Unter ihrem ehemaligen Präsidenten Mario Draghi ist die EZB zu einer mächtigen und einflussreichen Institution geworden. Sie hat Aufgaben an sich gezogen, die weit über ihr sehr eng gefasstes Mandat, die Preisstabilität zu gewährleisten, hinausgehen. Kritiker bemängeln, dass die EZB durch die Übernahme von Aufgaben, für die sie nicht geschaffen wurde, ihre eigentliche Aufgabe gefährde. Indem sie sich für politische Ziele einspannen lasse, forciere sie eine Geldpolitik, die in einen Konflikt mit der Preisstabilität geraten könne. Im Konfliktfall wäre nicht nur die Preisstabilität gefährdet, sondern auch die Autorität und Unabhängigkeit der EZB. Sie könnte mit ihren Aufgaben überfordert sein, und ihre Rolle würde grundsätzlich infrage gestellt.
Während die langfristig mögliche Gefährdung der Preisstabilität immer wieder problematisiert wird, bleibt die Kehrseite des EZB-Handelns weitgehend unbeachtet: In der Ära Draghi ist die EZB tief in Sphären eingedrungen, die, gemäß den Prinzipien der Demokratie, den gewählten Repräsentanten des Volkes vorbehalten sind. Es ist ein Machttransfer entstanden, in dem nicht mehr die Institutionen der repräsentativen Demokratie für wirtschaftliche und politische Weichenstellungen verantwortlich zeichnen, sondern die politisch „unabhängigste Zentralbank der Welt“, wie es einer ihrer ehemaligen Chef-Ökonomen formuliert.
Um brisanten politischen und wirtschaftlichen Problemen ausweichen zu können, haben die nationalstaatlichen Institutionen der repräsentativen Demokratie, insbesondere Regierungen und Gerichte, für einen Machttransfer in Richtung EZB gesorgt. Die EZB ist inzwischen mehr als nur eine vierte Gewalt. Faktisch fungiert sie als eine Institution, die sich über die nationalstaatlich verfasste repräsentative Demokratie erhebt und sich zunehmend von dieser politisch unabhängig macht.
Die neue EZB-Präsidentin Lagarde hat nun sogar deutlich gemacht, dass sie diesen Kurs weiter verschärfen wird und dass sie wenig vom demokratischen Prinzip hält. Wie sie auf ihrer ersten Pressekonferenz durchblicken ließ, will sie Geldpolitik im Namen des Klimaschutzes betreiben. Bereits zuvor hatte sie bei einer Anhörung im EU-Parlament im September eingeräumt, dass das oberste Ziel der EZB zwar die Preisstabilität sei. Ihrer Auffassung nach sei es aber dennoch legitim, weitere Ziele zu verfolgen. Sie ließ nicht den geringsten Zweifel an ihrer Überzeugung, dass es ihr als EZB-Chefin obliegt, das EZB-Mandat selbst zu definieren. Vor den Europaparlamentariern sagte sie: „Es gibt sekundäre Ziele, die nach meiner Überzeugung nicht sekundär sind. Und wenn Preisstabilität vorliegt, dann kann man sich auch weitere Ziele […] anschauen. Zum Beispiel kann die EZB gewiss das Ziel Umweltschutz mit aufgreifen.“ Dies zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit die EZB-Präsidenten die von ihnen für richtig gehaltenen Wege beschreiten, obwohl das enge, auf Preisstabilität ausgerichtete Mandat im Vertrag von Maastricht verankert ist und seinerzeit von nationalen Parlamenten der Eurozone und sogar in Volksabstimmungen verabschiedet wurde.
„Alle Regeln gebrochen“, um die Eurozone zu retten
Lagarde hat offenbar erkannt, dass die EZB wegen des unter Draghi ausgeweiteten Mandats mit einem zunehmenden Legitimationsproblem konfrontiert ist. Die EZB übernimmt Aufgaben, für die sie kein Mandat hat und greift tief in die Souveränität der Nationalstaaten, deren gewählter Repräsentanten und der Bürger ein. Anstatt jedoch das Mandat wieder zu begrenzen, zielt sie darauf ab, die in den Augen der Bürger etwas brüchig gewordene Legitimität der EZB neu zu fundieren. Das soll durch die Verfolgung zusätzlicher populärer Ziele wie Klima- und Umweltschutz erreicht werden. Dazu soll die von ihr angekündigte Revision der EZB-Geldpolitik Anfang 2020 dienen.
Die EZB hat sich für viele Ziele einspannen lassen, die nicht ihren originären Aufgaben entsprechen. Das zeigte sich erstmals in aller Deutlichkeit, als die Folgen der Finanzkrise 2008 einige Euroländer finanziell zu überfordern drohten. Da es den Regierungen der Euroländer nicht gelungen war, das zunehmende Risiko eines Zusammenbruchs der Eurozone zu verhindern, sprang die EZB in die Bresche. Zuvor hatten die Regierungen, wie Lagarde (damals noch französische Finanzministerin) freimütig zugab, „alle Regeln gebrochen“, um die Eurozone zu retten. Als selbst das nicht reichte, erklärte der damalige EZB-Präsident Draghi 2012 auf dem Höhepunkt der Eurokrise, „alles zu tun“, um die Eurozone zu retten. So beendete er auf einen Schlag die eskalierende Eurokrise.
Es war nun klar, dass die „Länder zusammen [einstehen] für die Schulden der Angeschlagenen“, wie seinerzeit der Präsident der Schweizerischen Nationalbank kommentierte. Gegen die Interpretation von Draghis Handeln als faktische Schuldenvergemeinschaftung setzte sich keine Regierung der Eurozone zur Wehr, denn in diesem Fall wäre die Eurokrise sofort wieder aufgeflammt. Damit ist die EZB sogar für politische Weichenstellungen verantwortlich, zu denen sich die nationalen Regierungen nicht durchringen konnten, weil sie hierfür kein demokratisches Mandat hatten. Diese Episode zeigt zudem, dass die EZB eine mächtige Institution ist, mit deren Hilfe es einflussreichen Kreisen leichter gelingen kann, Ziele durchzusetzen, die trotz ihrer Tragweite einem demokratischen Willensbildungsprozess vorenthalten werden.
Zu einem „Ersatz-Wirtschaftsministerium“ mutiert
Mit ihrer Zinspolitik und dem im März 2015 gestarteten Anleihenkaufprogramm hat die EZB zudem faktisch die Finanzierung der Staatshaushalte der Euroländer übernommen. Von etwa 6 Billionen noch vor der Finanzkrise sind die Schulden der Euroländer auf inzwischen 10,5 Billionen Euro nach oben geschossen. Sie hätten sich bis heute glatt verdoppelt, wenn die Zinsen auf dem Niveau von vor der Finanzkrise geblieben wären. So jedoch erzielten die Euroländer durch die Niedrigzinspolitik der EZB einen Zinsbonus von 1,4 Billionen Euro. Die EZB betreibt Staatsfinanzierung und letztlich sogar Fiskalpolitik.
Auch dem deutschen Staat ist seit 2008 eine Zinsersparnis von mehr als 370 Milliarden Euro zugeflossen, was höhere Staatsausgaben ermöglicht hat, ohne die „schwarze Null“ zu gefährden. Dass die wirtschaftspolitische Verantwortung in der Eurozone inzwischen praktisch vollkommen auf die EZB übergegangen ist, stellte der damalige deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel selbstkritisch fest. Schon während seiner Amtszeit meinte er, die EZB sei zu einem „Ersatz-Wirtschaftsministerium“ mutiert. Wichtige wirtschaftspolitische Weichenstellungen mit enormer sozialer und gesellschaftlicher Tragweite sind so dem Einfluss der Wähler vollkommen entzogen.
So übernehmen EZB und andere Zentralbanken eine immer bedeutendere wirtschaftspolitische Rolle. Sie beflügeln die Finanzmärkte und halten überschuldete Staaten wie auch die wertschöpfende Wirtschaft durch das viele billige Geld zumindest am Laufen. Zudem verschaffen sie den Staaten durch niedrige Zinsen und den Kauf ihrer Staatsanleihen zusätzliche fiskalische Spielräume. Sie müssen für ihre Billionenschulden kaum mehr Zinsen zahlen oder verdienen, wie Deutschland, sogar Geld damit. Mit den ersparten Zinsen und dem gedruckten Geld können sie ihre Staatsschulden praktisch zum Nulltarif erheblich ausweiten. So können sie mit konjunktureller Stimulierung, Steuervergünstigungen und Subventionen dafür sorgen, dass die blutarme Wirtschaft keine Rückschläge erleidet. Zudem ermöglicht dies sozialstaatliche Umverteilungsprogramme, die darauf abzielen, die Wähler bei Laune zu halten und zumindest den Schein steigenden Wohlstands aufrechtzuerhalten.
Stagnation des Wohlstands
Die EZB ist zum wichtigsten Stützpfeiler für die geschwächte Wirtschaft geworden. Den Regierungen der Eurozone verschafft sie den nötigen Spielraum, um weiterzuwursteln wie bisher. Während Vermögende von Wertsteigerungen profitieren und Unternehmen gute Gewinne einfahren, gelingt es nur bedingt, die Stagnation des Wohlstands der breiten Massen mit staatlicher Umverteilung zu kaschieren. Die Politik ist aber durch die von der EZB geschaffenen Spielräume nicht gezwungen, die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Probleme zu adressieren.
Im Gegenzug halten die Regierungen der Euroländer und die Gerichte der EZB den Rücken frei, indem sie die politische Unabhängigkeit der EZB verteidigen und den Vorwurf von Mandatsüberschreitungen unter anderem über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs kontinuierlich zurückweisen. Die EZB hat dadurch eine enorme Macht erlangt. Diese nutzt sie jedoch nicht etwa, wie noch immer viele Kritiker meinen, für eine eigene Agenda, sondern sie treibt die Agenda der Nationalstaaten und ihrer Regierungen sowie der wirtschaftlich und politisch einflussreichen Kreise voran. Ihnen fehlt jedoch Kraft und Vertrauen, um die wirtschaftliche Stagnation zu adressieren oder gar anzugehen. Da sie zudem nicht unter politischem Druck stehen, weil sich auch oppositionelle Strömungen ausschließlich auf Umverteilungspolitik eingeschworen haben, erleichtert ihnen dies die Verwaltung des Status quo mit Hilfe der EZB.
Das politische Problem dabei ist, dass die Verwaltung der wirtschaftlichen Stagnation der Eurozone zu wesentlichen Teilen auf die „rechtlich unabhängigste Notenbank der Welt“ transferiert wurde. Die Entscheidungen werden so von den Wählern abgekapselt. Obwohl sie in einer Demokratie der politische Souverän sind und von ihnen die Macht ausgehen sollte, werden sie aus demokratischen Entscheidungsprozessen möglichst herausgehalten und sogar zunehmend herausgedrängt, wie einige Kollegen und ich in unserem neuen Buch „Experimente statt Experten“ aufzeigen. Es hat sich eine Machtbalance herausgebildet, in der sich die Gerichte, die Exekutive (also die Regierungen und die EU-Kommission) und die EZB gegenseitig den Rücken freihalten. Die Wähler stehen daher der mehr oder minder freien Interpretation des EZB-Mandats durch ihre jeweiligen Präsidenten machtlos gegenüber. Sie werden zudem politisch gelähmt, weil die EZB die wohl entscheidende Rolle spielt, durch die es gelingt, die Stagnation des Wohlstands der Massen zu kaschieren.
Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt am Main. Er publiziert mit dem Fokus auf wirtschaftspolitische Themen. Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.
Quellen
„Eine Krise von neuer Dimension ist möglich“ in: FAS, 15.12.2019, S. 27.
Philip Plickert, „Die Unabhängigkeit der Notenbanken ist bedroht“, F.A.Z., 11.07.2019, S. 17.
https://www.welt.de/finanzen/article204274180/Neue-EZB-Chefin-Mit-Lagarde-zieht-ein-anderer-Stil-in-die-EZB-ein.html
https://www.deutschlandfunk.de/geldpolitik-die-ezb-als-klimaschuetzer.766.de.html?dram:article_id=462432
Zit. in Hans-Werner Sinn: „Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel“, Carl-Hanser-Verlag 2015, S. 30.
Zit. n.: Hans-Werner Sinn: „Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel“, Carl Hanser Verlag 2015, S. 387.
„Deutscher Staat spart Milliarden durch Niedrigzinsen“ in: F.A.Z., 09.01.2019, S. 17.
Philip Plickert: „Der deutsche Staat spart viele Milliarden“, F.A.Z. online, 08.01.2019.
„Gabriel sieht EZB-Politik am Ende“, Stuttgarter Nachrichten online, 20.04.2016.