Cora Stephan / 16.04.2021 / 10:00 / Foto: Pixabay / 17 / Seite ausdrucken

Cora Stephan – Die Stimme der Provinz: Tourismus ist ein Segen

Es ist verdammt lang her, aber einst galt das französische Chanson als die Musik der intellektuell eingebildeten Stände, während Heulbojen wie Elvis Presley oder die Beatles was fürs gemeine Fußvolk waren. Damals also gab es ein Lied von Jean Ferrat, in dem er die Gegend besang, in deren Nähe ich mich im Frühjahr und Herbst gern aufhalte. Jean Ferrat lebte in Antraigues, einem Bergdörfchen, umgeben von hübschen runden und ansonsten zurückhaltenden Vulkanen, und beklagte Mitte der 60er Jahre, dass die Jugend trotz der Schönheit der Berge die Gegend verließ – um in der Stadt als Beamte oder Polizisten inmitten von pflegeleichten Resopalmöbeln auf die Rente zu warten.

Die Flucht aus dem Vivarais im Departement Ardèche begann allerdings bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis etwa 1855 war das ganz anders, die Gegend zog das Volk magisch an – nicht, weil man nach Gold schürfen oder nach Diamanten graben wollte, sondern der Seide wegen.

Damals waren die Bewohner des Vivarais reich, es waren goldene Zeiten, denn hier entstand die beste Seide der Welt. Seide wird von Seidenraupen produziert, bombex mori, die sich ausschließlich von frischen Maulbeerblättern ernähren. Im Land der Kastanien wurden nun Maulbeerbäume gepflanzt, millionenfach. Für die wärmeliebenden Seidenraupen und ihre Eier wurden Paläste gebaut. In diesen Steinhäusern, genannt „Magnanerien“, wurde unten ordentlich eingeheizt, während in den oberen Stockwerken die Eier reiften, die Raupen schlüpften, sich auf Holzregalen rund fraßen und schließlich in einem Kokon verpuppten. Die Larven wurden getötet und der Kokon zu Seide verarbeitet.

Monumente ehemaligen Reichtums

Der Segen wurde bald zum Verhängnis. Die Maulbeerbäume verdrängten alles andere, Obstbäume, Kastanien, Feldfrüchte, Wein. Das rächte sich bitter, als eine Krankheit Mitte des 19. Jahrhunderts die Raupen hinwegraffte. Auf den Tod der Seidenindustrie folgten Überschwemmungen und Brände. Erst hatten die Maulbeerbäume die Esskastanie als „Brot“ der Ardeche verdrängt, dann raffte die Tintenkrankheit die Kastanien hinweg. Auf den Reichtum folgte bittere Armut. Die Eisenbahnstrecke, die man bis ins Vivarais gelegt hatte, damit die Menschen leichter ins gelobte Land kamen, diente jetzt ihrer Flucht vor dem Elend.

Der Landschaft merkt man ihre Vergangenheit kaum noch an. Auf der Karstebene um das Dörfchen Chapias stehen noch ganze Reihen von Maulbeerbäumen. Auch Kastanien wachsen wieder, und kein Tourist sollte sich im Herbst beim Sammeln der Kastanien erwischen lassen, die gelten heute in allen möglichen Verarbeitungsformen als Spezialität der Region. Die Landschaft ist noch immer durchzogen von Mauern aus Feldsteinen, manche verfallen, viele erhalten, einige gepflegt. Doch die vielen Terrassen, die sie einst stützten und begrenzten, werden nur noch selten bewirtschaftet. Dort, wo kein Weinbau betrieben wird, haben sich Nadelbäume verbreitet.

Es bleiben die Steinhäuser als Monumente ehemaligen Reichtums, die malerisch vor sich hin verfielen, bis sich das Karussell ein weiteres Mal drehte.

Eben noch hatte Jean Ferrat beklagt, dass die jungen Leute fader Vorteile wegen wegzogen und Hormonhähnchen und Kino wollten, statt sich das Rebhuhn selbst zu schießen und im Abendlicht dem Flug der Schwalben zu folgen. Doch im Zuge von 68ff. kamen sie plötzlich zurück, die jungen Leute, Hippies und Aussteiger, raus aus der Stadt, weg von pflegeleichten Plastikmöbeln und Fastfood. Die Flucht vor dem Verwertungszusammenhang des Kapitals endete in der tiefen Provinz, aus der Frankreich ja weitgehend besteht – etwa in den Bergen und Tälern der Ardèche, in die großen alten Steinhäuser, die andere Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen hatten.

Den Aussteigern von damals mit romantischen Ideen vom neuen Menschen folgten betuchte Touristen in die einst so einsame Gegend: Engländer, Belgier, Holländer, Deutsche und neuerdings auch Pariser, die ihre Stadt leid sind. Die renovieren die alten Steinhäuser, weshalb es kaum noch pittoreske Ruinen gibt, dafür eine Neubausiedlung nach der nächsten, denn eine französische Kleinfamilie kann sich so einen alten, nur schwer beheizbaren Kasten kaum leisten. Die baut sich lieber ein Niedrigenergiehaus auf der grünen Wiese.

Tourismus ist ein Segen, gerade in dieser Gegend, die jahrelang am Rande des Weges in die heillos überlaufene (und überschätzte) Provence lag. In vielen alten Gemäuern gibt es mittlerweile Ferienwohnungen. So erhält ausgerechnet der Tourismus das von den Franzosen so hoch geschätzte „Patrimoine“, das kulturelle Erbe. Zu dem gehört übrigens seit neuestem auch der Hahnenschrei und der Geruch von Mist – Frankreich ehrt seine Provinz und das Landleben. Vorbildlich!

Foto: Pixabay

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Yon Bureitxa / 16.04.2021

@Joachim Krone…Hallo Joachim:  Baiona und Miarritze. Gibt es schönere Orte an der Bizkaia? Der alte Glamour bröckelt, gebleiben ist die Schönheit der Landschaft, zwischen Pirinioak und Bizkaia. Haben Sie schon mal erlebt, wenn GANZ Bayonne die Peña Baiona singt, immer auch gerne wenn die Aviron Bayonnais Rugby Equipe gewonnen hat? Ich vermute mal, dass der von Ihnen so schön titulierte, intelektuelle Pensionisten Treck davon noch nie hörte. Der gute Udo, der mit dem Griechischen Wein die Melodie zur Hymne lieferte, dürfte auf seiner Wolke feuchte Augen bekommen, wenn die Leute dieses Lied anstimmen. Ich auch…

Yon Bureitxa / 16.04.2021

Monique@Brodka…Sehr geehrte Monique. Heulboje? Wir hatten in Frankreich eine eigene “Heulboje”, von unseren Alten liebevoll “Papa YehYeh” genannt. Wissen Sie wen ich meine? Initialien: J.H. Der hat alles, aber auch alles was von den Angelsachsen kam gecovert. Das war manchmal grauenhaft - aber trotzdem, voller Trotz, schön. 2017 har den der Lungenkrebs weggehauen - zuviel Gitanes, Gauloises Papier Maiis? Sogar Macron, dieses Jüngelchen, hatte dicke Augen.

Yon Bureitxa / 16.04.2021

Ja Frau Stephan, es war schon immer - und es ist immer noch so, dass es für die Grossstadtfranzosen die es sich leisten konnten/können am “weekend” ab auf´s Land, in die campagne geht. Ein Häuschen in einer gottverlassenen Gegend - fantastique! Leider vermiest ihnen der krasse, gnadenlos heftige Zuzug von Menschen, die zwischen Töpfern und Brot backen ihr Seelenheil suchen, die traditionellen, französischen plaisirs de la vie. Nicht nur in den Cévennes oder der menschenleeren Creuse, auch im Pays Basque gibt es alte “Dörfer” die mittlerweile vollständigvon GeeBee´s (=GB) bewohnt werden - dito oftmals auch von pensionierten Pädagogen deutscher Zunge. Ich glaube manchmal, viele von denen wollen nur die Örtlichkeit wechseln, romantische, alte Steinhäuser behausen - vielleicht vergessen die sogar irgendwann, dass sie in Frankreich sind…dann spielen die nicht mehr pétanque - sondern boule. Also: so spannend ist das alles nicht, für die übrig gebliebenen Franzosen, Basken, die dort, oft unglaublich mühsehlig ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Und noch etwas, oft übertüncht die traditionelle französische politesse das wahre Gefühl der Menschen. Da sollte man sich nichts vormachen…aber, Frau Stephan, es gibt auch Menschen die ihren Weg in die andere Himmelsrichtung einschlagen und hier landen ;-)

Thomas Taterka / 16.04.2021

Provinz in Frankreich? Jederzeit. - Provinz in Deutschland ? Mir hocken da zu viele rum, die von der Angst gepeitscht sind, man könne ihnen persönlich was wegnehmen. - Das “Savoir - vivre” haben DIE nicht gerade erfunden , eher diese elende deutsche Vereinsmeierei und von der hatte ich schon vor 40 Jahren genug , als ich in die Großstadt zog. Das gallische Dorf als Mischung von Aussteigern und Alteingesessenen wär mein Traum . Etwa so wie in Ridley Scotts ” Gutem Jahr “( 2006 ) . - Jean Ferrat ist ganz herzallerliebst , aber als Berliner ist mir der Samba von Edmundo Ros lieber. Sieht meine andere Hälfte genauso.

Gerhard Schmidt / 16.04.2021

# Kay R. Ströhmer: Ich bin aus dem Rhein-Main-Gebiet nach Ostfriesland umgezogen, viele Bremer (vor allem Deutschstämmige mit Kindern) ziehen aus der Stadt weg (fliehen wäre richtiger) und Berlin ist bald von Werktätigen im engeren Sinne geräumt. Alle sind das Gleiche leid, aber man spricht halt nicht gerne drüber und wählt weiter grün…

K Bucher / 16.04.2021

Absolut Lesenswert!  Danke für ein paar Minuten pure Entspannung .Diese Gegend steht auf meiner Liste ganz oben beim Nächsten Frankreich Besuch ...insbesondere , da dort offensichtlich viel weniger die Chance besteht andauern wie hier zu Lande ,( Inzwischen) selbst im Kleinsten Kuh Kaff irgendwelchen Angeblichen ,,Friedens,, Religions Fanatikern ansichtig werden zu müssen . Das alleine ist mir schon die Reise wert .

Peter Volgnandt / 16.04.2021

Liebe Cora, danke für den Artikel. Ich liebe die französische Provinz, habe Freunde im Limousin, Departement Creuse, wo übrigens viele Niederländer (!) und Engländer verlassene Bauernhöfe aufkaufen und renovieren. Dann hab ich noch Freunde in der Umgebung von Millau (Aveyron) und an die hab ich bei dem Lied von Ferrat gedacht. Tourismus wäre schon wünschenswerte, speziell im Limousin. In unserer Partnergemeinde gibt es seit zwei drei Jahren keine Hotels und Gastronomie mehr. Ändert sich hoffentlich mal.

Jana Hensel / 16.04.2021

Nichts gegen die Pariser. Mal bei Zensurtube “le retour danser encoure” eingeben. Dann findet man ein Video zu einer wie ich finde echt eindrucksvollen Form der Regierungskritik - am helligten Tage, mitten im Gare de l’Est. Den Coronakontrollbütteln blieb nur das hilflose Zugucken..

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Cora Stephan / 08.03.2024 / 06:15 / 49

Männer! Richtige Männer! Es gibt sie noch!

Botschaft an alle Männer, die heimlich daran zweifeln, dass es 99 Geschlechter gibt, ein Mann per Selbstermächtigung zur Frau wird und Frauen die besseren Menschen…/ mehr

Cora Stephan / 29.02.2024 / 11:00 / 51

Daniela Klette und der vergessene Linksextremismus

Die Innenministerin ist voll des Lobes angesichts der Festnahme von Daniela Klette, 65 Jahre alt, Mitglied der RAF, Dritte Generation. Fahndungserfolg nach nicht einmal 30…/ mehr

Cora Stephan / 15.02.2024 / 06:05 / 65

Toxische Weis(s)heit: Die Heuchler von Ulm

Eine Stadt die in der Coronazeit durch besonders rigide Freiheitseinschränkungen von sich reden machte, setzt sich plötzlich für „Vielfalt und Demokratie“ ein. Ulm ist ein…/ mehr

Cora Stephan / 10.02.2024 / 12:00 / 36

Merz in Grün?

Was geht im Kopf eine Politikers wie Friedrich Merz vor, der die Grünen erst zum Hauptgegner erklärt und dann eine Koalition mit ihnen nicht mehr…/ mehr

Cora Stephan / 01.02.2024 / 12:00 / 40

Toxische Weis(s)heit: Teure Migration

Eine holländische Studie ermittelte, dass zwei Drittel aller Einwanderer den niederländischen Staat Geld kosten. In Deutschland ist die Lage längst kritisch. Wer 2015 nicht nur Gefühle…/ mehr

Cora Stephan / 25.01.2024 / 10:00 / 35

Preisverleihungen nur noch auf Bewährung!

Wer einen Preis verliehen bekommt, weil er was besonderes geleistet hat, sollte sich sehr genau überlegen, mit wem er künftig redet. Sonst ist der womöglich…/ mehr

Cora Stephan / 11.01.2024 / 10:00 / 55

Bauer, Trecker, Fußtritt

Was derzeit bei den Bauern los ist, hat eine weit längere Vorgeschichte als der Versuch einer unfassbar täppisch agierenden Regierung, bei den Landwirten Steuervergünstigungen und…/ mehr

Cora Stephan / 04.01.2024 / 16:00 / 10

Was soll das sein, ein neues Jahr?

Will jemand ernsthaft behaupten, das bloße Auswechseln der letzten Zahl des Datums bedeute bereits etwas wirklich und wahrhaftig ganz anderes? An die Magie von Zahlen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com