Dass Bahnfahrten in Deutschland im Chaos enden können, ist leider nicht neu. Aber es gibt immer wieder neue Spielarten. Und wie auf anderen Gebieten auch, werden kritische Fragen einfach als unmoralisch diskreditiert.
Der Gatte hatte Bonuspunkte zu verbraten, damit sie nicht verfallen. So kamen wir auf die Idee, mal einen Ausflug nach Nürnberg zu machen. Gesagt, getan, ist von Leipzig mit dem Zug prima in zwei Stunden zu erreichen. Und Nürnbärch hat ja nicht nur gutes Bier, guten Wein, Schäufele und andere Köstlichkeiten zu bieten, auch eine Menge Kultur.
Die haben wir genossen, uns an der Pegnitz lang treiben lassen, ein wirklich schöner Tag. Voller Eindrücke, gut gesättigt, stiefelten wir zum Bahnhof zurück. In zwei Stunden sitzen wir daheim auf der Couch, schauen uns die Bilder noch mal an und lassen den Tag Revue passieren. Bis Erfurt ließ die Bahn uns in dem Glauben, ausgestattet sogar noch mit einem richtigen guten Grauburgunder aus dem Bordbistro. Dann kam das böse Erwachen.
Wir dachten wirklich, wir haben schon alles mit der Bahn erlebt oder gehört, was es an Unwägbarkeiten gibt. Aber die Durchsage war neu, deshalb möchte ich sie hier zum Besten geben. Wir wurden allesamt in dem so langen und Gott sei Dank nur zu einem Drittel, höchstens halb gefüllten ICE aufgefordert, diesen Zug in Erfurt zu verlassen. Der Zug würde auf der Strecke Erfurt – Leipzig für eine Evakuierung benötigt, deshalb müsste dieser ICE evakuiert werden. Wie bitte? Unser Zug soll evakuiert werden, damit mit ihm ein anderer Zug evakuiert werden kann? Wir schauten uns völlig ungläubig an, aber wir hatten offensichtlich richtig gehört. Wie es weiter geht für die Reisenden ab Erfurt, würde noch durchgesagt. Im Moment sollte der nächste Zug zu unserer eigentlichen Ankunftszeit in Leipzig in Erfurt abfahren, hatte da aber auch schon 36 Minuten Verspätung. Kein Wort davon, dass ein paar Bahnsteige weiter in wenigen Minuten auch noch ein Zug nach Leipzig startet, wahrscheinlich weil die Bediensteten nur das Ziel Berlin im Hinterkopf hatten und nicht die Zwischenhalte Leipzig und Wittenberg.
Also aufgebracht und wütend raus auf den Bahnsteig und nach Personal gesucht. Wir fanden zwei Damen in Bahnuniform, und alle schimpften, fragten, versuchten mehr Informationen zu bekommen. Die Damen entpuppten sich als Bistropersonal, die wussten selbst nicht, wie ihnen geschah, selbst sie mussten den Zug verlassen. Also baten wir in aller Form um Verzeihung, die Damen suchten schnell das Weite und sicher, wie wir auch, mehr Informationen.
Ah, eine Informationsstelle war noch besetzt. Brav stellten sich einige in die lange Warteschlange. Wir sahen, wie eine junge Bahnmitarbeiterin den Schalter verließ und auf die Reisenden aus dem Evakuierungszug zuging, um zu helfen. Sie fragte tatsächlich, wer Taxi oder Hotel benötigt, auch sie dachte nur an die Reisenden, die weiter als Leipzig mussten. Klar, sie wollte nur helfen, und wir wollten alle nur nach Hause. Auf die Frage, auf welcher Strecke denn der Zug evakuiert werden muss und ob die Strecke dann auch frei werde und der nächste überhaupt fahren kann, kam tatsächlich: „Das weiß ich doch nicht, ich lebe doch nicht in der Zukunft.“
Moralisierende Unterstellung
Heute, mit Abstand und ausgeschlafen, kann sie einem auch nur leid tun, wurde sie auch nur mit zu wenig Information und Wissen ausgestattet, um uns weiterzuhelfen. Aber die Krönung – aus meiner Sicht – erwartete uns auf die Frage, warum wir denn nicht im Zug hätten bleiben und die gestrandeten Passagiere zusätzlich aufnehmen können. Typisch für die heutige Denk- und Gesinnungslage: „Sie wollen doch nicht, dass diese Menschen, die jetzt schon die ganze Zeit ohne Strom, ohne Klimaanlage, ohne funktionierende Toiletten weiter ihrem Elend überlassen bleiben.“
Wie lange diese Zeit schon dauerte, wusste sie auch nicht, aber diese erpresserische Ansage, einem so etwas zu unterstellen, nee, also da blieb mir die Spucke weg. Damit waren Fragen, warum man denn die einen Fahrgäste aus dem Zug werfen muss, um die anderen aufzunehmen oder warum die Bahn offenbar nirgends mehr einen leeren Zug zur Verfügung hat, wenn ein anderer ausfällt, erledigt. Bei mir gingen da gleich Alarmlampen an und das Wort Mittelmeer leuchtete auf.
Um uns herum aufgebrachte Reisende. Einer erlebte dieses Spektakel auf seiner Reise sogar zum zweiten Mal, und immer mal wieder hörte man „Bananenrepublik“ und „Schwellenland“. Der nächstmögliche ICE baute seine Verspätung weiter aus, und plötzlich entdeckten wir noch eine Regionalbahn nach Leipzig. Die brauchte zwar die doppelte Zeit von Erfurt, aber womöglich kämen wir trotzdem noch eher an als mit dem verspäteten ICE. Fix auf den Bahnsteig dort und Personal entdeckt. Zwei völlig entspannte Zugbegleiter und einen ebenso entspannten, sich offensichtlich auf seinen Dienst freuenden Lokführer. „Kommen Sie nur mit uns mit, wir bringen Sie pünktlich und so schnell wir können nach Leipzig, wir fahren ja eine andere Strecke.“ Eine kurze Schrecksekunde auch auf dieser Strecke: „Aufgrund eines Signals halten wir außerplanmäßig.“ Nein, bitte nicht, jetzt kurz vorm Ziel, seit 90 Minuten säßen wir planmäßig auf der Couch, ah, Entwarnung, nach vier bangen Minuten ging es weiter und wir kamen fast pünktlich (für diese Regionalbahn) in Leipzig an.
Ein paar Bahnsteige weiter dann noch die Ansage, die Verspätung des ICE aus München zur Weiterfahrt nach Berlin erhöhe sich auf 100 Minuten. Kein Wort von der Evakuierung, es war nämlich genau der Zug, aus dem wir hinausgeworfen wurden. Eigentlich hätte man auf seine Ankunft warten und die Leute befragen sollen, warum man nicht die ursprünglichen Passagiere des Zuges hätte noch mitfahren lassen können, aber wir wollten einfach nur noch heim.
Clara Hagen lebt und schreibt in Leipzig.