. Die Untaten der Nazis, so die dahinter liegende Botschaft, waren so unvergleichlich, so „besonders“, dass sie gleich für die ganze Welt die Möglichkeit von Poesie ausschließen. Zum Glück hat Adorno die Bedeutung Deutschlands und des deutschen Ungeistes im globalen Kontext überbewertet. Der Rest der Welt hat sich nicht an sein Diktum gehalten. So blieb die Gedichtfreiheit wie auch die Anti-Poesie der Kahlschlagsliteratur auf Deutschland begrenzt (und machte dort sicher auch Sinn).
Und heute? Nach ein paar Jahren, in denen die Selbstvergewisserung der Deutschen erfreulich wenig präsent war in der medialen Landschaft, geht es also nun wieder um das Lieblingsthema vieler „kritisch“ denkender Deutscher – um Deutschland. In diesen Kontext passt auch die Hysterie, mit der Angela Merkels Flüchtlingsmädchen-Auftritt zerrissen wird. Hier wird mit großem rhetorischem Aufwand ein einzelner PR-Auftritt zum Inbegriff des deutschen Unwesens, personalisiert durch Merkel. Dahinter steht der kindliche Wunsch, das national Böse herbeizuphantasieren – und es zugleich zu personifizieren. Kinder wollen sich den Teufel als Person vorstellen. Und so bekommt er halt nun das Gesicht der mit einem Flüchtlingskind diskutierenden Merkel – oder eben des hartgesichtigen Schäuble.
Zum großen Glück für diesen Diskurs finden sich vereinzelt internationale Politikbetrachter, die den selbstbezogenen Regimekritikern hierzulande inhaltliches Futter liefern – Krugman und Co. sei Dank. Auch holländische Akademiker in meinem Facebook-Freundeskreis debattieren aufgeregt die deutschen Austeritätsansprüche – und lassen galant außer acht, dass Holland (ebenso wie diverse andere Länder) EU-intern mindestens ebenso klar einen härteren Sparkurs der Griechen gefordert haben. Aber das Bild einer supranationalen Austeritätspolitik ist doch irgendwie zu kompliziert. Wie viel besser ins Bild passt da die eine europäische Lead-Macht, an der man sich abarbeiten kann. Die reale Situation von internationalen Institutionen, in denen eben keine nationalen Herrschermächte mehr eigenmächtig entscheiden können, sondern in denen Kompromisse gesucht werden müssen, ist für die schnelle knackige These zu sperrig, zu komplex. Also redet man sich die Deutschen zu einer Dominanzmacht hoch und denkt dieser eine Form von Hegemonie zu, die sie realpolitisch zum Glück nicht hat.
Dass das Missverständnis der dominanten deutschen Politik so häufig und vehement wiederholt wird, liegt nicht zuletzt auch am Verhalten der deutschen Politik selbst. Gerade konservative Politiker haben sich in das Bild der dominanten Deutschen verliebt. Sie wären so gerne wirklich jene harte, kompromisslose, wirtschaftlich unfassbar erfolgreiche Zentralmacht, die Europa beherrscht und mit der quasi selbst erfunden Austeritätspolitik die Welt oder zumindest Europa bekehrt. Die Hardliner in der CDU finden es einfach ausgesprochen schmeichelhaft, dass die Welt sie für die Chefs Europas hält. Dass sie das nicht sind, vergessen sie nur zu gerne. Und dass Deutschland bis vor kurzem der kranke Mann Europas war und auch heute im weltweiten Vergleich allenfalls durchschnittliche Wachstumszahlen erzielt, wird zugunsten der ach so wohlklingenden Geschichte eines zweiten deutschen Wirtschaftswunders effizient verdrängt.
Für mich zeigen sich an diesen Prozessen der Deutschland-Stilisierung von links wie rechts vor allem die Vorzüge Europas: Das ganze Konstrukt „Europa“ hat, wenn es funktioniert, den Effekt, dass das permanente Erneuern und Debattieren nationaler Stereotypen, Eigenheiten oder Unarten in den Hintergrund gerät. Es geht dann eben nicht mehr um Deutschland (oder Griechenland oder Italien). Es geht um eine Politik, die anderen, abstrakteren Mechanismen folgt und folgen muss. Gerade diese Abstraktheit, die ja gerne als kühl und bürgerfern abqualifiziert wird und die man mit dem Synonym „Brüsseler Bürokratie“ versieht, fehlt mir momentan angesichts der langweiligen Diskussionen um teutonischen Geist – oder Ungeist.