Clara Hagen, Gastautorin / 24.12.2018 / 06:09 / Foto: Owen Morse / 14 / Seite ausdrucken

Wer zu spät kommt, ist der Weihnachtsbaum

Dieses Jahr haben wir einen Baum. Und der ist sogar schon geschmückt. Und der gewinnt auch jeden Weihnachtsbaumschönheitswettbewerb. Wirklich. Wir haben im Freundinnenkreis Fotos ausgetauscht, unserer steckt alle in die Tasche. Freundin S. hat den mit einer Baumspitze versucht zu überbieten, aber deren Baum fehlt eindeutig Oberweite. Der Baum hat obenrum so wenig Holz vor der Hütten, das können die auch nicht mit ihren superbunten Weihnachtskugeln in Form von Spielzeugautos wett machen. Freundin K. hat‘s mit Jahresendflügelfiguren versucht, aber unserer überstrahlt alle. Klein, fein, füllig, absolut geschmackvoll nach dem Motto „Weniger ist mehr“ nur mit roten Kugeln behängt – and the winner is: unserer.

Und das war im Prinzip von vornherein klar, denn letztes Jahr passierte folgende Geschichte, die sich so nie wiederholen sollte:

Hatte ich doch die tolle Idee, den Baum lassen wir uns dieses Jahr liefern, vom Online-Händler. Genial. Also beizeiten bestellt und für den 19. Dezember avisiert. Absolut clever der Plan. Der 19. kam, der 19. verging. Okay, kann ja mal passieren. Also an die Strippe gehangen und dem Baum hinterher telefoniert. Ja, es tue einem leid, aber am 21. kommt er ganz bestimmt, man hatte nicht genug Fahrzeuge geordert. Ja, man wisse und überhaupt, aber am 21., ganz sicher.

Na gut, reicht ja auch noch. Das ist ärgerlich, aber vor Weihnachten hab ich eh zu Haus genug zu arbeiten, zweite Chance. Die netten Mitarbeiter tun ja auch nur ihr bestes. Der 21. kam, der 21. – Sie ahnen es – verging. Immer noch kein Baum. Also wieder an die Strippe, aber die können was erleben.

Keine Mängel-Kommunikation

Nun waren da wieder so überaus freundliche Mitarbeiter, die absolutes Verständnis für meine missliche Lage hatten, jede Menge Entschuldigungen und plausible Erklärungen. Die Führungsetage hatte die sensationelle Idee, dieses Jahr vertreiben wir Weihnachtsbäume online, das sei DIE Marktlücke schlechthin. Dass man dazu eine echte Logistik hinlegen muss, die trotz erhöhten Weihnachtsverkehrs, mit genügend Mitarbeitern, genügend Fahrern usw. ausgeklügelt sein muss, um wirklich das echte Geschäft machen zu können, das hatte man wohl irgendwie nicht so recht bedacht. Trotz und obwohl die „Arbeitsbienen“ und Mitarbeiter, die die Folgen am Telefon auszubaden hatten, alle Mängel des Konzeptes zu bedenken gaben, stieg man also in den Weihnachtsbaumonlinehandel ein.  

Solcherlei Sorgen kann ich nun wirklich verstehen, kennt man sie leider heutzutage in vielen Branchen. Da fällt mir gleich die „lustige“ Geschichte, die aus Uschis Ministerium wieder zu lesen war, ein. Die Bundeswehr hat Milliarden für vier Fregatten ausgegeben. Irgendwie sind wahrscheinlich in dem Ministerium die Führungsetagen auch nicht mehr so recht verzahnt oder nehmen auch dort die Führungskräfte ihre „Arbeitsbienen“ nicht mehr so ganz ernst. Irgendwer hat bestimmt mal darauf hingewiesen, dass für neue Fregatten eventuell auch Aus- oder Weiterbildung für Personal nötig wäre. Tja, das ohnehin zeitverzögerte milliardenschwere Projekt wird wegen dieses Versäumnisses also noch teurer und es dauert, bis die Fregatten einsatzfähig sind.

Die Bahn fällt mir da noch ein. Neulich streikten doch einige Mitarbeiter. Und flugs wurde der Fernverkehr völlig eingestellt, der Nahverkehr zu großen Teilen, in Bayern fuhr gar kein Zug. Ich kann mir nicht helfen, aber da gab es doch mal Notfallfahrpläne, oder? War das nicht mal ein Unternehmen, in dem jemand Führungspositionen erreichen konnte, der von der Pike auf bei der Bahn gelernt hat? Also alle Hierarchien durchlief und auch praktisch gearbeitet hat? Jeder Lokführer musste mal alle Lok-Typen fahren können, damit für genau solche Fälle eben auch Notfahrpläne mit Personal und Zügen bestückt werden konnten und das Chaos sich in Grenzen hält. Inzwischen fehlt es nicht nur an fahrendem Personal, sondern auch an betriebsbereiten Zügen. Jede kleine Störung wird so zur mittleren Katastrophe. Aber irgendwelche Schlaumeier, die glauben „Optimierungen“ bei der Bahn, bei der Bundeswehr, der Post oder im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk ließen sich genauso durchführen wie in der Keksfabrik, haben überall funktionierende Räderwerke zerschlagen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass dort fortan die Zusammenarbeit und eben auch Informationsaustausch untereinander nicht mehr funktionieren.

Nein, von BAMF oder BER will ich hier lieber gar nicht erst anfangen.

Rettung durch Bastelarbeiten

Zurück zu meinem immer noch nicht vorhandenen Weihnachtsbaum. Die netten Menschen am Telefon machen ja auch nur ihren Job, haben das alles irgendwie auszubaden, ja klar. Nein, ich bin nicht wütend, okay am 23. dann ganz sicher, reicht ja auch noch. Dann hat der Baum wenigstens noch alle Nadeln und zum Schmücken ist auch noch genug Zeit. Ja, ich habe Verständnis. Nachdem ich auflegte, musste ich mich dann doch irgendwie wundern – jetzt sitze ich einen dritten Tag und warte auf einen Baum? Das habe ich jetzt echt zugesagt? Na gut. Die Familie erwartet einen Baum, Heiligabend findet nun mal bei uns statt. Und ich hatte auch immer einen schönen Baum.

Der 23. kam, auch der 23. verging – Sie ahnen es wieder – ich hatte immer noch keinen Baum. Na, die können was erleben. Wieder ans Telefon, aber dieses Mal ohne Verständnis. Okay, ich bekomme mein Geld zurück. Schön. Aber einen Baum habe ich immer noch nicht. Die nette Dame, die über mir wohnt, erzählte mir gerade beim Postholen, wie clever sie dieses Jahr das Baumproblem gelöst hat – online. Ganz toll. Direkt in die Wohnung geliefert, wunderhübscher Baum. Danke – genau das wollte ich jetzt hören. Inzwischen war der 24., Mutti, Tante, die Kinder – bei jedem Anruf die Vorfreude auf den Heiligen Abend und den schönen Baum, den ich immer habe.

Was hilft‘s, ich hab am 24.12. ja sonst nix zu tun, als über unsere Straße zu hirschen und noch irgendeinen Händler zu finden, der noch irgendeine Krücke zu verkaufen hat. Oder auch zwei, hab ich ja früher schon gemacht, hier ein Ästlein und dort noch eines, alles gut behangen, sieht keiner, dass ich aus zweien einen Baum gemacht habe.

Genauso sollte es kommen, war alles ganz schön knapp, aber hat funktioniert. Die ganze Familie hat meinen Bastelbaum bewundert, alle waren glücklich. Ab da feierten wir tiefenentspannte Weihnachten, und die Tage vergingen wirklich froh und besinnlich.

Dann kam der 27.12. Er war noch jung, gerade neuneinhalb Stunden und es klingelte. Wir sahen uns etwas verwundert an, erwarteten wir doch niemanden und nichts. Ich ging an die Sprechanlage und fragte, wer da sei. Und genau in dem Moment prusteten wir alle los, weil wir ahnten – wie Sie sicher auch – wer da klingelte.

„Ja, also, ich trau mich ja kaum zu fragen, aber ich muss es tun“, kam von der Gegenseite, und er hörte sicher auch unser schallendes Gelächter. „Nein, vielen Dank“, sagte ich, „wir nehmen den Baum nicht mehr an.“

Anfang Dezember flatterte per E-mail eine schöne Werbung ein. „Ihr Baum zum Wunschtermin!“

Nö. Danke. Der örtliche Blumenhändler war eine sichere Bank. Ich wähle lieber die, die ihr Geschäft organisieren können. Und wie geschrieben: Unser Baum steht und ist der schönste.

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Leserpost

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Michael Koch / 24.12.2018

Tja. Die netten Leute am Telefon arbeiten alle in einem Call-Center (beschissen bezahlt). Sie tun das, was sie können (nachordern, stornieren, Neuversand einleiten, Kunden vertrösten usw. usf.). Mit dem eigentlichen Auftraggeber haben sie wenig zu tun. Ich weiß das, denn ich habe selbst einmal in einem Call-Center gearbeitet. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was das für eine stressige Arbeit ist, wie man dort auf übelste Art und Weise beschimpft wird - und trotzdem immer freundlich bleiben muß. Außerdem steht man laufend unter Kontrolle, hat sehr eigenartige Arbeits- und Pausenzeiten und muß sich an bestimmte Gesprächsrichtlinien halten. Tut man das nicht, dann gibt es einen Anschiß. Frohe Weihnachten für alle Call-Center-Mitarbeiter!

Juliane Mertz / 24.12.2018

Klingt so schön wie eine Story von Claas Relotius ;-) Aber ja, diese und ähnliche Erfahrungen braucht man in einem (hoffentlich) lernenden System. Ich fürchte einen digitalen System-Absolutismus, der innerhalb des Systems keinen Handlungsspielraum mehr lässt und damit nicht nur regelmäßig zum Absturz führt sondern auch zu einer schleichenden Verschlechterung der Performance. Ganz wichtig finde ich, dass die “echten” Menschen sich wehren - weiter kochen statt lieferandoen zu lassen, weiter bar bezahlen, weiter spazieren und wandern gehen, weiter klar unterscheiden zwischen nützlichem und albernem usw.. Weihnachten ohne Amazon - i love it.

Gerhard Maus / 24.12.2018

Ne, ne, neeee - das können Sie nur sagen, weil Sie UNSEREN Baum noch nicht gesehen haben - DAS ist der Schönste! Aber mir ist dieses Mal Ähnliches passiert: bei einem bundesweit tätigen Lebenmittel-Frischeversand besonderes Fleisch zu Weihnachten bestellt (eine Sorte extra für unseren Sohn als Weihnachtsgeschenk). Sollte Freitag per DHL-Express bis 12:00 Uhr geliefert werden. Nix. Um 13:00 Uhr bei der Hotline des Versenders angerufen: sehr nette Dame, Frau Lorenz, am Telefon. Was war passirt? DHL-Express hat 15 Paletten = 700 Sendungen nicht abgeholt; auch die Anlieferung durch den Versender bei der Güterverteilstation lehnte DHL-Express ab. Freitag dann eine Mail vom Versender, dass es nix mehr wird. Samstag noch mal eine ziemlich zerknirschte, sehr nette Entschuldigungmail. UND noch ein Telefonat eines freundlichen Mitarbeiters, der alles noch mal erklärte und sich erneut entschuldigte. Fand ich toll, wie die sich bemüht haben, die Kunden bei Laune zu halten. Bin gespannt, was DHL-Express so bewogen hat, die Arbeit einfach mal einzustellen. Schade um den vielen schönen Fisch und das Fleisch, das nun vermutlich vergammelt. Keine Angst, wir werden Weihnachten nicht verhungern. Ich wünsche allen achgut-Autoren und Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest! Ach ja: IHR HABT ALLE DEN SCHÖNSTEN BAUM !

Sabine Heinrich / 24.12.2018

Meine zimmerhohe Yuccapalme freut sich, dass sie - da ich “aus organisatorischen Gründen” keinen Nadelbaum mehr heranschaffen konnte - als Weihnachtsbaum fungieren darf. Wunderschöner Anblick - mit roten Kugeln und den erzgebirgischen grüngeflügelten Musikengeln! (Für Skeptiker die Information, dass natürlich ziemlich viel Tesafilm zum Einsatz kommt). Kerzen werden eben drumherum und überall in der Wohnung aufgestellt. Allen Achgut - Autoren, Kommentatoren und Lesern wünsche ich friedliche Festtage - ob mit oder ohne traditionellen Weihnachtsbaum! Ich freue mich jedenfalls heute auf Loriot und ausgiebiges Singen! In meinem Chor herrscht fast Gleichberechtigung: 50% sind Männer, 50% Frauen; aber die ersten 50% spielen DIE Gitarre - und ich höchstens DAS Cajon. Hmmm - eindeutig ein Fall für jene Anwältin, die wohl kurz vor Weihnachten in irgendein “Jahrbuch 2018” Eingang finden möchte.

E. Albert / 24.12.2018

Ich habe das Problem gelöst, in dem ich mir vor 2 Jahren eine mittelhohe Zuckerhutfichte gekauft und in einen Kübel gepflanzt habe. Dieses Bäumchen wird dann zu Weihnachten ins Wohnzimmer gestellt - es duftet herrlich! - und nach Weihnachten kommt es wieder auf die Terrasse - bis zum nächsten Mal. Wegen des buschigen, zuckerhutähnlichen Wuchses (-daher auch der Name-) sieht es geschmückt ausgesprochen hübsch aus! (Ich verwende dieses Jahr ganz alte, bunte Kugeln und Zierzeug, die ich noch von meinen Großeltern aufbewahrt habe - und habe für mich beschlossen, dass mein Bäumchen für mich der Schönste von allen ist.) Allen Autoren und Lesern frohe Weihnachten, verbunden mit den besten Wünschen für’s nächste Jahr!

Anders Dairie / 24.12.2018

Die Trockenheit des Sommers hat vielen Bäumen zugesetzt.  Der “Prachtbaum” auf Deutschlands schönstem Weihnachtsmarkt sieht aus, als hätte er Fukushima hinter sich.  Völlig ungewohnt das Bild.  Man hat die Stellen mit dem abgeworfenem “Laub” mit allerlei Girlanden und Lichterketten nicht ungeschickt zugehängt. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass bei Nordmännern und Edlerem kein Mangel herrscht.  Was das Geld betrifft?  Es spielt keine große Rolle im Monat der maximalen Verschwendung.

Anders Dairie / 24.12.2018

Liebe CLARA, mehr Mut!  Mein Oppa KURT hat sich den Baum, kaum unter 2 Meter hoch, im Sommer ausgeguckt und im Dezember geklaut.  Mit dem Hand-wagen über Kilometer in ein Zwischenlager-Schuppen (man kennt die Verfolger nicht) gebracht.  Und pünktlich in das Wohnzimmer,  abends unter Ausschluss der Öffentlichkeit,  gestellt.  Pack-Netze waren unbekannt.  Sehn Sie,  CLARA,  sie sind nicht am Handel   gescheitert.  Sondern, weil ihre Familie deutsche Fami-lientraditionen aufgab.  Sich neu-modischen, amerikanischen Praktiken zuwandte,  für die es dann keine Jeeps gibt.  Nichts für ungut—und FROHES FEST.

Andreas Rühl / 24.12.2018

Die Geschichte hat einen schweren Fehler, zwar kein relotius, aber nahe dran. Denn WIR haben den schoensten Baum. Wie immer. Jedes Jahr. So sicher, wie es weisse Weihnachten gibt. Das ist so etwas wie die letzte Gewissheit, die wir uns nicht nehmen lassen. Auch von der Achse nicht.

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