Darf man Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ noch spielen?

In seiner siebten Sinfonie verarbeitete Schostakowitsch die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht. Jetzt droht dem Stück die Zensur, denn nach Russlands Überfall auf die Ukraine sei ausgerechnet dieses Werk „unpassend“.

Die 7. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch ist ein ganz besonderes Werk. Nicht in erster Linie wegen ihrer zuweilen vielleicht allzu plakativen Klangsprache, sondern wegen ihrer atemberaubenden Entstehungsgeschichte. Schostakowitsch begann mit der Komposition seiner „Siebten“ im von der Wehrmacht belagerten Leningrad. Die Militäraktion dauerte über zwei schreckliche Jahre, kostete mehr als eine Million Zivilisten das Leben und ging als eines der folgenreichsten deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges in die Geschichte ein.

Zu Anfang der Blockade, im September 1941, schrieb Schostakowitsch in der eingekesselten und bereits von fast jeder Versorgung abgeschnittenen Stadt den zweiten und dritten Satz der Sinfonie. Dann ließ ihn die sowjetische Regierung als kriegswichtigen Künstler in das weit südöstlich an der Wolga gelegene Kuibyschew, das frühere Samara, ausfliegen, wo er das monumentale Werk fertigstellte. Am 5. März 1942 wurde es dort von ebenfalls nach Kuibyschew evakuierten Mitgliedern des Orchesters des Moskauer Bolschoi-Theaters uraufgeführt.

Es folgten im Sommer des gleichen Jahres weitere, umjubelte Aufführungen in Moskau und im Ausland, wie jene von Arturo Toscanini in New York am 19. Juli 1942 – eine Kopie des Werkes war auf Mikrofilm in die USA gebracht worden. Auf Wunsch Schostakowitschs wurde die Partitur schließlich mit einem Sonderflugzeug in einer waghalsigen Aktion auch ins belagerte Leningrad geflogen, wo sie von den wenigen noch nicht Hungers gestorbenen Mitgliedern des dortigen Rundfunkorchesters einstudiert wurde. Die Premiere der „Siebten“ in Leningrad fand am 9. August 1942 unter Karl Eliasberg statt. Sie wurde von allen sowjetischen Rundfunksendern sowie mit Lautsprechern in der Stadt übertragen und war auch in den Stellungen der Wehrmacht zu hören. Die deutsche Erstaufführung leitete, direkt nach Kriegsende, Sergiu Celibidache am Pult der Berliner Philharmoniker in den Ruinen der „Reichshauptstadt“.

„Mangelnder Optimismus“

Im Zentrum des knapp eineinhalbstündigen Werkes steht das sogenannte „Invasionsthema“. Es soll das Heranrücken der deutschen Truppen auf die Stadt symbolisieren. In elf Variationen steigert Schostakowitsch nach Art von Maurice Ravels „Bolero“ ein banales Motiv, das der Melodie „Da geh ich zu Maxim“ aus Hitlers Lieblingsoperette „Die lustige Witwe“ entlehnt sein soll, zu einem musikalischen Höllensturm, einem infernalisch dröhnenden Totentanz, der niemand kalt lässt, der diese Musik zu hören bekommt. Aus Schostakowitschs Memoiren geht hervor, dass der Komponist dabei nicht nur die Deutschen im Blick hatte, sondern auch die Versäumnisse und Verbrechen Stalins. In Leningrad gab es, nicht zuletzt aufgrund der „Säuberungen“ in den Reihen der Roten Armee, so gut wie keine militärische Vorsorge gegen einen möglichen Angriff. Stalin habe die Stadt zugrundegerichtet, Hitler nur den Schlusspunkt gesetzt, soll Schostakowitsch geäußert haben.

Kein Wunder, dass die „Leningrader“ nach dem Krieg ins Visier von Stalins Kulturfunktionären geriet, die dem Werk „mangelnden Optimismus“ attestierten. Schostakowitsch habe der im ersten Satz dargestellten Gewalt der Nazi-Angreifer nicht die Kraft der Roten Armee entgegengesetzt, hieß es. Im Westen wiederum wurden während des Kalten Kriegs Schostakowitschs Werke, insbesondere die „Leningrader“ Symphonie, als Auftragsmusik Stalins denunziert. Leonard Bernstein unter anderem ist es zu verdanken, dass das angebliche Propagandaopus wieder aus dem Giftschrank geholt wurde und zu einer der populärsten Kompositionen Schostakowitschs avancierte.

„Praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“

Doch jetzt droht der „Leningrader“ abermals das Verdikt (westlicher) Kulturzensoren. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine sei ausgerechnet dieses Werk „unpassend“, liest man in den Feuilletons. In München, Hamburg und Paris sollte die „Siebte“ im Mai von den Münchner Philharmonikern unter Waleri Gergiew interpretiert werden. Nachdem Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter den Dirigenten wegen seiner Nähe zum Putin-Regime feuerte, wurde auch das Werk gefeuert und unter dem Einspringer Daniele Gatti durch Schostakowitschs „Fünfte“ ersetzt, wobei, so ein Sprecher des Orchesters, die Tatsache im Vordergrund gestanden habe, dass Gatti diese Sinfonie gerade einstudiert habe und angeblich keine Zeit für die Erarbeitung einer anderen Sinfonie zur Verfügung stehe.

Die „Fünfte“ mit dem Beinamen „Das Werden der Persönlichkeit“ gilt indes als ein Werk, das dem Ideal des sozialistischen Realismus in Schostakowitschs Schaffen wohl am nächsten steht. Weniger „problematisch“ als die „Siebte“ ist die „praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ sicher nicht, auch wenn manche Musikexegeten in dem betont optimistischen Schluss eine reichlich doppeldeutige Referenz an den roten Diktator sehen wollen. Aktualität gewinnt die „Fünfte“ heute allenfalls dadurch, dass die Selbstbezichtigungspraxis bolschewistischer „Kritik und Selbstkritik“ längst wieder Einzug in den gesellschaftspolitischen Diskurs gehalten hat.

„In gewisser Weise die Sinfonie der Stunde“

Ähnlich wie die Münchner verfuhren die Programmverantwortlichen am Berliner Konzerthaus, Heimstätte des Deutschen Sinfonie-Orchesters Berlin (DSO). Der Dirigent Krzysztof Urbansky, ein Pole, erklärt dazu: „Als Mensch bin ich solidarisch gegen die schreckliche Gewalt in der Ukraine. Als Künstler denke ich, dass es heute notwendig ist, sensibel zu handeln. Unter den gegenwärtigen Umständen mag es unangemessen erscheinen, Schostakowitschs Sinfonie Nr. 7. ‚Leningrad‘ aufzuführen.“ Auch hier gibt’s nun die „Fünfte“, nebst Karl Amadeus Hartmanns „Concerto funèbre“ für Violine und Streichorchester.

Dagegen will Nikolaus Bachler, früherer Chef der Bayerischen Staatsoper und jetzt Intendant der Osterfestspiele Salzburg, an der Aufführung der „Siebten“ in dieser Saison festhalten. Die Leningrader sei „in gewisser Weise die Sinfonie der Stunde“. „Wenn ich sie nicht schon im Programm hätte, würde ich sie jetzt programmieren, weil sie all das zeigt, was wir im Moment erleben müssen“, sagte er jüngst auf einer Pressekonferenz. Die Musik selber sei „so antikrieg- und anti-diktatur-trächtig wie sie nur sein kann“.

Dirigieren wird das Stück in Salzburg Tugan Sokhiew, der nach dem Einmarsch in die Ukraine sowohl sein Amt als Musikchef des Bolschoi-Theaters wie auch des Orchestre du Capitol de Toulouse aufgab. Man habe ihn aufgefordert, die russische Invasion in der Ukraine zu verurteilen. Zu einem politischen Statement aber wollte sich der in Nordossetien geborene Sokhiew nicht zwingen lassen. Es sei schockierend und beleidigend, schrieb er, dass einige Leute seinen Wunsch nach Frieden infrage stellten und glaubten, dass er als Musiker „jemals für etwas anderes als den Frieden auf unserem Planeten sprechen könnte“.

„Absurde Einlassungen eines alten Mannes“

Bachler hatte auf besagter Pressekonferenz die Entlassung Gergiews als „Hexenjagd“ kritisiert und die ebenfalls mit einem Bann belegte Anna Netrebko in Schutz genommen, der bei den Osterfestspielen auch in Zukunft alle Türen offenstünden, was der Klassikblogger Axel Brüggemann, der gerade mit geifernder Inbrunst die deutsche Klassikszene nach echten oder vermeintlichen Gefolgsleuten Putins und irgendwelcher Oligarchen durchkämmt, als „absurde Einlassungen eines alten Mannes“ verdammte. Ähnlich kritisch zu den allfälligen Cancel-Aktionen in der Kulturszene ließ sich Markus Hinterhäuser, Intendant der Salzburger Festspiele, vernehmen. Zumindest, was Musik anbelangt, scheint man in Österreich einen noch etwas weniger von Ideologie und missverstandener Solidarität verzerrten Blick zu haben. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass insbesondere für Salzburg die vielen Festivals so ein schönes Geschäft sind.

Das eigentliche Problem dieser prekären Diskussionen ist, dass Musik gerade wieder – ex negativo oder ganz unverhohlen – für ideologische Zwecke in Anspruch genommen wird, mag es sich auch vorderhand um Solidaritätsbekundungen für die von den russischen Angreifern schwer bedrängte Ukraine handeln. Dabei geht vor allem der Musik von Dimitri Schostakowitsch eines vollständig ab: Eindeutigkeit. Immer wieder aufs Schwerste bedrängt, versuchte dieser geniale Musikschöpfer die Ansprüche des Individuums gegenüber einem oft übermächtigen Kollektiv zu wahren. Aufbegehren, freiwillige oder erzwungene Anpassung, verhüllte Anklage, melancholischer Rückzug und sarkastische Attacke, all dies findet sich in der extrem vielschichtigen Musik Schostakowitschs, die wiederum Spiegelbild einer ungemein vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit ist.

Und das Klassikpublikum sollte in seiner Mehrheit immer noch sensibel und kenntnisreich genug sein, um sich selbst ein Bild machen zu können. Ohne die erdrückende Fürsorge der selbsternannten Sittenwächter im Kulturbetrieb und in den Feuilletons.

Foto: RIA Novosti archive/ Boris Kudoyarov CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Elias Schwarz / 24.03.2022

Jetzt muß man noch schnell Mathematik, Physik und Chemie aus den Schulen verbannen. Wegen Kolmogorow, Sakharov und nätürlich Mendeleev. Übrigens, Atomkraftwerk ist auch eine russische Erfindung.

Karl-Heinz Vonderstein / 24.03.2022

Eben hat in einer Talkrunde der Vorsitzende der SPD Lars Klingbeil zu Friedrich Merz, der gefordert hatte, nicht die gleichen Fehler wie2015 zu begehen und besser die Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns kommen, zu registrieren, gesagt, mit so einer Forderung beginne es, weniger solidarisch mit Flüchtlingen zu sein. Ich dachte ich wäre im falschen Film, wie ich das hörte. Es ist doch das mindeste, dass man Menschen, die in unser Land kommen und hier bis auf weiteres leben wollen, registriert. Wir sind doch keine Bananenrepublik denke ich mal, oder? Das ist doch auch im Sinne der Flüchtlinge, dass man weiß, wo sie zu finden sind, wenn’s zum Beispiel um den Antrag auf Sozialhilfe, Kindergeld, um Wohnungssuche oder Deutschkurse, Arbeit und Schule geht. Außerdem muss man ja auch an die innere Sicherheit denken. Das soll jetzt keine Unterstellung sein, aber innerhalb jeder größeren Population an Menschen sind auch welche drunter, die sich vielleicht nicht so brav und friedlich benehmen. Wenn das jetzt ein Nachbar von mir sagen würde, dann würde ich denken “Ja, quatsch du nur!” Aber wenn das der Vorsitzende der größten Regierungspartei sagt, die auch den Kanzler stellt, dann komme ich ganz schön ins grübeln.

Reiner Gerlach / 24.03.2022

@ Petra Wilhelmi “Heute sind wir aber die Guten ...” Da haben Sie zwar vielleicht Recht, aber die Bösen damals haben sich auch für die Guten gehalten. Alles zu seiner Zeit.

Dirk Jungnickel / 24.03.2022

@Petra Wilhelmi Aber der Schoß aus dem der Stalinismus / Kommunismus kroch, ist fruchtbar noch ! Und Putin ist der widerliche BEWEIS !

Franz Michael / 24.03.2022

Bayern, eher ein Bundesstaat der USA und seine 100jährig tiefsitzende Ressentiments. Filbinger war schließlich auch ein Freiheitskämpfer…der Deutschen Christen. Was in heutiger Zeit nur noch fehlt ist Faschisten Musik und Nazisten Musikanalysen und deren Verbannung. NATOd gerecht könnte man nun Béla Bartók aus dem Hut zaubern. Irrenanstalt Europa, wer rettet die Kultur vor allem die Menschen die in Deutschland leben und Steuern für die Vielfalt zahlen? Dem Brüggemann geht es wohl einzig um Lizenzgebühren.

Chris Kuhn / 24.03.2022

“Stalin habe die Stadt zugrundegerichtet, Hitler nur den Schlusspunkt gesetzt, soll Schostakowitsch geäußert haben.” Im belagerten Leningrad waren nicht nur Zivilisten, sondern auch zehntausende von Soldaten der Roten Armee, deren Versorgung mit Lebensmitteln und Munition im Vordergrund stand. Die Stadt war also nie gänzlich unversorgt; es gab fast immer Transportwege. Man möchte nur hoffen, daß die ukrainische Führung nicht so töricht ist, ähnliches an eigenen Zivilisten zu wiederholen. Über Mariúpol gibt es diesbezüglich widersprüchliche Informationen.

Christoph Spielberger / 24.03.2022

Der einzige Makel in den ansonsten sehr guten und wertvollen Artikel von Herrn Etscheit: Die 5. Sinfonie, das “Werk, das dem Ideal des sozialistischen Realismus in Schostakowitschs Schaffen wohl am nächsten steht”, hmmm, ich weiß nicht, was der Autor komponiert oder geschrieben hätte, wenn seine Freunde bereits abgeholt und seine Verhaftung in der BILD-Zeitung im Leitartikel auf Seite eins angekündigt worden wäre. Nachzulesen in Volkovs “Zeugenaussage”. Schostakowitsch: »Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.« Zeitgeisthuren, universell einsetzbare Denunzianten wie Brüggemann indes , in diesem Fall in der Musik verirrt, gibt es in Deutschland viel zu viele.

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