Gastautor / 08.07.2022 / 13:00 / Foto: Pixabay / 39 / Seite ausdrucken

Boris gekippt: It’s the Mehrheitswahlrecht, Stupid!

Von Christoph Lemmer.

In Großbritannien passiert, was in Deutschland undenkbar ist. Ein große Gruppe der eigenen konservativen Parlamentsfraktion fordert den Rücktritt des Premierministers.

Das liegt nicht an spekulativen Dingen wie britischer Mentalität, irgendwelcher Tradition, der Queen o.ä., sondern an einer einzelnen knallharten, die Demokratie stärkenden Regel im Wahlgesetz – dem Mehrheitswahlrecht.

Es erweist sich gerade in der Krise als weise Regel und gut für die Demokratie. Deren unmittelbare und kausale Folge ist ein ausnehmend selbstbewusstes Parlament. Nirgendwo sonst hat der Volkssouverän eine derart starke Vertretung. Das britische Parlament ist damit auch das krasse Gegenteil des fetten, zahnlosen und exekutivhörigen deutschen Bundestags.

„Constituency“ statt Wahlkreis

Warum das Wahlrecht so durchschlagend wirkt, ist leicht zu verstehen. Jeder Parlamentarier im Unterhaus wurde direkt von den Bürgern in seinem Wahlkreis gewählt. Es gibt keinen anderen Weg ins Parlament als die direkte Wahl im Wahlkreis.

Darum reden britische Parlamentarier ständig von den Menschen in ihrer „Constituency“, wenn sie im Unterhaus das Wort ergreifen. Es geht immer darum, was die Wähler von diesem oder jenem Gesetzvorhaben hielten.

„Constituency“ ist ein tolles Wort. Übersetzt heißt es Wahlkreis. Aber es hat einen ganz anderen Klang. Der deutsche Wahlkreis ist nur eine fad-bürokratische territoriale Abgrenzung. Die „Constituency“ ist sprachlich mit der „Constitution“ verwandt, also der Verfassung. Die Wähler und die Verfassung sind damit real und begrifflich die alltäglich und alltäglich unübersehbare Basis der Abgeordneten.

Somit ist auch die Loyalität britischer Parlamentarier eine andere als die deutscher MdB. Sie sind von ihren Wählern direkt abhängig und damit in starker Loyalität zu den Wählern in ihrer „Constituency“.

Wähler statt Pareibürokraten

Wenn nun also der Premierminister zu allzu extravaganten Eskapaden neigt, so müssen die Abgeordneten vor allem darauf schauen, wie das in der „Constituency“ ankommen mag und was die Wähler von ihnen erwarten. Wähler erwarten in der Regel nicht tumb-linientreues Parteisoldatentum. Vielmehr dürften sie sich wünschen, ihre Vertreter täten einfach das Richtige. In Deutschland wäre das derzeit z.B., zu beschließen, die Kernkraftwerke länger laufen zu lassen.

Auch in Deutschland gibt es direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete, nämlich 299. Die direkt gewählten Abgeordneten sind damit in der hoffnungslosen Minderheit. Ihnen stehen 410 Kollegen gegenüber, die über Parteilisten ins Parlament rutschten.

Wer über die Liste Abgeordneter wird, hat andere Abhängigkeiten und Loyalitäten. Über seine Bestallung entscheidet ein Parteitag, nicht der Wähler. Er muss sich mit dem Funktionärskader seiner Partei gutstellen. Listenabgeordnete sind ihrer Partei und der Parteilinie verpflichtet. Die Wähler ihres Wahlkreises können ihnen völlig egal sein.

Und genau das macht den Unterschied. Listenabgeordnete folgen der Fraktionsdisziplin und der koalitionären Regierungslinie. Sie denken meist gar nicht nach, wie sie im Parlament abstimmen, sondern folgen einfach den Wünschen ihrer Oberen. Wer auffällt, macht sich unbeliebt.

Direktmandatare können im Zweifel auf ihre Parteien pfeifen. Manchmal müssen sie das sogar, um von ihren Wählern akzeptiert und wiedergewählt zu werden. Wenn eine Regierung Mist baut, dann spielt es eine zweitrangige Rolle, ob es die eigene oder die des anderen Lagers ist.

In den letzten Jahren ist in Deutschland viel über eine Wahlrechtsänderung diskutiert worden. Dabei ging und geht es immer nur um die Zahl der Parlamentssitze. Dabei wäre es viel wichtiger, darauf zu schauen, wie das Wahlrecht auf den Parlamentarismus und die Stärke der Demokratie wirkt.

Gelangweilte Listenparlamentarier blamieren die 1. Gewalt

Der derzeitige Vorschlag der Ampel-Fraktionen ist dabei der Gipfel der Unverfrorenheit. SPD, Grüne und FDP treiben damit nicht nur die Fixierung auf die Liste weiter voran, sondern wollen den Wählern gar vorschreiben, wen die zu wählen haben. Sollte eine Partei zu viele Direktmandate bekommen, so sollen einige davon einfach für ungültig erklärt werden und der Wähler für diese Fälle eine alternative Ersatzstimme abgeben. Das ist grotesk. Es macht aus der freien Wahl eine Karikatur.

SPD, Grüne und FDP sehen das natürlich anders, weil sie kaum Direktmandate besitzen. Sie müssten aufhören, über galaktischen Unfug zu schwadronieren und sich stattdessen aussichtsreiche Wahlreise aussuchen und darum kämpfen, dort einen Abgeordneten durchzubekommen. Das ist anstrengender, als in Parteigremien parteimodische Parteifloskeln zu verblasen.

Das derzeitige System mit seiner Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht wiederum taugt sowieso nicht mehr. Im Namen vermeintlicher Gerechtigkeit wurde es derart pervertiert, dass es den Bundestag auf 709 Abgeordnete aufgebläht hat. Mit der Riesenzahl zwar höchstbezahlter, aber gelangweilter und überflüssiger Abgeordneter stieg vor allem die Zahl peinlicher Tiktok-Videos aus dem Innern der 1. Gewalt im Staate.

Die wären schlagartig weg, müssten diese überflüssigen Dampfplauderer sich dem direkten Votum der Wähler ihrer Wahlkreise stellen.

 

Christoph Lemmer, geboren 1961 in West-Berlin, arbeitet seit 1980 als Journalist für Printmedien und Hörfunk. Für die dpa war er der Hauptberichterstatter vom NSU-Prozess. Für Antenne Bayern produzierte er u.a. Podcasts über den Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum und den Fall Peggy (Deutscher Radiopreis). Seine Webseite „bitterlemmer", auf der dieser Text zuerst erschien, finden Sie hier.

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Leserpost

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A. Ostrovsky / 08.07.2022

@Sascha Hill : “Wir kaufen den Strom dann ggf teurer zurück. Oder wie aktuell zu lesen, wir kappen unsere Gas-Einkäufe beim Russen, um sie über Umwege bei Indien zu beziehen.” Bitte mal das Update einspielen! Das geht nicht, wir können aus Indien kein Gas kaufen, weil wir von dort keine Pipeline haben und die Zahl der Schiffe für den LNG-Transport sämtliche Meerengen verstopfen würde, vor allem den Suez-Kanal. Es geht einfach nicht! Sicher ist Öl gemeint? Oder sogar aus Öl hergestellte Produkte? Wennman nur jammern will, ist es aber egal, man könnte auch sagen, das Clopapier ist alle oder Putin verkauft uns keine Möhren. Oder die Ukraine braucht schwere Waffen, nicht unter zwei Tonnen. Abstraktion ist eine tolle Sache, sie hilft uns Zusammenhänge zu verstehen. Aber sie hat eine Schattenseite, wenn Leute, die es eigentlich gar nicht genau wissen, und die es auch eigentlich nicht verstehen wollen, immer auf der falschen Abstraktionsebene sprechen. Dann werden nämlich alleinerziehende Mütte mit Kindern zu “Familien” oder verdrehte Männer zu “Frauen”, denen zur Unterscheidung die “Menstruierenden” untergeordnet werden. Oder wir setzen uns für Biodiversifikation ein, oder gegen die Armut in der Welt. Oder man kämpft gegen CO2 als Klimakiller, obwohl in Wahrheit seit 20 Jahren trotz steigender Emissionen die Temperaturerhöhung durch CO2 nahezu unverändert geblieben ist, aber tatsächlich durch Methan 0,5 Grad und durch Blabla-Kohlenwasserstoffe nochmal 0,25 Grad Erwärmung dazu gekommen sind. Die falschen Abstrahierer sagen OK, Klimagase, also CO2. Doof aber winterhart. Eine beliebte Abstraktion sind auch die Rechtsextremen, wo dann Ali-Baba und Bashir-Abdelsalam mit auftauchen. Ich könnte noch ganz viele konkrete Einzelbesispiele nennen, aber wieso soll ich nicht das Recht zur Abstraktion haben. Es ist alles BULLSHIT.

Wolfgang Kaufmann / 08.07.2022

Die Rolle der Presse und der Richterschaft gewinnt dort, wo zwei ähnlich starke Blöcke sich alle paar Jahre an der Macht abwechseln, siehe USA. – So könnte auch bei uns die Volksfront des rot-grünen Aktionismus von regierungstreuen Hobbyschreiberlingen enden; oder von agenturbetreuten Impfluencerinnen, die selbst für medizinische Falschmeldungen und Verstöße gegen das Arzneimittelwerbegesetz nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

W. Renner / 08.07.2022

Alles richtig Herr Lemmer, aber dennoch ist Boris trotz Party Ausrutscher ein guter und im Vergleich zu Scholz und seinem Bodenpersonal eine wahre Koryphäe.

Matthias Popp / 08.07.2022

So sähe der Dt Bundestag nach der Wahl 2021 aus, der - wie im UK - nur aus in Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten bestünde: Gesamtzahl: 297 - davon CDU/CSU 143, SPD 120, AfD 16, Grüne 15, Linke 3 - ach ja, und Lindner, Buschmann, Göring-Eckardt, Baerbock, Hofreiter, C Roth, R Lang, Saskia Eskens uvam wären überhaupt nicht dabei. So schön könnte Demokratie sein.

F. Auerbacher / 08.07.2022

Was soll die Lobhudelei auf das Mehrheitswahlrecht? Ich glaube nicht, dass GB wirklich besser regiert wird oder Frankreich, die USA, Indien und wer weiß welche Staaten sonst noch dieses Allheilmittel haben.

Werner Arning / 08.07.2022

Wollen wir ein bisschen Demokratie wagen? Dann müssten wir es wohl eher so machen, wie es die Briten tun. In Deutschland undenkbar? Wo kämen wir denn da hin, wenn sich die Abgeordneten ihren Wählern mehr verpflichtet fühlten als der Parteispitze?  Da ginge doch jegliche Ordnung, jegliche Hierarchie verloren. Man kann doch nicht auf den Pöbel hören. Wer hat mir denn schließlich zu meiner Karriere verholfen?

Sascha Hill / 08.07.2022

@Nico Schmidt - Es ist sogar noch besser. Wenn die Netze in Deutschland überlastet sind, verschenken wir unseren teuren Strom an Polen, Holland & Co. Dank einer EU-Regelung, kann es sogar vorkommen, das wir beim “verschenken” draufzahlen müssen. Wir kaufen den Strom dann ggf teurer zurück. Oder wie aktuell zu lesen, wir kappen unsere Gas-Einkäufe beim Russen, um sie über Umwege bei Indien zu beziehen. Natürlich, wie soll es anders sein mit saftigen Aufpreis. Alles quasi im Namen der Endergiewende… zumindestens, wird das so dem Michl verzällt. Der Michl glaubt eh alles.

Gus Schiller / 08.07.2022

News aus dem “Bundesland” Bremen. Die Einwohnerzahl zwischen Bremen und Bremerhaven hat sich verschoben. Daher müsste Bremerhaven bei der nächsten Wahl einen Abgeordneten weniger bekommen. (Eigentlich logisch: weniger Einwohner = weniger Abgeordnete)  Die Lösung ist aber: Bremen bekommt DREI Abgeordnete mehr. Damit ist der Ausgleich wieder hergestellt!! So geht Demokratie heute. Warum sollte es auf Bundesebene anders sein?

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