Horkheimer und Adorno schrieben in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, dass der „bürgerliche Antisemitismus“ einen besonderen „ökonomischen“ Hintergrund habe, nämlich „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“. Als Funktionär dieser Herrschaftsklasse wirkt dabei der „Fabrikant“, der „wagte und [ein]strich […] wie Handelsherr und Bankier“. Die Funktion des „Sündenbocks“ nehmen jedoch die „Juden“ ein, denen als Träger „kapitalistische[r] Existenzformen“ und „Kolonisatoren des Fortschrittes“ das „ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet“ wird.
Aktuell kommt diese spezifische Variante des Antisemitismus wieder in den Hygiene-Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen auf. Unter die Demonstranten mischen sich nämlich auch solch ewiggestrige Epigonen, die in einer Konstruktion einer globalen Corona- und Impfverschwörung, in deren Hintergrund finstere Mächte wie die WHO, Bill Gates oder Soros wirken, den direkten Rückgriff auf Stereotype des „bürgerlichen Antisemitismus“ im Sinne von Horkheimer und Adorno vollführen.
Teile der „Corona-Rebellen“ identifizieren sich selbst dabei jedoch nicht als Antisemiten, sondern als die „neuen Juden“ (sic!). So berichtete Benjamin Weinthal in der Jerusalem Post am 25. April 2020 über eine Demonstration in Wien gegen die österreichischen Corona-Einschränkungen. Hier riefen die Protestierenden seinerzeit: „Wir sind die Juden.“ Im baden-württembergischen Freiburg trugen Hygiene-Demonstranten „einen ‚Gelben Stern‘ mit der Aufschrift ‚Impfgegner‘“ und sogar ein überdimensioniertes Schild mit der Aufschrift „Impfen macht frei“, die dabei „grafisch der Aufschrift nachempfunden war, wie sie einst am Eingangstor des Konzentrationslagers Auschwitz zu sehen war“, wie die Badische Zeitung berichtete (ein Bild dazu findet man hier).
„Antisemitische Vorstellungen“ auf Bremer Hygienedemo
Auch die „Hochburg des modernen Antisemitismus“ (O-Ton Benjamin Weinthal) will dem in nichts nachstehen und geht dabei wieder einmal federführend voran. Und dies in doppelter Hinsicht: Von rechts wie links. So ruft die Bremer „Basisgruppe Antifaschismus“ gemeinsam mit der Antifa-Webplattform „end of road“ aktuell „zu dezentralen Aktionen gegen die ‚Corona-Rebellen‘“ auf. Unterstützung erhalten sie dabei vom „AfD Watch Bremen“, der die bremischen „Corona-Rebellen“ in einem Bericht vom 16. Mai 2020 seziert.
Im Aufruf (war bei „end of road“ hier zu finden, siehe Anmerkung am Ende des Textes) selbst behaupten die Antifaschisten, dass die Hygiene-Demos „einen klassenübergreifenden Zusammenschluss von Liberalen bis hin zu Neonazis“ bilden würden, bei denen „Verschwörungstheorien […] gerade regelrecht Hochkonjunktur“ hätten, die auch „antisemitische Vorstellung[en]“ reproduzierten. Die Bremer Antifa-Plattform „AfD Watch Bremen“ bestätigt diese antifaschistische Sicht in ihrem Bericht vom 16. Mai 2020:
„Schon nach wenigen Tagen wurden Personen, die rechte und antisemitische Positionen kritisch sahen oder eine andere Auffassung als die AdministratorInnen hatten, aus dem Chat [von Widerstand Bremen 2020] geworfen. Unter den Postings wurde beispielsweise die Fotografie eines gelben Davidsterns verlinkt, wie ihn JüdInnen im NS-Regime zu tragen hatten. Diese Fotografie wurde um den Text ‚Nicht geimpft‘ ergänzt. Eine antisemitische Verharmlosung der Shoa, die in der Telegram-Gruppe von ‚Widerstand Bremen 2020‘ von Anfang an normalisiert war.“
Mag man der „Basisgruppe Antifaschismus“, „end of road“ und dem „AfD Watch Bremen“, die allesamt ihren Sitz im „Infoladen Bremen“ haben, dem Hotspot der Bremer Antifa, zu recht attestieren, hier vorgeblich gegen eine widerliche Melange von Holocaust-Verharmlosern und bürgerlichen Antisemiten in Bremen zu demonstrieren, bleiben sie doch auf dem linken Auge blind. Denn in ihrem oben referenzierten Aufruf reproduzieren diese linken beziehungsweise dezidiert antifaschistischen Gegner der „Corona-Rebellen“ dann bezeichnenderweise selbst auch Antisemitismus, wenn auch antikapitalistisch verbrämt.
Bürgerlicher Antisemitismus im antikapitalistischen Gewand
Hier schälen sich im Folgenden Motive eines codierten Antisemitismus heraus, der vorgibt, dezidiert gegen Judenhass zu sein, dabei jedoch selbst hinlänglich antisemitische Klischees verschleiert bedient. So in der Konstitution einer Konspiration des „bösen“ Kapitals, das personifiziert in Industrieverbänden und mittels „der Presse“ die „Corona-Rebellen“ für ihre Zwecke instrumentalisiert. Es ist die verschwörungstheoretische Erzählung vom allmächtigen Kapitalisten, welcher, mit Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen, die vom „Kapitalismus Deklassierten“ einzig zu seinem Nutzen missbraucht. „Bürgerlicher Antisemitismus“ im antikapitalistischen Gewand der Bremer Antifa.
Doch der Reihe nach. Die „Basisgruppe Antifaschismus“ und „end of road“ werfen Teilen der bremischen „Corona-Rebellen“ vor, dass diese vor allem „die antisemitische Vorstellung [verbindet], dass eine bestimmte Gruppe, die kosmopolitisch und global vernetzt ist (WHO, Wissenschaft und so weiter), die weltweite Pandemie steuert und gezielt einsetzt“. Dann behaupten die Antifaschisten aber im Gegenzug – und hier zeigt sich die Affinität der Bremer Antifa bezüglich antisemitischer Klischeebildung! –, dass „die selbsternannten ‚Rebellen‘ faktisch die Rückendeckung von einem Bündnis aus Industrieverbänden und der Springer-Presse bekommen (sic!)“.
Dem antisemitischen Stereotyp wird eine Konspiration einer vernetzten, übermächtigen Gruppe von Kapitalisten gegenübergestellt. Der Kapitalismus wird dabei personalisiert in „den Industrieverbänden“ und der „Springer-Presse“, und der Schuldige somit in diesen „Kapitalisten“ gesucht, die überdies gezielt via „Springer-Presse“ die öffentliche Stimmung und damit die „Corona-Rebellen“ beeinflussen. Thomas Schmidinger umreißt diese spezifische, weil strukturelle Ausformung des Judenhasses in seinem Artikel „Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik“ dergestalt:
„Die offensichtlichen Widersprüche des Kapitalismus werden dann im Gegensatz zur analytischen Kritik eines Karl Marx nicht auf ein System als solches zurückgeführt, sondern auf eine böse Macht, die dieses System beherrschen soll, die konkret für alle Schändlichkeiten des Kapitalismus verantwortlich zu machen ist. […] Insbesondere die Personifizierung des Kapitalismus führt dazu, Schuldige ausmachen zu wollen, statt das System einer radikalen Kritik zu unterziehen. […] Daraus folgt, dass in der politischen Praxis nicht der Kapitalismus, sondern die Kapitalisten bekämpft werden. In diesem Weltbild steht einer „bösen“ KapitalistInnenklasse eine „gute“ ArbeiterInnenklasse gegenüber […] [Dass] der Kapitalismus also nichts anderes wäre als eine Verschwörung bösartiger Reicher – [dies] ist ein alter Mythos breiter Teile der Linken.“
Demonstranten „Handlanger für Kapital und Wirtschaftsstandort“
Ist das, was die „Basisgruppe Antifaschismus“, „end of road“ und sie unterstützende Gruppierungen wie der „AfD Watch Bremen“ hier vorexerzieren, so nicht eigentlich bereits struktureller Antisemitismus? Die Personifizierung der „Kapitalisten“ in der „Springer-Presse“ und den „Industrieverbänden“, die als „böse Macht“ das System „Kapitalismus“ beherrschen?
Um diese Fragen zu beantworten, weiter im Aufruf. Hier diagnostizieren die Bremer Antifaschisten Teilen der bremischen Gegner der Corona-Maßnahmen, dass diese behaupten, „einzelne besonders ‚gierige‘ würden die entscheidenden Ämter in der Regierung, den Medien und der Wirtschaft der Welt kontrollieren“. Dann iterieren (wiederholen, Anm. d. Red.) die Antifaschisten jedoch selbst erneut – und hier wird es wiederum verschwörungstheoretisch –, dass die „vermeintlichen ‚Rebellen‘ […] vor allem eins [seien]: nützliche Handlanger*innen für Kapital und Wirtschaftsstandort (sic!)“.
Das heißt, es wird dem antisemitischen Stereotyp einer „gierigen“, global agierenden Lobby mit dem Klischee der Allmacht von Kapital und Wirtschaft, einer „Verschwörung bösartiger Reicher“, geantwortet: Die „reichen Bonzen“, das heißt die „bösen“ Kapitalisten, die von der Arbeit ihrer „Handlanger*innen“, den „guten“ Arbeitern, leben und diese als „Corona-Rebellen“ zu ihrem Nutzen instrumentalisieren. Immer mit dabei „die Springer-Presse“ als Manipulationsmedium sowie Personifizierung des „Kapitals“.
Was sich hier folglich zeigt, ist also ein bekannter struktureller Antisemitismus, den Globalisierungskritiker wie es die „Basisgruppe Antifaschismus“ und „end of road“ bekanntermaßen sind, offensichtlich wie augenscheinlich pflegen. Bereits im Jahr 1996 schrieben Andreas Benl und Stefan Vogt in der ideologiekritischen Bahamas zu dieser modernen Ausprägung des Antisemitismus:
„Was hier als ‚Finanzkapital‘ und in dem Maße allein als ‚Kapitalismus‘ firmiert und wie seinem abgespalteten siamesischen Zwillingsbruder ‚produktive Arbeit‘ Natürlichkeit attestiert wird, deckt sich in auffälliger Weise mit den Attributen, die der Antisemitismus den Juden zuschreibt. Tatsächlich werden im modernen Antisemitismus die Juden mit dem als abstrakt begriffenen kapitalistischen Verwertungsprozeß und schließlich mit ‚dem Kapital‘ identifiziert. Moderner Antisemitismus ist also eine Konsequenz warenförmigen Denkens und damit die affirmative Rebellion gegen den Kapitalismus, die genuine Verschiebungsleistung des kapitalen Subjekts.“
Antifa-Gruppen ignorieren Anfragen zu ihrem Antisemitismus
Dieser Aufruf der Bremer Antifa erscheint übrigens umso überraschender, wenn man die Erklärung zum strukturellen Antisemitismus ihrer antifaschistischen Brüder und Schwestern aus Berlin vom 15. Mai 2020 reflektiert. Dort kritisiert die Antifa Berlin nämlich denjenigen, der „hinter strukturellen Verhältnissen […] mächtige Eliten wittert, die (am besten noch weltweit) geheime Absprächen träfen, um das unschuldige Volk hinters Licht zu führen“. Und weiter:
„Strukturell ist die Verschwörungstheorie Ausdruck des antisemitischen Ressentiments. Der Glaube, im Geheimen wirke eine mächtige Gruppe finsterer Verschwörer, ist historisch aufs Engste mit der Vorstellung verwoben, Jüdinnen und Juden seien diese Gruppe. Sie dienen, wie eine Alltagsreligion dazu, die eigene Ohnmacht zu überwinden. Sei es gegenüber einem omnipotenten Staat, einer globalen Pandemie oder einem, unser gesamtes Leben durchdringenden Kapitalismus. Außerdem bieten sie ein greifbares Feindbild, dass in einer komplexen Welt schwer zu finden ist.“
Hätten die „Basisgruppe Antifaschismus“ und „end of road“ diese Erklärung ihrer Berliner Freunde doch einmal gelesen; und wenn sie es haben, auch richtig verstanden. Und noch besser wäre es gewesen, die beiden Gruppierungen hätten nicht einfach den Aufruf „Der Verschwörung von Faschisten und Kapital entgegentreten“ der NIKA-Kampagne (NIKA steht für „Nationalismus ist keine Alternative“) übernommen, der die Grundlage für den Bremer Appell bildete. Denn jener NIKA-Aufruf gebiert in seiner Verschwörungsfantasie den strukturellen Antisemitismus als das Gerücht über das raffende Finanzkapital.
Gerne hätte ich den Lesern von Achgut.com auch Stellungnahmen der „Basisgruppe Antifaschismus“, von „end of road“ und dem „AfD Watch Bremen“ dargeboten, doch leider haben die drei genannten Gruppen nicht auf meine jeweilige Anfrage an sie reagiert, warum sie in ihrer Auseinandersetzung mit bürgerlichen Antisemiten selbst strukturellen Antisemitismus reproduzieren. Jedoch hat meine Anfrage ihre Wirkung wohl dennoch nicht verfehlt. Denn eine Woche nach meiner Anfrage veröffentlichte die „Basisgruppe Antifaschismus“ einen Beitrag, in dem es auf einmal heißt:
„Und wir sind der Auffassung, dass, wer den Staat in seiner Kritik personalisiert, also für die ganzen Zumutungen dieser Gesellschaft einzelne Politikerinnen und Politiker verantwortlich macht, nur eine ‚gerechte Herrschaft‘ durch ‚gute Herrscher‘ einfordert. Die Vorstellung einer harmonischen Volksgemeinschaft, umtost von der stürmischen See eines globalen und gierigen Finanzkapitalismus war und ist schon immer ein rechter Mythos gewesen, der den Blick auf die wahre Spaltung der Gesellschaft als Klassengesellschaft verstellt. Mit dem Blick in die deutsche Geschichte wissen wir, inhaltlich ist hier der Weg zum Antisemitismus nicht weit.“
Die Dialektik der Bremer Corona-Demonstrationen
So haben die Bremern Antifaschisten vielleicht doch ihre Lektion über den strukturellen Antisemitismus gelernt. Denn wer im durchaus respektablen Kampf gegen bürgerliche Antisemiten selbst Stereotype des Antisemitismus hinlänglich bedient, dem sei Folgendes gesagt: Auch in der codierten und „modernisierten“ Form ebendieses strukturellen Antisemitismus bleibt Judenhass eben Judenhass. Um dies zu erkennen, müssen die Bremer Antifaschisten nicht einmal ideologiekritische Literatur konsumieren. Es reicht, genau, ein Blick auf die Erklärung der Berliner Antifa.
Wie haben es Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ geschrieben: „Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation“. Und dessen Apologeten „machen eine großartige Ideologie dazu, faseln von der Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Menschheit“. So schält sich also die Dialektik des Bremer Antisemitismus im Angesicht der Corona-Demonstrationen und Gegendemonstrationen heraus.
Während die einen also gegen eine „neue Weltordnung“ von Soros’ wie Gates’ Gnaden demonstrieren und sich dabei als die „neuen Juden“ mit „Judenstern“ identifizieren, wollen ihre antifaschistischen Gegner sich dieser vermeintlich von „Industrieverbänden“ und „Springer-Presse“ gelenkten Demonstration von „nützliche[n] Handlanger*innen“ des „Kapitals“ entgegenstellen. „Bürgerlicher Antisemitismus“ trifft auf „strukturellen Antisemitismus“. Und beide wollen in ihrem „Ritual der Zivilisation“ für die „Hochburg des modernen Antisemitismus“ doch nur die „Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Menschheit“.
Anmerkung: Die im Text referenzierte Website von „end of road“ war kurze Zeit nach meiner Anfrage nicht mehr abrufbar. Ob es einen Zusammenhang gibt, ist unklar. Mittlerweile ist sie jedoch wieder online.