Der fette Karpfen entbehrt jedes Glamour-Faktors, aber von Umwelt- und Tierschützern wird sein Verzehr empfohlen.
Wenn wir als Kinder mit unseren Eltern vom Rhein unterwegs in den Urlaub nach Italien waren, machten wir immer Station in Franken, genauer gesagt im Aischgrund zwischen Würzburg und Nürnberg, wo mein Vater zur Mittagsstunde einen Brauereigasthof ansteuerte, der allerlei Karpfen-Gerichte auf der Speisekarte führte – der Aischgrund ist bekannt für die vielleicht besten Spiegelkarpfen des Landes. Er bestellte sich immer halben Karpfen blau, meine Mutter, so glaube ich mich zu erinnern, ein gebackenes Karpfenfilet, während wir Kinder Schnitzel mit Pommes oder Rumpsteak mit Kräuterbutter favorisierten. Uns ekelte es ein wenig vor der großen, den Tellerrand überlappenden Fischhälfte mit viel schwabbeligem Fett auf den Rippen und einem Haufen Haut und Gräten nach vollendeter Mahlzeit.
Karpfen ist so etwas wie der deutsche Michel unter den Speisefischen. Teilnahmslos dümpelt er in seinem von Menschen geschaffenen Teich-Habitat, genießt die Gefangenschaft und ernährt sich ökologisch korrekt vor allem vegetarisch – von Pflanzen, Algen sowie ein paar Bodentieren. Wenn seine Zeit gekommen ist und das Wasser im Teich abgelassen wird, lässt er sich wehrlos aufsammeln. Bei Umwelt- und Tierschützern genießt der Fisch aufgrund seiner Friedfertigkeit und nachhaltigen Lebensführung einen Ruf wie Donnerhall. Die wackeren Ökokämpfer von Greenpeace lehnen den Verzehr insbesondere wild gefangener Speisefische ab und lassen nur wenige Ausnahmen gelten. Die Weltmeere seien ausgeplündert, überfischt, manche Fischarten stünden kurz vor dem Aussterben. Besserung sei nicht in Sicht.
„Uneingeschränkt empfehlenswert ist aus Greenpeace-Sicht nur der Verzehr von Karpfen“, heißt es auf der Webseite der Organisation. Thunfisch, Hering und Kabeljau respektive Dorsch sollte hingegen nur aus bestimmten Gebieten stammen und mit ganz bestimmten, umweltverträglichen Methoden gefangen worden sein, heißt es weiter – Supermarktprodukte erfüllten diese Standards häufig nicht. Ganz verzichten solle man auf Aal, Seezunge, der aus Hai zubereiteten Schillerlocke, Krebsscheren und Nordseekrabben.
Mythos von den leergefischten Meeren
Ins gleiche Horn stößt der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Aktuell seien 34 Prozent der weltweiten Fischbestände überfischt. Weitere 60 Prozent würden bis an die biologischen Grenzen ausgebeutet und stünden „kurz vor einer Überfischung“. „Reduzieren Sie ihren Fischkonsum und testen Sie pflanzliche Alternativprodukte. Fisch auf dem Teller muss eine Delikatesse sein“, appelliert der BUND an die Konsumenten.
„Fisch müsse wieder zur Delikatesse werden“, fordert der BUND. Doch eines sollte man dabei nicht vergessen: Für Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen vor allem in weniger entwickelten Ländern stellen Fisch und Meeresfrüchte inklusive Algen immer noch die wichtigste, billigste und infolge des Proteinreichtums dieser Lebensmittel auch gesündeste Nahrungsgrundlage dar.
Doch wie schlecht steht es wirklich um die einst als unerschöpflich geltenden Fischgründe der Ozeane, die rund zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken? Verlässliche Zahlen für den Zustand der Weltfischbestände werden regelmäßig von der Welternährungsorganisation FAO erhoben und veröffentlicht. Nach dem 2022 erschienenen, neuesten Bericht der FAO befinden sich 35,4 Prozent der etwa 450 marinen Fischbestände bzw. Fischereien, über die ausreichende Informationen vorliegen, im roten Bereich. Sie sind kollabiert, überfischt oder erholen sich gerade. Sie werden derzeit nicht nachhaltig genutzt. Weitere 57,3 Prozent sind maximal, aber nachhaltig genutzt, und nur 7,2 Prozent haben noch Entwicklungsmöglichkeiten, sie gelten als „unternutzt“.
„Einer der beliebtesten Mythen im Zusammenhang mit der Nutzung von Meeresfisch ist der von den leergefischten Meeren“, urteilt das Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig, eine Bundesbehörde im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Umweltverbände schlügen häufig den „maximal genutzten Bereich“ dem roten, also übernutzten Bereich zu, und formulierten dann zum Beispiel, dass „über 90 Prozent der marinen Bestände bis ans Limit genutzt oder bereits kollabiert“ seien. Diese Formulierung suggeriere, dass bis zur Grenze genutzte Bestände in naher Zukunft kollabieren würden – eine Fehlinterpretation.
Wenn die Küche tagelang nach Fisch müffelt
Tatsächlich ist, entsprechend internationalen Abkommen, die „maximale Nutzung“ die Zielvorstellung des Fischereimanagements. Zwei Drittel der marinen Bestände finden sich also derzeit im grünen Bereich und der Anteil der optimal genutzten Bestände ist laut Thünen-Institut über viele Jahre stabil geblieben. Fazit des Instituts: „Der Zustand der marinen Ressourcen ist viel besser als die meisten Menschen glauben, auch wenn wir vom Ziel einer nachhaltigen Nutzung aller Meeresfischbestände noch immer weit entfernt sind.“
So weit, so erfreulich. Es besteht also wohl auch weiterhin kein Grund, in Zukunft nur noch Karpfen zu servieren, wenn man Lust auf Fisch verspürt. Wobei Karpfen sicher nicht so fein im Geschmack ist wie viele Fluss- oder Seefische, Schalen- und Krustentiere. Doch er kann auf dem Teller durchaus eine gute Figur machen, etwa als Karpfen blau mit Dampfkartoffel und Sahnemeerrettich oder als gebackener Karpfen mit Kartoffel- oder Kartoffel-Feldsalat. Zu Hause sollte man eher zu Filets greifen als zu einem halben oder ganzen Tier, die machen weniger Arbeit und sind auch nicht dazu angetan, Kinder zu erschrecken. Solche Filets werden in der Regel paniert oder in einem Bierteig gewälzt und in heißem Fett ausgebacken. Dass hernach die Küche ein paar Tage lang nach Fisch müffelt, muss man in Kauf nehmen. Olfaktorisch weniger auffällig, aber ebenfalls schmackhaft, sind geräucherter Karpfen und Spezialitäten wie Karpfenrogen oder jene Karpfenpaste, wie sie eines der bekanntesten Fischrestaurants in Franken zubereitet.
Auch ich selbst habe die alte Tradition meines Vaters wieder aufgenommen und lege bei der Durchreise durch Franken stets eine Karpfenetappe ein. Zum halben Karpfen blau kann ich mich aber bis heute nicht durchringen. Auch nicht am Aschermittwoch, wo Karpfen vor allem in Süddeutschland traditionellerweise die Krapfen ablöst.
Eine regionale Alternative ist Waller, also Wels, in einem Wurzelsud gekocht, serviert mit Senfsauce. Wels gilt als der größte Süßwasserfisch Europas, wobei Exemplaren von mehr als 120 cm Länge zuweilen ein traniger Geschmack nachgesagt wird. In gut sortierten Fischgeschäften kann man schon mal einen wild gefangenen Wels ergattern. Dann sollte man nicht zögern, zumal Waller fast grätenlos und damit kindersicher ist. Dass Riesenwelse schon mal Badende attackieren, ist bekannt. Dass sie Kinder und Hunde fressen, darf man dagegen getrost ins Reich der Mythen verweisen.