Die Regierungen der USA oder gar Deutschlands könnten sich keine derart verlustreichen Kriege wie Russland erlauben. Selbst Falken im Westen geht die persönliche über die nationale Sicherheit.
Die USA waren stets von zwei Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. Neben denjenigen, die ihnen ihre Militärinterventionen vorwerfen, gibt es auf der anderen Seite immer auch jene, die ihnen vorwerfen, zu wenig zu tun: Etwa zu spät auf dem Balkan interveniert zu haben, den Völkermord in Ruanda zugelassen zu haben, den syrischen Bürgerkrieg nicht beendet und den Iran nicht von den Mullahs befreit zu haben und jetzt Wladimir Putin nicht direkt militärisch Paroli zu bieten. Diese „Falken“ formulieren Forderungen, die eine amerikanische Regierung gar nicht erfüllen kann. Die Falken sind von der politischen Wirklichkeit ebenso weit entfernt wie die „Pazifisten.“ Wollen die einen den Westen aus moralischen Gründen entwaffnen, wollen die anderen ihm die moralische Pflicht auferlegen, Demokratie und Freiheit militärisch noch im letzten Winkel der Erde durchzusetzen.
Die Lebenslüge der „Falken“ besteht darin, dass sie eine Außenpolitik fordern, die gerade unter den Bedingungen einer westlichen Demokratie unmöglich ist, weil es dafür keinen Rückhalt in der Gesellschaft gibt. Es gibt auch nicht genügend Soldaten, die dazu bereit sind, für diese Politik zu sterben. Das gilt wenig überraschend für Deutschland sowieso, aber es gilt auch für die USA. In den letzten Jahrzehnten haben alle amerikanischen Präsidenten Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, sich auf die Innenpolitik zu konzentrieren und globale Interventionen zurückzufahren. Das galt für Bill Clinton, für Barack Obama und Donald Trump. Es galt sogar für George W. Bush. Viele haben vergessen, wie isolationistisch Bushs Außenpolitik angelegt war, bevor die Anschläge vom 11. September kurzzeitig eine 180-Grad-Wende erzwangen. Bushs Vater war abgewählt worden, obwohl er im Golfkrieg einen schnellen Sieg erreichen konnte. Die „Wirtschaft“ war den Amerikanern wichtiger.
Drückeberger Bolton
Dass es sich bei dieser Entwicklung weniger um eine Frage der ideologischen Einstellung als um die Folge soziokultureller Entwicklungen handelte, zeigt der Umstand, dass auch diejenigen persönlich wenig Lust verspürten, für die nationalen Ziele der USA zu sterben, die ideologisch eine solche Politik befürworten. John Bolton etwa, von dem Donald Trump sagte, wenn er auf ihn gehörte hätte, befänden sich die USA bereits im Sechsten Weltkrieg, umging den Einsatz in Vietnam ebenso wie George W. Bush durch den Dienst in der Nationalgarde. Bolton gab dafür den subjektiv nachvollziehbaren Grund an, er habe keine Lust gehabt, in einem südostasiatischen Reisfeld zu sterben. Bolton selbst steht für den Widerspruch, die defätistische Außenpolitik der USA zu beklagen, die aber auch genau auf der Haltung beruht, für die Bolton mit seiner eigenen Biographie steht. Denn die Neigung des Yale-Absolventen Bolton, im Ernstfall der persönlichen Sicherheit den Vorzug vor der nationalen zu geben, ist kein Sonderfall, sondern repräsentativ für die westliche Mittelschicht.
Zwischen 1961 und 1975 starben in Vietnam ungefähr 58.000 US-Soldaten im Vergleich zu 37.000 US-Soldaten, die in drei Jahren Koreakrieg gefallen sind. Im Koreakrieg kämpften auf der Seite der USA noch Wehrpflichtige, und zwar Wehrpflichtige aus der amerikanischen Mittelschicht. Das war im Vietnamkrieg bereits anders. Die akademische Jugend der Mittelschicht ging zwar gegen den Krieg auf die Straße, ausgefochten wurde er aber im Wesentlichen von den Angehörigen der amerikanischen Unterschicht, Afroamerikanern und anderen ethnischen Minderheiten. Das gab der Verachtung, mit der die Vietnamveteranen nach ihrer Rückkehr eben von dieser akademischen Jugend betrachtet wurden, eine besonders bittere Note. Verteidigungsminister Robert McNamara hatte eigens die Einstellungsanforderungen senken lassen, um auch minderbegabte Rekruten in die Armee aufnehmen zu können, die dann unter der abwertenden internen Bezeichnung „McNamara‘s Morons“ ins Feld zogen. Ein Grund, warum der Vietnamkrieg ein solches Debakel wurde, war auch dem veränderten Bildungs- und Begabungsprofil der Streitkräfte zuzuschreiben.
Konservative schaffen die Wehrpflicht ab
Es war schließlich auch kein Linker, sondern – wie auch in Deutschland – ein konservativer Politiker, der die allgemeine Wehrpflicht abschaffte. Der Republikaner Richard Nixon entschied sich für den Wechsel zur reinen Berufsarmee, weil der Normalamerikaner keine Kriege mehr unterstützen würde, in denen er oder seine Söhne starben, aber immerhin noch Kriege, in denen Freiwillige aus der amerikanischen Unterschicht ihren Dienst tun würden. Keine westliche Gesellschaft könnte heute noch Opferzahlen ertragen, wie sie Russen und Ukrainer derzeit auf beiden Seiten verzeichnen müssen. Im ersten Golfkrieg 1991, der aus Sicht der USA nach dem schmählichen Abzug aus Vietnam ein großer militärischer Erfolg war, verloren die Amerikaner etwa 400 Mann. Das ist wohl in etwa die Größenordnung der Zahl von Opfern, die sich westliche Staaten heute in einem Krieg leisten können, ohne dass die Moral der Truppe und die Unterstützung im Heimatland zusammenbrechen.
George Bush Senior setzte mit der Rückeroberung Kuweits bewusst begrenzte Ziele und ließ lieber Saddam Hussein an der Macht, als sich auf eine lange Besatzungszeit einzulassen. Dass diese Entscheidung auf einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten beruhte, bestätigte sich, als sein Sohn George W. Bush darüber hinausging, Saddam Hussein stürzte und den Irak militärisch besetzte. Offiziell sind bis zum Abzug der USA aus dem Irak 4.474 US-Soldaten gefallen. Das sind weniger als die Russen in den ersten Wochen des Angriffs auf die Ukraine zu verzeichnen hatten. Diese Opferzahlen lösten aber in den USA ein politisches Beben aus. Die Unterstützung für den Irak-Einsatz in der Heimat kollabierte und ein junger linker Demokrat wurde mit dem Versprechen zum Präsidenten gewählt, möglichst schnell aus dem Irak abzuziehen – selbst wenn das hieße, damit den Weg für den Iran, den Islamischen Staat und den Russen freizumachen.
Donald Trump zog aus diesen Entwicklungen dieselbe Schlussfolgerung wie schon Ronald Reagan und offenbar jetzt auch Olaf Scholz, nämlich zur Abschreckung die Armee aufzurüsten, sich gleichzeitig aber rein defensiv zu verhalten. Ronald Reagan erhöhte die Verteidigungsausgaben auf 5,7 Prozent des BIP, betrieb die Raketen-Nachrüstung in Westeuropa und investierte in das „Star Wars“-Programm, das sowjetische Raketen abfangen sollte. Den handfesten Kampf gegen die Kommunisten überließ Reagan den „Freedom Fighters“ wie den Contras in Nicaragua und den Mudschahedin in Afghanistan. Wie heute im Ukraine-Konflikt beschränkten sich die USA darauf, mit Geld und Waffen auszuhelfen. Direkt eingesetzt wurde die Armee lediglich für zweitägige Bombenabwürfe über Libyen als Strafe für einen Bombenanschlag in Berlin, für einen kabarettartigen Einsatz in Grenada und eine kurze direkte Unterstützung der libanesischen Armee, die in einem Debakel endete. Reagans Rüstungspolitik zielte auf einen ökonomischen Sieg über die UdSSR ohne Krieg. Es gehört zu den historischen Glücksfällen, dass die Sowjets den „Star Wars“-Bluff – das Programm hat in Wahrheit nie funktioniert – tatsächlich ernstgenommen haben.
Trumps minimale militärische Eingriffe
Donald Trump trat nicht nur steuer- sondern auch militärpolitisch in die Fußstapfen Reagans, indem er den Etat der Streitkräfte aufpumpte, aber nicht gedachte, sie tatsächlich einzusetzen. Mehr Geld für die Armeeangehörigen und ihre Familien sowie für sichere Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie ist populär, Militärbegräbnisse für gefallene US-Soldaten sind es nicht. Donald Trump erhöhte das Verteidigungsbudget um 100 Milliarden Dollar, während er sich gleichzeitig darauf beschränkte, Marschflugkörper auf eine syrische Luftwaffenbasis abzuschießen und den iranischen General Soleimani im Irak auszuschalten. Ansonsten ließ Trump Syrien ebenso links liegen wie Obama, überließ die Kurden ihrem Schicksal und machte einen „Deal“ mit den Taliban, um die US-Truppen möglichst schnell aus Afghanistan herauszuholen. Statt das Regime in Nordkorea anzugreifen, wie es John Bolton und John McCain forderten, betrieb er Kuscheldiplomatie mit dem Diktator Kim Jong-Un. Trump wusste besser als andere, was amerikanische Wähler wollten, und das ist nicht der Dritte Weltkrieg.
Präsidenten wie Trump, Reagan und Nixon waren insoweit Realisten, als dass sich ihre Außenpolitik innerhalb der Möglichkeiten der USA bewegten. Ihre Rhetorik mochte martialisch und manchmal auch ideologisch aufgeladen sein, aber der Grenzen ihrer Möglichkeiten waren sie sich durchaus bewusst. Um die USA militärisch und finanziell zu entlasten, schreckten sie nicht davor zurück, mit Despoten, Stammesführern und Warlords zu kooperieren. Sie sorgten für hohe Militärausgaben, begrenzten zugleich die Zahl der amerikanischen Opfer und vermieden unverhältnismäßig hohe Risiken. Gerade der Erfolg westlicher Gesellschaften, Wohlstand und Sicherheit, die behütete und gewaltfreie Erziehung in der Mittelschicht und der hohe Wert des Individuums sorgt dafür, dass der Westen sich – anders als östliche und orientalische Despotien – hohe Opferzahlen nicht leisten kann. Daher tut der Westen gut daran, keine Versprechen zu geben, die er am Ende nicht einhalten wird. Moralische Kreuzzüge für Demokratie und Freiheit, die nicht die ausfechten, die sie am lautesten fordern, schaden der eigenen Glaubwürdigkeit.
Dr. Gérard Bökenkamp, geb. 1980, ist Historiker. Sein Forschungsschwerpunkt ist Wirtschafts- und Zeitgeschichte, besonders die Geschichte der internationalen Politik. Für seine Doktorarbeit mit dem Titel „Das Ende des Wirtschaftswunders“ wurde er 2011 mit dem Europapreis des Vereins Berliner Kaufteute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel, Rezensionen, Blog- und Radiobeiträge zu politischen und wirtschaftlichen Themen.