Scholz und Habeck sind Europas Seiltänzer. Einstweilen ist die Bundesregierung jedoch mit dem harten Boden der Realität konfrontiert. Wirtschafts- und Energiepolitik führen geradewegs in Deindustrialisierung und Wohlstandsvernichtung.
Im März gab sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zuversichtlich. In Anbetracht sinkenden Wirtschaftswachstums und konjunktureller Sorgen prophezeite er, dass Deutschland wegen der „hohen Investitionen in den Klimaschutz“ unmittelbar vor der Wiederholung des Wirtschaftswunders der 1950er und 1960er Jahre stehe. Arbeitslosigkeit werde sogar auf Jahrzehnte hinaus kein Problem mehr sein. Vielmehr gebe es nun auf lange Sicht „einen Mangel an Arbeitskräften“.
Auf einer Veranstaltung des Industrieverbands BDI legte Scholz sogar nach. Auch der Industrie prophezeite er nun goldene Zeiten. Denn unter seiner Regierung werde die Energiewende „vom Ende her“ gedacht und so stehe als „Ziel […] ein Industriestrompreis von vier Cent“. Zudem werde der Staat mittels Subventionen eine verlässliche Brücke dorthin bauen, damit die Unternehmen auf Klimaneutralität setzen könnten, „auch dann, wenn die neuen Verfahren und Technologien nicht unmittelbar rentabel sind“.
Das 4-Cent-Märchen
Einstweilen ist die Bundesregierung jedoch mit der Realität konfrontiert. Und die sieht gänzlich anders aus als die Scholzsche Vision. Bereits vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs zahlten Unternehmen in Deutschland, bedingt durch die seit mehr als 20 Jahren zunehmende Nutzung von Wind- und Solarstrom, einen durchschnittlichen Strompreis von 14,90 Cent pro Kilowattstunde (kWh) – private Verbraucher 32,62 Cent. Der Ukraine-Krieg hat an diesem Niveau wenig geändert. Im zweiten Halbjahr 2022 lagen die Strompreise nach Angaben des Statistischen Bundesamts bei durchschnittlich 20,74 Cent beziehungsweise 34,96 Cent pro kWh.
Damit liegen die Industriestrompreise in Deutschland im internationalen Vergleich auf einem Spitzenniveau. Energieintensive Unternehmen zahlen in Deutschland mehr als 8 Cent pro kWh, in den USA und in China hingegen weniger als die Hälfte. Noch gravierender sind die Unterschiede für mittelgroße und durchschnittliche Industrieverbraucher (20–2.000 MWh pro Jahr). 2018 mussten diese Unternehmen in Deutschland einen Strompreis zwischen 15 und 17 Cent pro kWh hinnehmen, in Polen 11 Cent, in Ungarn 8 bis 10 Cent, in der Türkei und den USA nur etwa 6 Cent.
Die hohen Industriestrompreise in Deutschland sind entstanden, obwohl seit den Anfängen der ökologischen Klimapolitik mit einem energiepolitischen Seiltanz versucht wird, die wirtschaftliche Belastung für die – in der Regel im globalen Wettbewerb stehenden – Betriebe auf ein erträgliches Maß herunterzusubventionieren. Diese Strategie ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Die bis hin zur angestrebten Klimaneutralität anfallenden Kosten sind so gigantisch, dass es weder bisher gelungen ist noch auf Dauer gelingen kann, die Industrie ganz oder teilweise davon auszunehmen. Denn auf sie entfällt knapp ein Drittel des Endenergieverbrauchs in Deutschland.
Die Ursache steigender Stromkosten liegt in den ökologischen Prämissen der Klimapolitik. Unter diesen Vorgaben setzt sie auf eine möglichst drastische Senkung des Energieverbrauchs, so dass der verbleibende Bedarf vollständig mit Hilfe der nur begrenzt verfügbaren erneuerbaren Energie – in Deutschland in erster Linie Wind- und Sonnenenergie – gedeckt werden kann. Die Förderbank KfW schätzt, dass in Deutschland insgesamt noch etwa 5 Billionen Euro, jährlich etwa 250 Milliarden, in einen neuen Kapitalstock investiert werden müssen, um die Transformation zur Klimaneutralität zu schaffen.
Im besten Fall, so Ifo-Präsident Clemens Fuest, führt die geplante klimaneutrale Transformation der Wirtschaft dazu, dass der alte Kapitalstock einfach durch einen neuen ersetzt werde. Zusätzliche, günstigere Energieerzeugungskapazitäten würden jedoch nicht entstehen. Anders als Scholz prognostiziert er daher für die nächsten Jahrzehnte „eher Schweiß und Tränen als großen Boom“. Im ungünstigeren Fall – den Fuest nur impliziert, der jedoch dem Lauf der Dinge entspricht – ist dieser klimaneutrale Kapitalstock deutlich unproduktiver als der auf hohe Produktivität getrimmte, bisherige Kapitalstock. Es kommt daher nicht einfach nur zu einem extrem teuren Austausch des Kapitalstocks, sondern zu dauerhaft wesentlich höheren Energiepreisen.
Kostenexplosion durch grüne Energie
Für die gesamte Industrie, vor allem aber für die energieintensiven Industrien, die in Deutschland mit 7.000 Betrieben und etwa einer Million Beschäftigten ein Fünftel der gesamten industriellen Bruttowertschöpfung Deutschlands erwirtschaften, geht von dieser Klimapolitik eine existenzielle Bedrohung aus. Denn ein Großteil der energieintensiven Betriebe wird nicht nur durch steigende Stromkosten belastet, sondern zudem durch die ebenfalls im Rahmen der ökologischen Klimapolitik erzwungenen Umstellung von fossiler Energie auf grünen Strom und grünen Wasserstoff.
Bisher bilden fossile Rohstoffe, die nicht nur energetisch, sondern auch für die Herstellung von chemischen Produkten wie etwa Düngemittel verwendet werden, mit 63 Prozent den Löwenanteil der in der Industrie insgesamt verwendeten Energie. Strom hingegen verwendet man dafür nur zu etwa 20 Prozent. Bisher sind die fossilen Energieträger wegen der noch immer relativ niedrigen CO2-Steuern, die durch den Emissionshandel nun jedoch spürbar steigen, vergleichsweise günstig. Daher ist die wirtschaftliche Belastung derjenigen Unternehmen, die zwar viel Energie benötigen, davon aber nur einen geringen Prozentsatz in Form von Strom, bisher vergleichsweise moderat. Sobald Unternehmen jedoch damit beginnen, ihre Prozesse technologisch auf Strom als Energieträger umzustellen, explodieren die Kosten, denn dann gelten die deutschen Spitzenpreise. Gleiches gilt für die Umstellung auf Wasserstoff aus erneuerbaren Energien, weswegen energieintensive Industrien ohne Dauersubventionen in Deutschland keine Überlebenschance haben.
Das ist auch Bundeswirtschafts- und -klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) bewusst, dessen Ministerium unmissverständlich schreibt, dass die „für die Dekarbonisierung der Industrie notwendige Modifizierung von Produktionsverfahren … nicht nur mit erheblichem Investitionsaufwand [einhergeht], sondern auch mit stark erhöhten Betriebskosten. Sie entstehen vor allem durch den Einsatz von grünem Strom bzw. grünem Wasserstoff“.
Um das zwangsläufige Ende dieser unwirtschaftlichen Produktionsweise zu verhindern, müssen nun gigantische Dauersubventionen mobilisiert werden. Habecks Ministerium strickt gerade an sogenannten Differenzverträgen, mit denen die Produktionskosten beim Einsatz grüner Energie auf ein Niveau gesenkt werden sollen, das die Unternehmen wettbewerbsfähig halten soll. Vorerst ist ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag für die kommenden 15 Jahre vorgesehen, um die Betriebskosten energieintensiver Unternehmen auf ein wettbewerbliches Niveau zu senken. Zudem müssen riesige Subventionen fließen, um den Unternehmen die extrem kostspielige Umrüstung der Produktionsanlagen auf die unwirtschaftliche Nutzung grüner Energie überhaupt schmackhaft zu machen. Für die Umstellung erster Hochöfen der Stahlkonzerne Salzgitter und ThyssenKrupp auf Wasserstofftechnologie haben Bund und Länder bereits 3 Milliarden Euro an Investitionshilfen zugesagt.
Trend des Desinvestierens
Wegen steigender Energiekosten ist in Deutschland längst eine schleichende Deindustrialisierung in Gang gekommen. Das zeigt sich am deutlichsten in den energieintensiven Branchen. Im konjunkturellen Aufschwung kurz vor der Finanzkrise 2008 erreichte die Wertschöpfung der energieintensiven Industrien ihren bisherigen Höhepunkt. Seitdem geht es abwärts. Bis zum Beginn des Ukraine-Kriegs war die Produktion bereits um zehn Prozent geschrumpft. Wegen der vorübergehend drastisch gestiegenen Energiepreise, vor allem für Gas und Strom, ist die Produktion seitdem um weitere knapp 20 Prozent eingebrochen und hat sich nicht wieder erholt. Ganz im Gegenteil geht es im Zuge der aktuellen Rezession weiter deutlich abwärts. Die Unternehmen haben die Produktion zurückgefahren oder stillgelegt und sind, wo dies aufgrund vorhandener Kapazitäten möglich war, auf andere Standorte im Ausland ausgewichen. Somit liegt das derzeitige Produktionsniveau etwa 30 Prozent niedriger als noch vor der Finanzkrise 2008.
Die aus Produktionseinstellungen und Produktionsverlagerungen resultierenden Stilllegungen und Betriebsaufgaben sind für die Unternehmen einschneidend, da sie voll funktionsfähige und bisher profitable Anlagen betreffen. Dennoch dürfte vielen Unternehmen dieser Schritt relativ leichtgefallen sein, da sie sich strategisch längst auf steigende Energiekosten ausgerichtet haben. Die aktuelle Energiekrise erforderte oft nur eine zügige – wenn auch meist wirtschaftlich schmerzhafte – Umsetzung langfristiger Planungen. Denn seit Jahrzehnten desinvestieren die energieintensiven Unternehmen in Deutschland, so dass viele Anlagen längst oder zum großen Teil abgeschrieben sind. So war das Nettoanlagevermögen in der Baustoffindustrie von 2000 bis 2016 um knapp 39 Prozent gesunken, in der Papierindustrie um 31 Prozent, in der Metallerzeugung und -bearbeitung um 16,1 Prozent und in der Chemieindustrie um 12,4 Prozent. Dieser Negativtrend eines sinkenden Kapitalstocks hat sich seitdem fortgesetzt.
Die niedrigen Investitionen senken die Betriebskosten, so dass die in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern besonders hohen Energiekosten bis zu einem gewissen Punkt ausgeglichen werden können. Die Unternehmen, so der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, fahren auf Verschleiß, indem sie zwar noch Geld in den Erhalt bestehender Anlagen stecken, aber neue Investitionen seien rar. Diese betriebswirtschaftliche Strategie kippt, sobald die eingesparten Investitionskosten nicht mehr ausreichen, um die höheren Energiekosten zu kompensieren.
Einbrüche statt Wachstumsphasen
Jetzt zeigen sich die Auswirkungen der Deindustrialisierung sehr deutlich in der wirtschaftlichen Rezession, die Deutschland weit stärker trifft als andere Volkswirtschaften. Nach inzwischen drei aufeinanderfolgenden Quartalen ohne Wachstum und einer Schrumpfung des BIP um 0,9 Prozent insgesamt ist nicht erkennbar, dass die Konjunktur wieder anzieht. Ganz im Gegenteil weisen alle Frühindikatoren noch deutlicher als in den vorangegangenen Quartalen in Richtung einer weiteren Schrumpfung – und das, obwohl die Wirtschaft immer weniger von den Folgen der Corona-Krise und des Ukraine-Krieges beeinträchtigt ist.
Die von einer gedämpften Nachfrage ausgehende konjunkturelle Schwäche wird überlagert von der Produktionsschrumpfung und der geschwächten Investitionsbereitschaft, die vor allem von den energieintensiven Industrien ausgeht. Die Deindustrialisierung beginnt der konjunkturellen Entwicklung ihren Stempel aufzudrücken und den Trend zu prägen. Statt Wachstumsphasen, in denen sich die Wirtschaft, wenn auch schleppend, von Einbrüchen wie dem Platzen der Dotcom-Blase nach 2000 oder der Finanzkrise 2008 wieder berappelt und auf das Vorkrisenniveau zurückkehrt, droht nach den wirtschaftlichen Einbrüchen durch Corona-Krise und Ukraine-Krieg nun, dass das Vorkrisenniveau nicht mehr überschritten wird und eine langanhaltende Phase mit kurzatmigen Wechseln zwischen Rezession, Stagnation und Wachstum bevorsteht.
Der langjährige und seit einigen Jahren obendrein dynamischere Anstieg der Energiekosten, der durch den Ukraine-Krieg vorübergehend sogar verschärft wurde, hat nicht nur schleichend in die Deindustrialisierung und in eine gesamtwirtschaftliche Stagnation geführt. Inzwischen ist ein Ausmaß erreicht, das nicht nur den privaten Konsum und damit die Konjunktur stark beeinträchtigt, sondern sogar einen von den energieintensiven Industrien ausgehenden Absturz auslösen kann. Das will man jedoch unbedingt verhindern, denn dies könnte negativ auf die Klimapolitik zurückstrahlen.
Brücke in die Deindustrialisierung
Um dem entgegenzuwirken, hatte die Bundesregierung mit der Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli 2022 reagiert. Auf einen Schlag wurde die Stromrechnung der privaten Verbraucher und der Unternehmen um etwa 30 Milliarden Euro jährlich reduziert. Im Zuge des Ukrainekrieges folgte die Schaffung des 200 Milliarden umfassenden „Klima- und Transformationsfonds“, der durch die Umwidmung nicht verwendeter Mittel zur Bekämpfung der Corona-Krise um weitere 60 Milliarden Euro aufgestockt wurde und insbesondere zur Energiekostensenkung eingesetzt wird.
Auch die nun von Habeck mit einem Eckpunktepapier ins Spiel gebrachte Deckelung des Strompreises für energieintensive Industriezweige auf 6 Cent pro Kilowattstunde soll daraus finanziert werden und bis zum Jahr 2030 geschätzte 30 Milliarden kosten. Mittels Subventionen soll vermeintlich „eine Brücke“ geschlagen werden, die – seiner gebetsmühlenhaft wiederholten These zufolge – „dann in eine Zukunft mit niedrigen erneuerbaren Strompreisen und ohne Subventionen“ führen werde, so Habeck.
Damit geriert er sich als Retter der Industrie, obwohl es ihm lediglich darum geht, den aus dem Lot geratenen und seit Jahrzehnten vollführten energiepolitischen Seiltanz neu auszutarieren. So soll vermieden werden, dass von der energieintensiven Industrie ein abrupter wirtschaftlicher Absturz ausgeht. Die unvermeidbare Deindustrialisierung soll stattdessen schleichend und möglichst geräuschlos mit den dafür erforderlichen Subventionen voranschreiten.
Es ist eine mit Subventionen versilberte Brücke in die Deindustrialisierung, die die Industrie hinnimmt, weil sie den klimapolitischen Konsens in Deutschland mitträgt. Unter dieser Voraussetzung fällt es nun auch der Bundesvorsitzenden der Grünen, Ricarda Lang, leicht, sich ausgerechnet für die energieintensive Industrie zu erwärmen, die zu allem Überfluss noch immer enorme Mengen CO2 emittiert. Sie will einen günstigen Industriestrompreis. Die dazu erforderlichen Subventionen sollen im Rahmen einer „neuen Investitionsagenda für Deutschland“ fließen.
Unter den Prämissen der ökologischen Klimapolitik sind die energieintensiven Industrien und die damit verbundenen vergleichsweise gutbezahlten Industriejobs nicht zu retten. Die nun einsetzende Debatte über das Für und Wider von Strompreissubventionen droht wieder mal am eigentlichen Problem vorbeizugehen. Denn die wohlstandsvernichtende Deindustrialisierung wird wohl nicht zum Anlass genommen, um diese Klimapolitik kritisch zu hinterfragen.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.