Peter Grimm / 23.08.2019 / 12:00 / Foto: Government of UK / 27 / Seite ausdrucken

Brexit salomonisch: DDR-Klausel für Boris Johnson?

Boris Johnson blitzt gerade mit seiner Forderung nach einer neuen Regelung zur Vermeidung inneririscher Grenzkontrollen bei der EU ab. Die Brüsseler Spitzen bestehen auf der mit Johnsons Vorgängerin ausgehandelten Backstop-Lösung, nach der die Zollgrenze dadurch obsolet wird, dass sich das Vereinigte Königreich allen Regeln des EU-Binnenmarkts unterwirft. Für Johnson und seine Unterstützer ist das ein nicht hinnehmbarer Verzicht auf eigene Souveränität. In Berlin, Brüssel und Paris wird aber so getan, als sei der Backstop alternativlos. Dabei gibt es einen Lösungsansatz, den die Europäische Gemeinschaft einst praktiziert hatte. Man muss nur vom Umgang mit der DDR lernen.

Vor zwei Jahren, also zu einer Zeit, da noch niemand wirklich an einen „harten Brexit“ glauben konnte, lief eine Meldung durch die Presse, die mancher Leser wahrscheinlich nur für den Ausdruck einer netten Provokation hielt. Da hieß es:

„Die irische Regierung dringt bei den anstehenden Brexit-Gesprächen auf eine „DDR-Klausel“ im Austrittsabkommen mit Großbritannien. Das bestätigte ein irischer Diplomat am Freitag in Brüssel. Irland will sich damit für den Fall einer Wiedervereinigung mit dem britischen Landesteil Nordirland eine automatische EU-Mitgliedschaft sichern.

Der Begriff „DDR-Klausel“ ist eine Anspielung auf die Aufnahme Ostdeutschlands als Teil der Bundesrepublik in die EG bei der Deutschen Wiedervereinigung ohne offizielles Aufnahmeverfahren. Das Thema könnte in London für Verstimmung sorgen. Der Diplomat betonte, es gehe Dublin nicht um eine rasche Wiedervereinigung Irlands. Dafür wäre ein Referendum nötig, das London einberufen müsste, wenn es Aussicht auf Erfolg hätte. Die „DDR-Klausel“ solle in das Protokoll des EU-Sondergipfels zum Brexit an diesem Samstag aufgenommen werden, nicht aber in die offiziellen Gipfelbeschlüsse.“

Hinter der Grenze muss kein Ausland beginnen

Darüber, wie wahrscheinlich eine Wiedervereinigung Irlands ist, soll hier nicht spekuliert werden. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit von Wiedervereinigungen haben sich schließlich viele kluge Menschen schon vor Jahrzehnten vertan. Doch die Idee, sich vom Umgang der EG mit der DDR inspirieren zu lassen, wenn es um den Umgang der EU mit Nordirland geht, ist auch ohne jede Wiedervereinigungsperspektive reizvoll. Denn eine „DDR-Klausel“ gab es auch schon viele, viele Jahre vor dem Sturz der SED-Herrschaft. Die DDR hatte einen Sonderstatus, mit dem sie quasi das heimliche 13. Mitglied in dem damaligen Zwölferclub war.

Als innerhalb der EG die Zollschranken fielen, stand die Bundesrepublik vor einem Problem. Sie wollte die DDR nicht zum Zollausland erklären. Offiziell sah sich jede Bundesregierung an das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes gebunden. Da konnte man den SED-Staat ohnehin nicht als Ausland und vollwertigen eigenen Staat anerkennen. Auch die Verträge, die es mit Ost-Berlin über den innerdeutschen Handel gab, umschifften jedwede staatsrechtliche Anerkennung. Um Deutschland aus dieser Bredouille zu befreien, akzeptierten die anderen EG-Mitgliedsstaaten jahrzehntelang, dass Bonn die Grenze zur DDR nicht als Grenze behandeln müsse. Eine EG-Außengrenze war die innerdeutsche Teilungslinie nur für die anderen EG-Staaten. Der Spiegel beschreibt die Situation 1976 so:

„Die ostdeutsche Republik partizipiert als stiller Teilhaber an den Vorzügen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ohne ihren eigenen Haushalt mit irgendwelchen Kosten für die EG belasten zu müssen.

Die lukrative stille Teilhaberschaft der DDR am westlichen Wirtschaftsverbund ist das letzte Relikt einer gesamtdeutschen Illusion: Der innerdeutsche Handel wurde 1951 im Interzonenhandelsabkommen geregelt, dessen 1960 revidierte Fassung bis heute in Kraft ist. Um den Bonner Alleinvertretungsanspruch für Gesamt-Deutschland nicht zu gefährden, setzte die Bundesregierung bei Gründung der damals, 1957, noch EWG genannten Gemeinschaft für den deutsch-deutschen Warenaustausch einen Sonderstatus durch. In einem Zusatzprotokoll zu den römischen Gründungsverträgen ließ sie festschreiben, daß die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht den Vorschriften gegenüber Nichtmitgliedern der Gemeinschaft unterliegen, sondern weiterhin als Binnenhandel gelten.“

Grenzen mit Protokoll-Notiz verschwinden lassen?

Eine Protokollnotiz reicht also bei entsprechendem Willen, um eine Zollgrenze für ein Mitgliedsland verschwinden zu lassen? Das könnte doch ein Vorbild für eine irische Brexit-Lösung sein. Warum sollte sich nicht auch für die Grenze zwischen EU-Irland und UK-Irland nach diesem Modell weitgehend auflösen lassen? Wenn Irland Nordirland mit Brüsseler Segen wie Zollinland behandeln dürfte, müsste der irische Zoll nichts kontrollieren. 

Bezüglich illegaler Einwanderung dürfte sich die irische Grenze auch zu keinem Fall für Frontex entwickeln, so dass man auf diese Weise auch auf Pass- und Personenkontrollen verzichten könnte. Wenn London nun seinerseits einen Verzicht auf Zollkontrollen gegenüber Irland erklärt und beide Seiten jeweils eine weitgehende Personenfreizügigkeit für die Iren von der jeweils anderen Seite der Grenze verfügen, könnte sich das irische Grenzproblem vorläufig so regeln lassen, dass es keiner Grenzkontrollen bedarf und das Vereinigte Königreich trotzdem nicht an Souveränitätsmangel leiden muss.

Die SED-Führung, sonst um jede Art staatsrechtlicher Anerkennung und Abgrenzung zum Westen bemüht, genoss die Vorzüge dieser einseitig offenen Grenze und wollte daran nichts ändern. In Irland geht es hingegen darum, eine beidseitig offene Grenze auch frei von Grenz- und Zollkontrollen zu halten. Insofern verbieten sich natürlich DDR-Vergleiche. Wohl aber zeigt das Beispiel, dass man am Anfang der europäischen Einigung noch zu pragmatischen Lösungen heikler Statusfragen in der Lage war. Irgendwann muss diese Fähigkeit in Brüssel verloren gegangen sein. 

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J.P. Neumann / 23.08.2019

Der Vergleich hinkt. Wie wollen die Briten denn eine Zollgrenze ohne Grenzkontrolle organisieren?  In der DDR ging das doch nur deshalb, weil die Mauer als physische Barriere da war.  Der Zug von Wolfsburg nach Zwickau mit Motoren und Autoteilen musste nicht kontrolliert werden.  Der war sozusagen amtliche Handlung.  Da brauchte es keinen Zöllner.  Ganz anders sieht die Sache aus wenn ein Autotransporter aus China in Belfast anlegt und dann nach Antwerpen weiterfährt.  In dem Moment ist die EU zollfreies britisches Hoheitsgebiet (für China!) und selbst erledigt. Das kann und wird die EU nicht riskieren.  Wozu auch, by the way.

Wolfgang Kaufmann / 23.08.2019

Wir brauchen keinen Kompromiss. Wenn das Vereinigte Königreich aus der EU austritt, treten erst mal alle Landesteile aus. Es können doch nicht zwei Millionen nordirische Schafe und ähnlich viele Krawallbrüder den 500 Millionen Europäern die Agenda diktieren. – Ob ein unbedeutendes Fitzelchen wie Kleinulster dann Großbritannien verlassen will, ist eine völlig andere Frage. Als Bauern werden sie immer für die Seite votieren, die ihnen die höheren Subventionen verspricht. – Der POTUS kann ja die Insel als 52. Staat für die USA kaufen; amerikanische Firmen sind ja sowieso schon da und profitieren von einem unterirdischen Niveau bei Datenschutz und Steuergesetzen.

Albert Sommer / 23.08.2019

Der deutsche Export wird der Erste sein, der den “harten Brexit” zu spüren bekommt. Diese selbsternannte kinderlose, sozialistische Mutti in Berlin, die mit sammt ihrem schlechten Witz von einem Wirtschaftsminister-Double in ihrer schier grenzenlosen Dummheit immer noch glaubt,  die Briten gemeinsam mit (den seit einhundert Jahren gegenüber Deutschland falsch spielenden) Franzosen erziehen zu können, wird es frühestens dann schnallen wenn es zu spät ist.  Und auch dann traue ich Merkel nicht zu das sie es wirklich kapiert!

Rudolf George / 23.08.2019

Unsere heutige Politelite ist schon mit einfachen Fragen wie den Bestandteilen von Batterien oder den physikalischen Grundgesetzen überfordert. Eine geschickte Vertragsregelung ist da einfach zu viel verlangt. Zumal wenn jedweder Wille fehlt, eine Lösung zu finden, die die Briten nicht erniedrigt. Die EU erinnert mich an ein trotziges Kind, das unbedingt das Spielzeug des Kameraden zerstören muss, selbst wenn dabei auch das eigene kaputt geht.

Gereon Stupp / 23.08.2019

Die deutsch-deutsche Grenze war wohl neben der am 38. Breitengrad in Korea die am stärksten gesicherte Grenze, die diese Welt jemals gesehen hat. Und das Volumen des innerdeutschen Handels dürfte innerhalb der EWG eher zu vernachlässigen gewesen sein. Solange die Provinz Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs ist, kann eine Außengrenze zur Republik Irland nicht verhindert werden. Konsequent wäre es gewesen, wenn die brit. Regierung zusammen mit ihrer Austrittserklärung auch das Karfreitagsabkommen gekündigt hätte. Es gibt keine Grenzen ohne Grenzen, ebensowenig wie man schwanger und gleichzeitig nicht schwanger sein kann. Seit 2½ Jahren schwurbeln nun alle darum herum ohne einer etwaigen Lösung auch nur einen Millimeter näher gekommen zu sein. Wie auch, es gibt keine.

Sebastian Gumbach / 23.08.2019

Das wäre ja pragmatisch. Von daher kann man davon ausgehen, dass die EU sich darauf sicher nicht einlassen würde. Nein, der EU geht es um etwas ganz anderes: Der Brexit DARF kein Erfolg werden, weil das ja Nachahmer auf den Plan rufen könnte. Also macht man es dem Vereinigren Königreich so schwer wie nur irgend möglich, damit man dort dann irgendwann entnervt aufgibt. Wobei ich denke, dass Johnson das durchziehen wird.

Justin Theim / 23.08.2019

Entschuldigung, aber die Hohlköpfe in der EU, in Deutschland und Frankreich merken gar nicht, dass sie soeben von Johnson vorgeführt werden. Er streckt (symbolisch) die Hand aus, wohl wissend, dass die Brüsseler Bürokraten viel zu vernagelt sind und viel zu viel Angst vor der Vorbild-Wirkung eines erfolgreichen Brexit haben, um von ihrer Forderung nach einer Backstop-Regelung Abstand zu nehmen. Dann kommt es eben zu einem harten, einem no deal-Brexit, an dem dann erkennbar die EU Schuld hat, jedenfalls nicht Johnson. Und Trump wird mit den Briten genüsslich ein separates Handelsabkommen abschließen, und wenn die EU dann mault, werden die US-Einfuhrzölle für sie erhöht. So einfach ist das. Das zeigt wieder einmal, dass linke Ideologie den Intelligenzquotienten gewaltig absenkt.

Max Wedell / 23.08.2019

Kolonnen die Online-Leserkommentare bevölkernder britenhaßerfüllter EU-Fans lassen sich tagein tagaus darüber aus, wie unverschämt doch die Rosinenpickerei der Briten sei. Man wolle draußen sein, aber keine EU-Zollgrenze haben, pfffft. Jetzt erfahre ich von Peter Grimm, daß es genau so einen Fall schonmal gab, und auch noch ausgerechnet in Deutschland! Ist ja wirklich interessant. Hoffentlich erfahren das die vielen menschlichen EU-Fan-Bots nicht, sie könnten sonst ins Stottern kommen. - Warum für die EU eine solche Lösung nicht in Frage kommt, darüber kann man nur spekulieren. Meine Vermutung: Im Gegensatz zur damaligen DDR-Situation haben wir hier einen Scheidungsfall. Die EU-Seite ist der verschmähte Liebhaber. Bei solch einer tragischen Figur bauen sich natürlich gewisse psychische Befindlichkeiten auf. Verschmähte tendieren dazu, einen Haß auf den Verschmäher zu entwickeln. In diesem Fall ein Haß im Kollektiv, der auch bei den EU-Bots deutlich spürbar ist. - Die offizielle EU-Position ist ohnehin widersprüchlich. Da behauptet die EU, vom verhandelten Backstop könne sie nicht abrücken, weil es für die EU oberste Priorität hat, in Irland keine harte Grenze entstehen zu lassen. Das Festhalten am verhandelten Backstop wird aber erst recht zur harten Grenze führen, nämlich durch den dann erfolgenden No-Deal-Brexit. Man kann deutlich erkennen, daß die Behauptung der EU, das Vermeiden einer harten Grenze hätte oberste Priorität für sie, reine Propaganda ist. Wäre das anders, würde sie sich nicht zurücklehnen und auf Vorschläge aus GB warten, sondern schon seit Wochen jede freie Minute am Verhandlungstisch sitzen. - Vielen Dank, Peter Grimm, für diesen Artikel!

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