Clara Hagen, Gastautorin / 23.07.2023 / 10:00 / Foto: Pixabay / 35 / Seite ausdrucken

Bahnbonus: Evakuieren fürs Evakuieren

Dass Bahnfahrten in Deutschland im Chaos enden können, ist leider nicht neu. Aber es gibt immer wieder neue Spielarten. Und wie auf anderen Gebieten auch, werden kritische Fragen einfach als unmoralisch diskreditiert.

Der Gatte hatte Bonuspunkte zu verbraten, damit sie nicht verfallen. So kamen wir auf die Idee, mal einen Ausflug nach Nürnberg zu machen. Gesagt, getan, ist von Leipzig mit dem Zug prima in zwei Stunden zu erreichen. Und Nürnbärch hat ja nicht nur gutes Bier, guten Wein, Schäufele und andere Köstlichkeiten zu bieten, auch eine Menge Kultur.

Die haben wir genossen, uns an der Pegnitz lang treiben lassen, ein wirklich schöner Tag. Voller Eindrücke, gut gesättigt, stiefelten wir zum Bahnhof zurück. In zwei Stunden sitzen wir daheim auf der Couch, schauen uns die Bilder noch mal an und lassen den Tag Revue passieren. Bis Erfurt ließ die Bahn uns in dem Glauben, ausgestattet sogar noch mit einem richtigen guten Grauburgunder aus dem Bordbistro. Dann kam das böse Erwachen.

Wir dachten wirklich, wir haben schon alles mit der Bahn erlebt oder gehört, was es an Unwägbarkeiten gibt. Aber die Durchsage war neu, deshalb möchte ich sie hier zum Besten geben. Wir wurden allesamt in dem so langen und Gott sei Dank nur zu einem Drittel, höchstens halb gefüllten ICE aufgefordert, diesen Zug in Erfurt zu verlassen. Der Zug würde auf der Strecke Erfurt – Leipzig für eine Evakuierung benötigt, deshalb müsste dieser ICE evakuiert werden. Wie bitte? Unser Zug soll evakuiert werden, damit mit ihm ein anderer Zug evakuiert werden kann? Wir schauten uns völlig ungläubig an, aber wir hatten offensichtlich richtig gehört. Wie es weiter geht für die Reisenden ab Erfurt, würde noch durchgesagt. Im Moment sollte der nächste Zug zu unserer eigentlichen Ankunftszeit in Leipzig in Erfurt abfahren, hatte da aber auch schon 36 Minuten Verspätung. Kein Wort davon, dass ein paar Bahnsteige weiter in wenigen Minuten auch noch ein Zug nach Leipzig startet, wahrscheinlich weil die Bediensteten nur das Ziel Berlin im Hinterkopf hatten und nicht die Zwischenhalte Leipzig und Wittenberg.

Also aufgebracht und wütend raus auf den Bahnsteig und nach Personal gesucht. Wir fanden zwei Damen in Bahnuniform, und alle schimpften, fragten, versuchten mehr Informationen zu bekommen. Die Damen entpuppten sich als Bistropersonal, die wussten selbst nicht, wie ihnen geschah, selbst sie mussten den Zug verlassen. Also baten wir in aller Form um Verzeihung, die Damen suchten schnell das Weite und sicher, wie wir auch, mehr Informationen.

Ah, eine Informationsstelle war noch besetzt. Brav stellten sich einige in die lange Warteschlange. Wir sahen, wie eine junge Bahnmitarbeiterin den Schalter verließ und auf die Reisenden aus dem Evakuierungszug zuging, um zu helfen. Sie fragte tatsächlich, wer Taxi oder Hotel benötigt, auch sie dachte nur an die Reisenden, die weiter als Leipzig mussten. Klar, sie wollte nur helfen, und wir wollten alle nur nach Hause. Auf die Frage, auf welcher Strecke denn der Zug evakuiert werden muss und ob die Strecke dann auch frei werde und der nächste überhaupt fahren kann, kam tatsächlich: „Das weiß ich doch nicht, ich lebe doch nicht in der Zukunft.“

Moralisierende Unterstellung 

Heute, mit Abstand und ausgeschlafen, kann sie einem auch nur leid tun, wurde sie auch nur mit zu wenig Information und Wissen ausgestattet, um uns weiterzuhelfen. Aber die Krönung – aus meiner Sicht – erwartete uns auf die Frage, warum wir denn nicht im Zug hätten bleiben und die gestrandeten Passagiere zusätzlich aufnehmen können. Typisch für die heutige Denk- und Gesinnungslage: „Sie wollen doch nicht, dass diese Menschen, die jetzt schon die ganze Zeit ohne Strom, ohne Klimaanlage, ohne funktionierende Toiletten weiter ihrem Elend überlassen bleiben.“

Wie lange diese Zeit schon dauerte, wusste sie auch nicht, aber diese erpresserische Ansage, einem so etwas zu unterstellen, nee, also da blieb mir die Spucke weg. Damit waren Fragen, warum man denn die einen Fahrgäste aus dem Zug werfen muss, um die anderen aufzunehmen oder warum die Bahn offenbar nirgends mehr einen leeren Zug zur Verfügung hat, wenn ein anderer ausfällt, erledigt. Bei mir gingen da gleich Alarmlampen an und das Wort Mittelmeer leuchtete auf. 

Um uns herum aufgebrachte Reisende. Einer erlebte dieses Spektakel auf seiner Reise sogar zum zweiten Mal, und immer mal wieder hörte man „Bananenrepublik“ und „Schwellenland“. Der nächstmögliche ICE baute seine Verspätung weiter aus, und plötzlich entdeckten wir noch eine Regionalbahn nach Leipzig. Die brauchte zwar die doppelte Zeit von Erfurt, aber womöglich kämen wir trotzdem noch eher an als mit dem verspäteten ICE. Fix auf den Bahnsteig dort und Personal entdeckt. Zwei völlig entspannte Zugbegleiter und einen ebenso entspannten, sich offensichtlich auf seinen Dienst freuenden Lokführer. „Kommen Sie nur mit uns mit, wir bringen Sie pünktlich und so schnell wir können nach Leipzig, wir fahren ja eine andere Strecke.“ Eine kurze Schrecksekunde auch auf dieser Strecke: „Aufgrund eines Signals halten wir außerplanmäßig.“ Nein, bitte nicht, jetzt kurz vorm Ziel, seit 90 Minuten säßen wir planmäßig auf der Couch, ah, Entwarnung, nach vier bangen Minuten ging es weiter und wir kamen fast pünktlich (für diese Regionalbahn) in Leipzig an. 

Ein paar Bahnsteige weiter dann noch die Ansage, die Verspätung des ICE aus München zur Weiterfahrt nach Berlin erhöhe sich auf 100 Minuten. Kein Wort von der Evakuierung, es war nämlich genau der Zug, aus dem wir hinausgeworfen wurden. Eigentlich hätte man auf seine Ankunft warten und die Leute befragen sollen, warum man nicht die ursprünglichen Passagiere des Zuges hätte noch mitfahren lassen können, aber wir wollten einfach nur noch heim.

Clara Hagen lebt und schreibt in Leipzig.

Foto: Pixabay

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Karsten Dörre / 23.07.2023

Seit ich per freier Volkskammerwahl März 1990 in Richtung Bundesrepublik geschubst wurde, ist für mich Bahnfahren nur was für Leute mit viel Zeit, guten Nerven und Erlebnishunger auf Gleisniveau.

Lucius De Geer / 23.07.2023

Wer ein Auto besitzt und ohne Not die deutsche Staatsbahn benutzt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Übrigens zeigt dieser Fall - wie viele andere - dass Unfähigkeit und Desinteresse bis in die unteren Ränge reichen. Ein Bekannter sagte neulich: Die deutsche Bahn ist genauso ein Sammelbecken für Minderleister wie Berlin.

Bernd Neumann / 23.07.2023

Ihr wolltet keine Kinder, Ihr wolltet keinen Wehrdienst, Ihr wolltet keine Deutschen sein, Ihr habt immer brav die CDU, die SPD; die Grünen und die FDP gewählt und jetzt lmaa mit Eurem Gejammer über die Bahn. Ihr hättet auch anders gekonnt, Ihr Boomer, Ihr X/Golfer und Konsorten. Sowas kommt von sowas. Lebt damit, dafür hattet Ihr Eure Partys, als Ihr jünger wart. Ansonsten kann ich Euren Sermon nicht mehr hören.

Walter Ebert / 23.07.2023

Ähnliches habe ich vor über zwanzig Jahren auf der Strecke zwischen Jena (damals hielten da noch ICEs) und Leipzig erlebt. Irgendwie anheimelnd, dass sich manche Dinge hierzulande nicht ändern.

Boris Kotchoubey / 23.07.2023

Ich finde, die Autorin müsste glücklich sein, dass ihr Zug überhaupt von Nürnberg abgefahren ist.

GAbriele Klein / 23.07.2023

@ K.Gleiss “Im Licht der untergehenden Sonne kehrte ich irgendwann von meinem Ausflug zurück und stellte mir dabei die Frage nach dem nervlichen Zustand derjenigen, die täglich als Pendler auf die Dienste der DB angewiesen sind.” Ich war Langstrecken Pendlerin bei der DB in d. Mitte d. 90er und so gut wie 100% pünktlich im Büro weil ich im Gegensatz zu jenen die nur einen Steinwurf entfernt vom Arbeitsplatz wohnten im Takt der DB eintraf. Will damit sagen es geht.  Ich erinnere mich in dieser Zeit so gut wie keiner schweren Störung (bis auf Suizide u. wirklich höhere Gewalt.  Sehr viel später so etwa ab 2015 pendelte ich erneut und es war verheerend. Ich finde die DB verdient eine Reisewarnung denn die Nutzung halte ich für höchst gefährlich. Ich erlebte z.B. öfter dass ganz andre Züge unter der Anzeige des von mir erwarteten Zuges einfuhren die verspätet einfach auf dieses Gleis umgeleitet wurden (ohne die Anzeige entsprechend zu ändern). Steigt man dann ein, im falschen Glauben es sei der angezeigte Zug u. es ist zu später Stunde ein letzter “außerplanmässig umgeleiteter Zug in Nirgendwo, kann man sehen wo man bleibt sollte man sich auf die Anzeigentafel verlassen haben,  Handy Akku leer sein u. kein Hotel weit u. breit sich auf der Strecke zu später Stunde mehr finden. Es gibt u.U. kein Zurück, auch nicht bei 15 Grad Minus.  Wer ferner bei Streik z.B. außerplanmäßig in Eiseskälte als alter oder Behinderter Mensch irgendwo streikbedingt abgesetzt wird, kann u.U. nur noch d. Malteser rufen da es   fast keine Wartesäle mehr gibt. Während außerplanmäßiger Wartezeiten immer länger werden werden Bänke u. Papierkörbe immer weniger. Von daher lass ich die Finger v. Reisen m.d.. DB wo immer möglich. Nur noch Bus m. andrem Unternehmen. Dass ein Fahrer streikbedingt seine Fahrgäste in Eiseskälte irgendwo rauswirft erlebte ich noch nicht.

Andrea Nöth / 23.07.2023

Die Zustände bleiben so erhalten, vermutlich, weil die Bahnfahrer so duldsame, angepasste Menschen sind. Sie toben nicht, sie verklagen die Bahn nicht, sie stimmen nicht mit den Füßen ab. Wenn so ein ICE mit ausgefallender Klimaanlage 1,5 Stunden auf der Stecke steckenbleibt und in den Wagen die Hitze im 35Grad-Bereich landet, ohne Klo - und die Luft knapp wird - bleiben die da drin hocken bis zum Kollaps. Schon nach 20 Minuten wäre ich an der Tür und würde die Notöffnung betätigen oder eine Scheibe einschlagen. Wäre mir wurscht - ob ich da eine Rechnung für kriege und wurscht wäre mir auch, wenn unser Zwangsfunk davon schwallen würde, ‘wie Einzelne so unvernünftig gewesen wären - auf offener Stecke auszusteigen‘. Das wäre ja sooo gefährlich. Anpassen, Sitzenbleiben, Totschwitzen, in die Hose machen und trotzdem - Maul halten. Am nächsten Tag steigt alle wieder schön ein. 200 Leute, die aus dem Zug strömen und auf eine Wache laufen, um Anzeige zu erstatten, das wäre doch mal was. Wenn keiner mehr mitfährt hat sich das alles bald erledigt. Wenn ich mit meinem Auto mal im großen Stau stecke - kann ich jederzeit aussteigen und mit ein paar Küchenrollen und einer Plastiktüte kann ich sogar im Auto pinkeln - da zwingt mich keine Bahn, mir in die Hose zu machen. Da habe ich mein Essen und Getränke, meine Musik, bequeme Klamotten. Füße hoch. Ohne Elektroauto läuft meine Klimaanlage immer. Ab den 80igern habe ich die Bahn gemieden wie die Pest. Erst das Dealer-Volk am HBF-Frankfurt, später war es teurer als mit dem Auto, noch später war es langsamer und teurer, heute ist es langsam, teuer, unappetitlich, unzuverlässig, laut, zuletzt noch gefährlich, weil du von Einmann begrapscht wirst oder ins Gesicht geschlagen wirst, wenn du dich beschwerst und abgestochen werden kannst, sogar, ohne vorher gemeckert zu haben. Ich kapiere nicht, warum man sich da überhaupt noch reinsetzt. Ohne Geld würde ich halt Smart o.Ä. fahren.

Karina Gleiss / 23.07.2023

Ich habe gestern bei relativ schönem Wetter (hochsommerliche 22 Grad, der Klimawandel ließ grüßen) in einem Anfall von Tollkühnheit und unter Verwendung meines Deutschlandtickets den Versuch unternommen, vom Ruhrgebiet nach Aachen zu gelangen. Unter normalen Umständen, also bis vor ca. 15 Jahren, wäre das laut Fahrplan in knapp zwei Stunden zu bewältigen gewesen. Bis kurz hinter Essen belief sich die, vorläufige, Verspätung bereits auf 10 Minuten. Wegen diverser Halte auf freier Strecke, über deren Hintergrund nur gerätselt werden konnte. Drei Stopps hinter Köln hatte sich die Verspätung dann auf 70 Minuten ausgedehnt, wegen „Verspätungen von vorausfahrenden Zügen und eingleisiger Fahrspur auf der Teilstrecke“. Der durchaus freundliche Zugführer gab stets sein Bestes, um sich stellvertretend für das Versagen seiner Chefetage zu entschuldigen. An diesem Zeitpunkt reichte es mir und ich verließ den Zug mitten in der Prärie, um die Rückreise vom anderen Bahnsteig anzutreten. Der Zug nach Hause verspätete sich um 45 Minuten wegen „Verspätung von vorausfahrenden Zügen“ etc. . Im Licht der untergehenden Sonne kehrte ich irgendwann von meinem Ausflug zurück und stellte mir dabei die Frage nach dem nervlichen Zustand derjenigen, die täglich als Pendler auf die Dienste der DB angewiesen sind. Die Züge fahren im besten Deutschland aller Zeiten nämlich immer öfter nach Nirgendwo. Wohlgemerkt: ohne das Deutschlandticket wäre ich, so wie früher einmal, das finanzielle und zeitliche Risiko einer solchen Fahrt nicht eingegangen.

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