Von Jesko Matthes.
Mit der Dämmerung der Großen Koalition begann auch eine plötzliche Affinität zu Märchen. Schon beinahe zum Topos geworden ist mit Blick auf „die Politik“ das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, ein Kunstmärchen Hans Christian Andersens nach spanischem Vorbild, das das Thema, weg vom ursprünglich kritisierten patrilinearen Erbrecht, hin zur Kritik an bedingungsloser Autoritätsgläubigkeit lenkt. So werfen gern die „Populisten“ dem „Mainstream“ vor und umgekehrt, die jeweils andere Seite trüge solche Kleider. Es soll ja helfen, sich einen wütenden Vorgesetzten nackt vorzustellen, die produktive politische Phantasie behindert es eher. Die Beliebtheit des Märchens zeugt vor allem im Wahlkampf davon, wer sich alles gern in der Rolle des Kaisers sähe. Aber das wird jetzt vielleicht eine langweilige Rede.
Etwas erhellender ist schon das Märchen vom Rumpelstilzchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm (KHM 55). Lexikalische Artikel nennen eine Menge Interpretationen aus dem psychologischen Bereich. Eine der sachlich einfachsten fehlt, nämlich wie entwaffnend und entrüstend es sein kann, die Fakten (oder Personen) beim Namen zu nennen, so entwaffnend und entrüstend, dass das Rumpelstilzchen sich vor Wut selbst zerreißt. Bedingung seiner Existenz war offensichtlich, dass niemand weiß, was wirklich gespielt wird.
Was für eine unangenehme Lektüre für „Populisten“, „Mainstream“ und auch für Geheimdienstler und Verschwörungstheoretiker; letztere dürften allerdings eher davon ausgehen, die andere Seite würde sich zerreißen. Wir leben nicht im Märchen, niemand zerreißt sich, er reibt sich höchstens auf. Eher noch gerät man in Versuchung, den Zettel an der Wahlurne zu zerreißen; ist das Zettels Traum? Es wäre schade um den Traum, schade um den Zettel, schade um das Land. Wir müssen eventuell damit leben, zu einander „Rumpelstilzchen“ zu sagen – und danach abzuwarten, ob des neuen Kaisers Kleider sichtbarer sind als die des alten. Kaiserinnen eingeschlossen. Auch keine sehr nützliche Rede. Keine Sorge, jetzt wird es doch noch ernst. Das einundvierzigste Märchen der Gebrüder Grimm ist ihr kürzestes, verstörendstes und absurdestes, jenes vom „Herrn Korbes“.
Ein Märchen ohne Moral - so scheint es
Sein Inhalt ist schnell zusammengefasst. Hühnchen, Hähnchen, vier Mäuse, eine Katze, ein Mühlstein, ein Ei, eine Ente, dazu eine Stecknadel und eine Nähnadel, machen sich der Reihe nach, größtenteils per Mitfahrgelegenheit, auf den Weg zu Herrn Korbes, den sie, wie sie auf der lustigen Fahrt in einem Wagen mit roten Rädern singen, schon immer besuchen wollten. Bei ihm zuhause angekommen, erschrecken sie ihn nicht nur zu Tode in einer Farce von Gemeinheiten – sie töten ihn. Damit endet das Märchen in seiner Urfassung. Später fügten die Grimms einen Schlusssatz hinzu, nach dem der Herr Korbes ein böser Mann gewesen sein müsse – das verdunkelt jedoch den Sinn des Märchens erheblich, denn von seiner Bosheit ist im Text nirgends die Rede.
Das Märchen schockiert nicht nur mit seiner Kürze. Es schockiert zunächst durch seinen harmlosen Anfang, beginnt es doch wie die Geschichte der „Bremer Stadtmusikanten“, die sich vergewissern, etwas Besseres als den Tod überall finden zu können. Nun suchen und erzeugen die seltsamen Kumpanen aber nicht ihr Glück, sondern den Tod eines Menschen. Das Märchen schockiert noch viel mehr damit, dass das Unheil jemanden trifft, der weder als schuldig noch als unschuldig beschrieben wird. Ein Märchen ohne Moral - so scheint es.
Der Schlüssel zum Verständnis dieser glänzenden Vorabversion des absurden Theaters liegt exakt in seiner Absurdität. Herr Korbes sieht sich einer höchst unglücklichen, sehr plötzlichen Verkettung für sich genommen ärgerlicher, aber nicht wirklich bedrohlicher Umstände gegenüber, einer, so meint er, hoch komplexen Situation, und dennoch sind es nur die absurde Häufung und seine Wut, schließlich Panik, die es dem Mühlstein am Ende ermöglichen, den Herrn Korbes zu erschlagen. Herr Korbes ist unfähig zu einer realistischen Beurteilung seiner eigenen Lage. Er lässt sich zuerst von den Tieren, und keineswegs von den wilden, sondern von Tieren des Hauses und Hofes, zuletzt sogar von den Dingen beherrschen, er tanzt nach ihrer Pfeife. Das endet in seinem Fluchtversuch und Tod, ausgerechnet durch den Mühlstein, der doch auf die Ernährung auch des Herrn Korbes verweist. Das, was ihm Untertan war und ihn ernährte, das tötet ihn nun sehr plötzlich.
Das eigentliche Märchen vom Verlust der Autorität
Man darf sich auf „Urängste“ beziehen, wird dabei dennoch kaum einem der Mitreisenden unterstellen können, von vornherein böse und in Tötungsabsicht aufgebrochen zu sein. Jeder für sich wird nicht mehr als ein anti-elitäres Ressentiment mitgebracht haben nebst der Absicht, sich nun einmal auf Kosten der Führung zu amüsieren. In dieser Laune beginnt ja die Fahrt im Wagen mit den roten Rädern, vor den die mächtig zugkräftigen Mäuse gespannt sind. In einer sehr gewissen Weise ist der Herr Korbes daher mitschuldig an seinem eigenen Untergang.
Seine Mitschuld liegt darin, sich offensichtlich schon immer vor genau solchen Ereignissen gefürchtet und dennoch keinerlei Plan zurechtgelegt zu haben, wie denn mit ihnen umzugehen sei. In einer Situation also, in der die Zivilisation sich als nicht mehr als eine labile Schicht über dem Abgrund des Terrors erweist, erweist sich der Herr Korbes mit seinem Handeln „auf Sicht“ als planlos und blind. Er ist nicht mehr der „Herr“ Korbes, sondern ein Korbes (ugs. für Kürbis – ein Wasserkopf, eine dumme, einfältige Person). Die Ereignisse, die sich daher gegen ihn wenden können, sind nicht mehr und nicht weniger als die Revolte des sicher beherrscht Geglaubten.
„Herr Korbes“ kommt in seiner Absurdität dem Kern der Dinge viel näher als die genannten anderen Beispiele, es ist das eigentliche Märchen vom Verlust der Autorität, jener über die Natur und die Kultur zugleich. Die Gebrüder Grimm wurden geboren, als Friedrich der Große starb, „Herr Korbes“ wurde 1812 aufgezeichnet, man begann gerade, den Kaiser Napoleon Bonaparte zu besiegen, keine fünfundzwanzig Jahre nach der Französischen Revolution. „Herr Korbes“ darf langsam und gründlich vorgelesen werden. Es ist ein politisches Märchen.
Wie geht doch jene andere Mär, die vom jungen Gerhard Schröder? Er rüttelt an den Gitterstäben des Kanzleramts: „Ich will da rein!“ Und wie sagte er, sichtlich derangiert, als ihm schon dämmerte, dass er es wieder würde verlassen müssen: „Niemand außer mir…“ - Verflixt, soll das etwa heißen, Wahlen seien nur eine sehr zivilisierte Form der Revolution, und der oder die da drinnen sitzt im Kanzleramt sei immer irgendwann selbst der „Herr Korbes“? Und liegt es einfach daran, dass deutsche Kanzler am Ende immer allein sind im Amt, von Enten aufgescheucht, von Nadelstichen geplagt und zuletzt politisch erschlagen von einem Mühlstein, der sie gestern noch ernährte?
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.