„Das ziehe ich nicht an“ – diesen Spruch kennt wohl jede Mutter und jeder Vater von Kindern im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren. Bekleidungsvorschläge der Eltern werden in der Regel eher unwillig kommentiert, nachdem diese mit dem in Stein gemeißelten Satz „So willst du doch wohl nicht aus dem Haus gehen“ versuchten, besonders den Bekleidungsstil des adoleszenten Töchterleins zu maßregeln. Für Eltern gehen solche Diskussionen selten gut aus. Noch weniger für Lehrer und Schulbehörden, weshalb man in vielen Ländern, besonders wenn sie vom englischen Schulsystem inspiriert sind, Schuluniformen vorschreibt.
Es ist die Brachialmethode, von der ich als liberal eingestellter Mensch jedoch nicht allzu viel halte. Die Mode ist das Betätigungsfeld der Jugend, auf dem sie sich ausprobiert, provoziert und bewusst versucht, Grenzen zu finden, die sie überschreiten kann. An Schulen führte dies zu allen Zeiten zu Auseinandersetzungen, oft gepaart mit einer recht pauschalisierten Kapitalismuskritik seitens der Lehrer, die dem Wettrüsten der Markenklamotten schon aufgrund fehlender Fachkenntnis ansonsten recht hilflos gegenüberstanden. Der Versuch, sich mit Hilfe der elterlichen Kreditkarte Respekt zu verschaffen, führe zu Ausgrenzung, Mobbing und Minderwertigkeitsgefühlen bei den „abgehängten“ Mitschülern, deren Patenonkel oder -tante nicht Visa oder MasterCard sei, so hieß es. Hier pädagogisch gegenzusteuern, gelang in unserem recht dysfunktionalen und unterfinanzierten Bildungssystem mal besser und mal schlechter.
Der Kampf gegen einen angeblich schädlichen Materialismus war im deutschen Schulwesen die letzte verbliebene Front, nachdem in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Feminismus die Wand aus „Moral und Sitte“ hinweggefegt hatte, an welcher der Rest eines überkommenen Patriarchats auch das äußere Erscheinungsbild von Frauen zu bestimmen suchte. Fortan war es Sache der Frauen und Mädchen, selbst zu entscheiden, was sie anziehen oder weglassen wollten, ganz zu schweigen von all den anderen Formen der Gleichberechtigung, die errungen wurden.
Das alles ist heute so lange her, dass man es für selbstverständlich gehalten hatte. Und dieser wohlwollenden Selbstverständlichkeit und der Tatsache, dass sich der Feminismus heute auf andere Themen kapriziert – zum Beispiel auf die Verteidigung der Verschleierung als Ausdruck der „Freiheit“ – ist es zu verdanken, dass sich langsam und schleichend etwas verändert hat.
„Unnötig zu Stress und Streit“ durch knappe Kleidung
Die Mittelschule Osterhofen in Deggendorf sah sich neulich heftigen Protesten ausgesetzt, als bekannt wurde, dass dort Schüler, die gegen den „Dresscode“ verstoßen, in ein XXL-T-Shirt gesteckt werden. Unangemessene Kleidung führe „unnötig zu Stress und Streit.“ Die XXL-T-Shirts seien hingegen ein „charmanter Weg“, um auf „kleine Unstimmigkeiten“ im Outfit hinzuweisen, so der Direktor der Schule. Der Dresscode ist gleichwohl nicht in Stein gemeißelt, und die Lehrer entscheiden über die zutreffende „Maßnahme“, während die so gemaßregelten Schüler – es dürfte sich in den meisten Fällen um Schülerinnen handeln – die übergestülpten Shirts keinesfalls als Strafe empfänden.
Man beeilte sich, die Harmlosigkeit dieser Maßnahme zu belegen, beteuerte, dass sie sowohl Mädchen als auch Jungs beträfe, dass man dies schon seit Jahren so mache und auch nur so selten, dass es im Grunde der Rede nicht wert sei. Dabei wird die Liste der Schulen, an denen es verschärfte „Dresscodes“ gibt, immer länger. Auch sei so ein XXL-Schlabbershirt natürlich nur ein Kleidungsstück, das keine weitergehende Bedeutung habe. Seltsamerweise diskutiert man – nicht nur an unseren Schulen – ausschließlich darüber, welche Kleidung obligatorisch ist, nie darüber, welche Kleidungsstücke weggelassen bleiben sollten.
Und während ein tiefer Ausschnitt oder Hotpants zum Problem hochgefiedelt werden, fällt dem Kopftuch oder dem Hijab plötzlich die Rolle des Garanten der Teilhabe zu. Die Deggendorfer Schulleitung beeilt sich jedoch klarzustellen, dass man „solche Probleme“ gar nicht habe, womit wohl die kollidierenden Wertvorstellungen und vor allem die Vorstellungen von angemessener Bekleidung von Frauen gemeint sind, die zwischen Altdeggendorfern und Neudeggendorfern bestehen könnten. Wir erinnern uns: Deggendorf ist ausgerechnet der Standort eines der bayrischen Erstaufnahmezentren, was natürlich nichts mit gar nichts zu tun hat.
Passive Sicherheit und Verzicht gehen vor
Ich kaufe es der Schulleitung sogar ab, dass sie nicht unmittelbar im Sinn hatte, Schülerinnen vor der Übergriffigkeit „anderer Werte“ beschützen zu wollen. Man kann es aber sicher als „Kollateralnutzen“ verstehen, wenn die „Angemessenheit“ der Kleidung der Schülerinnen mit den Sittlichkeitsvorstellungen mancher Gäste Deggendorfs zufällig Übereinstimmung finden.
Es stellt sich dann nur die Frage, wie man die Sache so darstellt, dass man nicht als derjenige dasteht, der kritiklos die Moralvorstellungen einer Gruppe übernimmt, die man eigentlich als integrationswillig und -fähig darzustellen versucht. Also versichert man, die „Roten Linien“ einer anderen Gesellschaft keinesfalls übernehmen zu wollen und zieht mit demselben Pinsel eigene Linien, die sich nur rein zufällig an exakt derselben Stelle befinden.
Das sei natürlich keine kulturelle Kapitulation, das sei lediglich eine pragmatische Weigerung, einen Kampf zu führen, der blutig werden und Schmerzen bereiten kann. Wer jede Auseinandersetzung über Werte scheut, der ist in unserer pazifistischen Gesellschaft ein Held – und billiger als zusätzliche Polizeikräfte, die für Sicherheit und garantierte Freiheiten sorgen, ist es allemal. So lernt man es schließlich nicht nur in der Deggendorfer Mittelschule, so ist es überall. Passive Sicherheit und Verzicht gehen vor, unbekümmerte Lebensfreude birgt Gefahren, die man mit XXL-Shirts und Betonklötzen am Weihnachtsmarkt abwenden zu können glaubt.
Die Empörung über die Deggendorfer XXL-Posse bei bento hätte fast vergessen lassen, dass es ausgerechnet dieser schräge Spiegel-Ableger ist, der bei anderer Gelegenheit größtes Verständnis für „Dresscodes“ aufbringt, wenn sie nur im Zusammenhang mit dem sich als Opfer der westlichen Moderne gerierenden Islam stehen. Und während sich an unseren Schulen peu a peu eine „neue“ Art moralisch einwandfreier Bekleidung durchsetzt, scheitern zeitgleiche Bemühungen, den politischen Islam an den Schulen zurückzudrängen, am Gebot der „kulturellen Vielfalt“ und der unerklärlichen Bereitschaft, auch der umfassendsten Intoleranz noch mit größtmöglicher Toleranz zu begegnen.
Panischer Moment an der Supermarktkasse
Lehrerinnen mit Kopftuch werden unter dem Aspekt der Teilhabe gefeiert, man vermeidet es jedoch, sich einzugestehen, dass die Autorität einer Lehrerin im Staatsdienst offenbar in manchen Gegenden nicht mehr ausreichend ist. Man muss noch die Autoritäten „Muslima“ und „Kopftuch“ obendrauf packen, um mit gewissen Tendenzen fertig zu werden. Eine aktuelle Petition zum Thema „Kopftuchverbot für junge Mädchen in den Schulen“ erlangt deshalb auch nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Eigentlich kein Wunder in einem Land, dessen Familienministerin nichts gegen Burkinis im Schwimmunterricht hat.
Der griechische Gott Pan, dem wir zum Beispiel den Begriff der „panischen Angst“ verdanken, hatte seine heilige Stunde um die Mittagszeit, die möglichst störungsfrei und in Ruhe ablaufen sollte. In dieser Stunde des Pan wurde angeblich die Geschichte verständlich und die Zukunft sichtbar. Und es war tatsächlich um die Mittagsstunde, als ich vor einigen Tagen und ausgerechnet an einer Supermarktkasse einen solchen unvermittelten Pan’schen (nicht panischen) Augenblick der Klarheit hatte: Einen Blick, der gleichzeitig in Gegenwart und Zukunft ging.
Denn vor mir in der Schlange standen drei schwatzende und sehr gegenwärtige Mädchen, offensichtlich Freundinnen, offensichtlich vielleicht 16 oder 17 Jahre alt und noch offensichtlicher der hochsommerlichen Witterung und ihrem Geschmack gemäß gekleidet: offene Haare, Shorts oder Minirock, bauchfreie Shirts. Hinter mir wartete die Zukunft an der Supermarktkasse. Verhüllt mit langem Mantel und Hijab, einen Kinderwagen schiebend und ihre zwei kleinen, hin und her flitzenden Buben in schnellem, lautem Arabisch maßregelnd. Ich konnte nicht anders, als mich immer wieder, zwischen den Bildern wechselnd, nach vorn und nach hinten zu wenden, und dabei mit einiger Bestürzung die praktische Unvereinbarkeit dieser Bilder zu bemerken.
Von der Gegenwart in diese Zukunft führt ein Weg, der Weg einer gescheiterten Integration, wie sie so nie gewollt oder propagiert wurde. Doch Integration sucht sich – wie Wasser, das immer bergab fließt – stets den Weg des geringsten Widerstandes. Die Frage, wer sich wohinein integriert, ist immer eine Frage von Druck, Gegendruck, Zeit und Einsicht. Die Einsicht ist gering und der Druck ist groß. Unser Gegendruck ist es mangels Einsicht nicht und die Zeit läuft uns davon. Nach Hijab-Barbie, Burkinis im Schwimmunterricht, XXL-Shirts in Deggendorf und Claudia Roths Plädoyer für den Grips von Kopftuchträgerinnen im Vergleich zum Grips ihrer nichtbekopftuchten Bekannten liegen wir jedenfalls mindestens 0:4 hinten.
Tiefschürfenden neogermanistischen Studien
Was sich im Fussball „Heimschwäche“ nennt, könnte man kulturgeschichtlich als „spätgermanische Dekadenz“ bezeichnen, was ein wenig an Westerwelles „spätrömische Dekadenz“ erinnert, hätte er diesen Begriff nicht im völlig falschen Kontext verwendet. Die neuzeitlichere „spätgermanische Dekadenz“, dergemäß all unsere regierungsamtlichen und NGO-getriebenen humanitären Weltrettungspläne aufgehen werden, der Hunger besiegt, der Klimawandel rückgängig gemacht, die Fluchtursachen erfolgreich bekämpft sind und der Krieg gebannt ist für alle Zeit – diese Dekadenz, die wir gern zu einer europäischen oder Welt-Norm erklären würden, weil dann die Verantwortung für deren Misslingen nicht so stark auf uns lastete, ist jedenfalls ein Phänomen, welches dringend psychologisch untersucht werden sollte.
Unsere europäischen Nachbarn jedenfalls – und da bin ich mir sicher – richten demnächst Lehrstühle für solche tiefschürfenden neogermanistischen Studien ein. Die erste Inhaberin eines solchen Lehrstuhles, so hoffe ich, wird im Sommer ein luftiges, kurzes Kleid und kein Kopftuch tragen, und wenn sie auf ihrem Beobachtungsposten jenseits der Oder, der Maas oder des Inn durch ihr Fernglas hinüber nach Deutschland schaut, wird sie vielleicht eine Erklärung dafür finden, was genau in Deutschland etwa zwischen 2012 und 2018 geschehen ist, das den Feminismus die Seiten wechseln ließ und die Unfreiheit eines religiösen, verklemmten und intoleranten Absolutismus an seine Stelle gesetzt hat.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt