Der heutige Montag ist für viele Menschen ein trauriger Tag. Das oberste hessische Verwaltungsgericht fällte nämlich knapp vor dem Wochenende noch ein „Hammer-Corona-Urteil“, so die Einschätzung von „Bild“. Gut, ein Urteil war es nicht, sondern ein Beschluss im Eilverfahren. Aber wir wollen nicht kleinlich sein. Die Tendenz stimmt.
„Bild“ zum Sachstand: „Seit Donnerstag haben die ersten Schulen wieder auf, in NRW müssen Tausende Kinder trotz Corona-Pandemie zum Unterricht. Die anderen Bundesländer folgen bald eins nach dem anderen. In Hessen sollte es eigentlich ab Montag losgehen. Doch jetzt ging die Justiz dazwischen – und hob zumindest für Viertklässler die Schulpflicht auf!“
Juristen und andere Beckmesser könnten ob dieser Formulierung auf die Idee kommen, ihre Zehnjährigen trotzdem in Richtung Erziehungsanstalt zu entsorgen. „Aufhebung der Schulpflicht“ heißt schließlich nicht zwingend, dass die Abkömmlinge sich nicht freiwillig für den Gang in die Schule entscheiden dürften.
Traurige Laras, Sahras und Klaras
Heißt es aber doch, wie „Bild“ bereits am Freitag investigativ ermittelte. Ein „Philipp Bender vom hessischen Kultusministerium“ stellte nämlich klar (und zwar in Versalien, damit nichts schiefgeht): „Nach dem Urteil DÜRFEN Viertklässler in der kommenden Woche NICHT zur Schule gehen.“
In Hessen trauern deshalb tausende kleiner Laras, Sahras und Klaras, weil sie ihre allerbesten Freundinnen – die Annas, Marthas und Hannahs – weiterhin nur per WhatsApp und Facetime treffen dürfen. Nicht minder enttäuscht sind die Eltern der Frühverbitterten. Die Mamas hatten darauf gesetzt, sich an einem ruhigen Vormittag endlich den letzten zwei Folgen von „Why women kill“ widmen zu können. Und die Papas müssen weiter YouTube-Tutorials studieren, um dem Nachwuchs beizubringen, wie man 200 geteilt durch 8 auf einem Blatt Papier errechnet, statt Alexa oder Siri zu fragen, wie es normale Menschen machen würden.
Kurz: Corona könnte so schön sein, wenn da nicht der Hessische Verwaltungsgerichtshof wäre. Das „Paukenschlag-Urteil“ („Bild“) ist aber nicht deshalb bemerkenswert, weil es rund 50.000 Grundschüler und ihre Familien beschwert. Die aktuelle Corona-Quälerei trifft uns schließlich alle, manche etwas weniger, andere ein bisschen mehr.
Keine hochbegabte Mistbratze
Nein, die Eilentscheidung des VGH Kassel ist aus einem ganz anderen Grund außergewöhnlich. Um das zu verstehen, müssen wir kurz ins Juristische eintauchen.
Helmut Schmidt, Richter und Pressesprecher des Gerichts, erklärt den Hintergrund des Verfahrens wie folgt: „Die Antragstellerin, eine Schülerin aus Frankfurt am Main, begehrte den Erlass einer sog. einstweiligen Anordnung in einem Normenkontrollverfahren, indem sie sich direkt gegen die zuvor genannte Verordnung wendete. Antragsgegner ist das Land Hessen, vertreten durch die Staatskanzlei. […] Am 20. April 2020 hat die Schülerin deshalb einstweiligen Rechtsschutz gegen die o. g. Regelung beantragt. Sie macht geltend, für die angegriffenen Regelungen der Verordnung fehle es an einer Ermächtigungsgrundlage. Die Anordnung des Schulbesuchs für Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe in Grundschulen begründe für diese ein erhöhtes Infektionsrisiko.“
Falls Sie jetzt glauben, eine ebenso hochbegabte wie renitente zehnjährige Mistbratze hätte sich höchstselbst an den VGH Kassel gewandt (und auch noch gewonnen), dann liegen Sie falsch. Im Zweifel ist Mama Anwältin und/oder Papa Anwalt, und man wollte im Namen der Brut einfach mal was aus Prinzip klären.
Nichtig heißt: War nur Einbildung
Den Helfern der kleinen Frankfurterin ging es nämlich nicht darum, dass sie aufgrund irgendeiner speziellen persönlichen Ausnahmesituation von der Schulpflicht befreit wird. Man ging gleich ins Grundsätzliche und wählte das Normenkontrollverfahren. Das hört sich kompliziert an, ist aber leicht erklärt. Eine Norm ist zum Beispiel ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung. Bei der Normenkontrolle prüft ein Gericht, ob diejenigen, die die Rechtsnorm erlassen haben – beim förmlichen Gesetz ein Parlament, bei der Rechtsverordnung eine Verwaltung – Mist gebaut haben.
Mist heißt, dass das Gesetz oder die Rechtsverordnung nicht mit höherrangigem Recht vereinbar ist, mit der Verfassung oder den Menschenrechten oder ähnlichen Geschichten. Wenn die hessische Landesregierung zum Beispiel eine Verordnung erlassen hätte, wonach man Katholiken und Protestanten gerne mal ordentlich was auf die Zwölf geben darf, weil es in jedem Fall die Richtigen trifft, dann wäre das ein prima Anwendungsbeispiel für eine Normenkontrollklage.
Die Rechtsfolge eines erfolgreichen Normenkontrollverfahrens ist nicht etwa die Aufhebung der Norm, sondern ihre Nichtigkeit. Juristen tun einfach so, als hätte es die Norm nie geben, so wie einen eingebildeten Freund. Klingt ein bisschen bizarr, kann sich aber praktisch erheblich auswirken. Vielleicht kennen Sie das im Zusammenhang mit Ehe. Wenn Ihre Partnerwahl ein Griff ins Klo war, gibt es juristisch zwei Möglichkeiten: Scheidung oder Annullierung. Der Unterschied: Bei Scheidung müssen Sie zahlen. Das Problem: Annullierung kriegen Sie fast nie durch.
Verordnung zur Verordnung
Deutlich häufiger als die Annullierung von Ehen kommt die Nichtigkeit von Rechtsnormen vor. Das mögen Sie als Gefangener einer unvorteilhaften Lebensentscheidung ungerecht finden, aber es ist, wie es ist. So zum Beispiel in unserem konkreten Fall.
Fassen wir den Zwischenstand zusammen: Die hessische Landesregierung verpasste ihren Untertanen zur Seuchenbekämpfung eine Norm mit dem schillernden Namen „Zweite Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus in der Fassung der Sechsten Verordnung zur Anpassung der Verordnungen zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 16. April 2020“.
In dieser Zweiten Verordnung in Fassung der Sechsten Verordnung zur Anpassung diverser Verordnungen verordnet Paragraf 3 Abs. 1 Nr. 2 a), dass ab Montag, dem 27. April 2020, „die Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe der Grundschulen, der Sprachheilschulen und der Schulen mit den Förderschwerpunkten Sehen oder Hören“ wieder in die Schule müssen. Eine sprech-, seh- und hörtechnisch einwandfrei aufgestellte Frankfurter Grundschülerin zog dagegen vor Gericht. Sie – bzw. ihre obskuren Hintermänner*innen – beanstandete eine üble Verletzung von Grundrechten. Und sie bekam recht.
Recht haben und recht bekommen
Rechtsfolge des Rechtbekommens ist die Nichtigkeit von Paragraf 3 Abs. 1 Nr. 2 a). Die praktische Folge ist, dass nicht nur die kleine Frankfurterin, sondern alle hessischen Viertklässler*innen jetzt nicht in die Schule dürfen.
Recht haben und recht bekommen sind zwei grundverschiedene Dinge, wie jeder angehende Jurist im ersten Semester lernt. Recht haben ist leicht, recht bekommen ist schwer. So gesehen, ist der Erfolg der hessischen Vorkämpferin fürs Gute im Allgemeinen und Menschenrechte im Besonderen eine feine Sache. Konkret geht es um das Grundrecht auf Gleichbehandlung, wie die Pressestelle des VGH Kassel erklärt:
„Die Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe würden im Vergleich zur überwiegenden Zahl der Schülerinnen und Schüler, denen aus Gründen des Infektionsschutzes der Schulbesuch bis zum 3. Mai 2020 gänzlich untersagt werde, ohne hinreichenden Grund ungleich behandelt und dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG auf Gleichbehandlung verletzt. So seien mit Ausnahme der Viertklässler sämtliche Schüler, die sich keiner Abschlussprüfung unterziehen müssten, von der Schulpflicht befreit und müssten sich somit keinem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen. Für diese Ungleichbehandlung bestehe kein sachlicher Grund.“
Corona ist wie Schnupfen
Gehen wir’s noch einmal durch: Hessische Viertklässler wechseln im Herbst auf eine weiterführende Schule und sollen darauf vorbereitet werden. Darin sieht die hessische Regierung einen guten Grund, die Viertklässler vor den Ferien in die Schule zu schicken, anders als zum Beispiel die Drittklässler.
Das ist für die Viertklässler ein Nachteil, meint das Gericht. Der Nachteil ist aber nicht etwa, dass Zehnjährige in der Schule pauken müssen, während Neunjährige zu Hause rumdaddeln können. Nein, der Nachteil besteht nach Auffassung der hessischen Verwaltungsrichter darin, dass die Viertklässler in der Schule einem höheren Corona-Infektionsrisiko ausgesetzt sind als die Drittklässler zu Hause vor der Xbox. Das ist richtig – im Prinzip.
Was die Richter aber offenbar nicht mitgekriegt haben: Alle Erfahrungen auf der ganzen weiten Welt zeigen, dass eine Corona-Infektion bei Zehnjährigen maximal so dramatisch ist wie ein Schnupfen oder ein Mückenstich. Die meisten merken davon nicht einmal etwas. Das erhöhte Infektionsrisiko manifestiert sich in der Praxis also nicht als relevante Beeinträchtigung. Nebenbei: Bei den Eltern infizierter Kinder sieht das natürlich anders aus. Aber das spielt in unserem Fall keine Rolle, denn die Eltern beriefen sich nicht auf eigene Rechte, sondern nur auf die schlimme Grundrechtsverletzung am Töchterchen.
Hammer oder behämmert?
Zurück zum Kasus knaxus: Ob eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorliegt, entscheidet sich unter anderem daran, in welchem Verhältnis der Grund für die Ungleichbehandlung zum daraus erwachsenden Nachteil steht. In unserem Fall überwiegt der Grund (Vorbereitung auf die weiterführende Schule) locker die potenzielle Beschwernis (laufende Nase).
Falls Sie nicht restlos überzeugt sind: Eine Corona-Infektion ist für die lieben Kleinen nach allem, was wir wissen, weniger gefährlich als zum Beispiel der Schulweg. Und kein Richter kam bisher auf die Idee, Viertklässlern den Schulbesuch vorsorglich deshalb zu verbieten, weil die von Helikoptereltern verdorbene Aufzucht zu dämlich sein könnte, eine Straße sach- und fachgerecht zu überqueren.
Wie der VGH Kassel zu seinem Beschluss kam, bleibt also ein Mysterium – vorerst. Aus der Pressemitteilung ergibt sich, dass der 8. Senat möglicherweise schlagende Geheimargumente in der Hinterhand hat: „Ein Abdruck des umfangreich begründeten Beschlusses kann per Mail angefordert werden unter: Entscheidungen@vgh-kassel.justiz.hessen.de“.
Ob die VGH-Entscheidung ein Hammer ist, wie „Bild“ meint, oder eher behämmert, ist allerdings höchstens von akademischem Interesse. Der Beschluss ist nämlich unanfechtbar. Die Eltern zehnjähriger Hessen müssen also ab heute so oder so weiter mit ihrem Nachwuchs üben, wie man 200 durch 8 teilt.