Von Kolja Zydatiss
Auf Facebook ausgestoßen wurde diese Woche der emeritierte Schweizer Immunologieprofessor (und Achgut.com-Autor) Beda M. Stadler. Vor wenigen Tagen ist in der Wochenzeitung Bernerbär ein ausführliches Interview mit dem Mediziner zur Coronapolitik erschienen. Stadler sprach sich, wie schon in früheren Debattenbeiträgen, dafür aus, ausschließlich die Risikogruppen zu schützen. PCR-Tests bezeichnete er als „unbrauchbar“, um Corona nachzuweisen; Alltagsmasken dienten vor allem dazu, „die Bevölkerung auf eine bestimmte Linie zu trimmen“.
Wie das Portal Die Ostschweiz mitteilt, veröffentlichte ein Mann namens Stephan Sembinelli (Künstlername „Stefano Prada“, Anm.d.Red.) auf Facebook eine Kurzfassung des Interviews. Sembinelli „liefert seit vielen Monaten akribisch Zahlen, Fakten und Statistiken rund um die Coronasituation, unter anderem auch für Wikipedia. Sein besonderer ‚Service‘ auf Facebook: Er liefert Zusammenfassungen von Beiträgen aus Zeitungen und anderen Medien, die er für interessant und erhellend hält“, erklärt Die Ostschweiz. Damit erreiche er normalerweise ein großes Publikum.
Nicht jedoch in diesem Fall. Facebook löschte den Post mit der Zusammenfassung des Bernerbär-Interviews und sperrte Sembinelli für 30 Tage (!). „Dein Beitrag verstößt gegen die Gemeinschaftsstandards bezüglich Falschmeldungen, durch die anderen körperlicher Schaden zugefügt werden könnte“, wurde dem Solothurner mitgeteilt. „Wir unterstützen das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber wir lassen keine Fehlinformationen über Covid-19 zu, die zu Gesundheitsschäden beitragen könnten.“
Nachdem Sembinelli Beschwerde einlegte, wurde der Beitrag wiederhergestellt. Also Ende gut, alles gut? Nein. Denn wie Stefan Millius, Chefredakteur der Ostschweiz, zu einer Entwicklung bemerkt, die ich selbst in dieser Artikelreihe beinahe wöchentlich anhand eines wachsenden Heers von Betroffenen dokumentiert habe:
„Dass Facebook rigide vorgeht, wenn es um Corona geht, ist längst nicht mehr zu übersehen. Beiträgen, die sich um das Virus drehen, wird standardmässig ein Link zu weiteren Informationen eingeblendet – natürlich offiziell abgesegneten. Immer wieder stellen Nutzer fest, dass sie vor der Veröffentlichung eines Beitrags in einem Zwischenschritt gefragt werden, ob sie das wirklich tun wollen, denn es gehe ja offenbar beim Geschriebenen um Corona. Und Löschungen sowie Sperrungen sind an der Tagesordnung, wenn jemand die offizielle Darstellung kritisch hinterfragt oder anzweifelt oder Links zu Webseiten postet, die nicht dem Kurs der Regierenden folgen.“
Ein faktisches Berufsverbot wurde diese Woche für Jan Josef Liefers und Ulrich Tukur gefordert. Die beiden Schauspieler hatten sich an der Aktion #allesdichtmachen beteiligt, in der 53 Schauspieler mit satirischen Mitteln die Corona-Maßnahmen kritisierten. Der nordrhein-westfälische SPD-Politiker und WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin schrieb in einem mittlerweile gelöschten aber von vielen Nutzern als Screenshot dokumentierten Twitter-Thread:
„Jan Josef Liefers und Tukur verdienen sehr viel Geld bei der ARD, sind deren Aushängeschilder. Auch in der Pandemie durften sie ihrer Arbeit z.B. für den Tatort unter bestem Schutz nachgehen. Durch ihre undifferenzierte Kritik an ‚den Medien‘ und demokratisch legitimierten Entscheidungen von Parlament und Regierung, leisten sie denen Vorschub, die gerade auch den öffentlich-rechtlichen Sendern gerne den Garaus machen wollen. Sie haben sich daher als deren Repräsentanten unmöglich gemacht. Die zuständigen Gremien müssen die Zusammenarbeit – auch aus Solidarität mit denen, die wirklich unter Corona und den Folgen leiden – schnellstens beenden. Viele Grüße, ein Rundfunkrat.“
„Sie erstellen Abschusslisten“
Der Physiker Cornelius Roemer, der immer wieder in den Medien als Befürworter drakonischer Corona-Maßnahmen auftritt, rief auf Twitter dazu auf, detaillierte Listen über die #allesdichtmachen-Schauspieler und deren Follower anzulegen und zu analysieren. So wollte er u.a. herausfinden, ob „jemand mit viel Geld“ und/oder eine PR-Firma hinter der Aktion steckt und ob die Schauspieler für ihr Mitmachen bezahlt wurden.
Roemers Bestrebungen trafen auf heftigen Gegenwind, nicht nur in den sozialen Medien. „Sie erstellen Abschusslisten und hetzen auf Menschen. Sie sind fanatisch und drehen völlig frei“, kommentierte z.B. eine Twitter-Nutzerin. Marcel Luthe, Spitzenkandidat der Freien Wähler Berlin, bemerkte: „Die Freiheit von Meinung und Kunst ist zentraler Wert des Grundgesetzes. Wer derartige Forderungen stellt und sich damit auch datenschutzrechtlich auf dünnes Eis begibt, ist nicht nur kein Demokrat, sondern will offenbar die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen und ist ein Fall für den Verfassungsschutz.“ (Quelle: Berliner Zeitung)
YouTube und Google versuchen, die Verbreitung der Satirevideos zu unterdrücken, indem sie diese bei der Suche nicht mehr oben anzeigen. Der Kanal, der enorme Abrufzahlen hat, wird von YouTube digital ausgeblendet. „Dies ist […] rechtswidrig und verletzt die durch Art. 5 GG verbriefte Meinungs-, Presse-, und Informationsfreiheit“, meint der Medienanwalt und Achgut.com-Autor Joachim Nikolaus Steinhöfel.
Dem heftigen (sozial-)medialen Shitstorm waren offenbar nicht alle beteiligten Schauspieler gewachsen. Schließlich wird man als linksliberal orientierter Künstler normalerweise eher selten als rechtsradikal beschimpft, als Verschwörungstheoretiker verunglimpft oder mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels verglichen. Laut einem Bericht der Zeit haben bereits u.a. Heike Makatsch, Meret Becker, Ken Duken und Kostja Ullmann ihre Beiträge wieder zurückgezogen.
Auf der Website der Aktion wird dazu angemerkt: „Wir üben Kritik mit den Mitteln von Satire und Ironie. Wenn man uns dafür auf massivste Art und Weise beschimpft und bedroht, ist das ein Zeichen, dass hier etwas ins Ungleichgewicht geraten ist. […] Übrigens: Wenn Videos von dieser Seite verschwinden, dann heißt das nicht zwingend, dass die jeweiligen Leute sich distanzieren. Es kann auch bedeuten, dass jemand sich einfach nicht in der Lage sieht, diesen Shitstorm auszuhalten, oder dass Familie und Kinder bedroht werden.“
Untersuchungsaktion gegen Familienrichter
Am Montagmorgen gab es eine groß angelegte Untersuchungsaktion gegen Christian Dettmar, den Familienrichter in Weimar, der eine weit beachtete Entscheidung gegen die Corona-Maßnahmen gefällt hatte und in einem konkreten Fall die Pflicht zum Maskentragen und zu Schnelltests in Schulen für rechtswidrig erklärte. „Nach Angaben seines Anwalts durchsuchten Ermittler sowohl das Büro des Richters als auch sein Auto und sein Haus“, berichtet reitschuster.de. Dettmars Mobiltelefon sei beschlagnahmt worden.
Die Durchsuchungen stehen in Zusammenhang mit Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Erfurt wegen eines Anfangsverdachts auf Rechtsbeugung. Die Staatsanwaltschaft sieht laut Zeit Anhaltspunkte dafür, „dass der Beschuldigte willkürlich seine Zuständigkeit angenommen hat, obwohl es sich um eine verwaltungsrechtliche Angelegenheit handelte, für die ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.“ Dettmar interpretiert einen Absatz des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dahingehend, dass mit „Gefährdungen des Kindeswohls“, die von „Dritten“ ausgehen, auch öffentliche Institutionen wie Schulen als Gefahrenquelle mitgemeint sind. Laut dem Anwalt des Familienrichters, Gerhard Strate, ist dies eine „absolut vertretbare Position“. Das Verfahren gegen seinen Mandanten sei „unzulässig und unbegründet“.
Auch als Musiker muss man heute sehr aufpassen, wie man sich zu Corona äußert, und auf wen man sich dabei bezieht. Wie der Express am Sonntag zuerst berichtete, ist der Gitarrist der Kölner Karnevals- und Schlagerband Die Höhner, Joost Vergoossen, gefeuert worden. Der Niederländer hatte sich in den sozialen Medien wiederholt kritisch zu den Corona-Maßnahmen geäußert. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war offenbar ein von Vergoossen geteilter Facebook-Beitrag der rechtsgerichteten niederländischen Oppositionspartei Forum voor Democratie (FVD) zur Coronapolitik.
Kein Rassist oder „Virenverweigerer“
Vergoossen meint, er habe nach seinem per Telefon erfolgten Rauswurf um ein persönliches Gespräch gebeten, um der Band, zu der er seit 2018 gehört hatte, zu verdeutlichen, dass er kein Rassist oder „Virenverweigerer“ sei. Das sei jedoch abgelehnt worden. Die Höhner erklärten gegenüber dem Express ihre Sicht der Dinge: „Joost Vergoossens Haltung zur weltweiten, Covid-19 bedingten Pandemie, die er in mehreren Postings auf seinen Social-Media-Plattformen veröffentlicht hat, entsprechen [sic] nicht der Überzeugung der Band. […] Als Joost sich schließlich öffentlich zu einem niederländischen Rechtspopulisten und dessen Partei bekannt hat, ist es – nach weiteren langen Gesprächen – zu der Entscheidung gekommen, in Zukunft getrennte Wege zu gehen.“
Ausgestoßen wurde diese Woche auch Hamed Abdel-Samad. Wie der ägyptisch-deutsche Politikwissenschaftler und Publizist auf Facebook mitteilt, wurde er vom ZDF-Kulturmagazin Aspekte eingeladen, um über sein neues Buch „Schlacht der Identitäten“ und über Identitätspolitik allgemein zu reden. Doch im Fernsehen wurde nur ein einziger Satz von Abdel-Samad gesendet, der laut dem Bestsellerautor „nur ein Zugang zu meinen Thesen war“. „Kein einziger kritischer Satz von mir wurde gesendet […], während andere klagende PoC-Akteure ausführlich zu Wort kamen“, schreibt Abdel-Samad weiter. „Man wollte über Identitätspolitik kritisch berichten, doch am Ende ging das ZDF mit mir doch identitätspolitisch um, indem man meine Aussagen zensiert hat. Deshalb werde ich nie wieder bei Aspekte auftreten!“ Auf der Webseite des ZDF kann man eine elf Minuten lange Version des Gesprächs mit Abdel-Samad aufrufen, die auch die kritischen Aussagen enthält, die es nicht ins Aspekte-Magazin geschafft haben.
In Berlin-Lichterfelde hat das vor zehn Jahren eröffnete Eiscafé „Eiskimo“ einen neuen Namen. Geschäftsführer Peter Lichtel erklärte der B.Z. warum: „Anfangs haben wir das vielleicht nicht ernst genug genommen. Doch dann wurde die Kritik krass.“ Rassismus-Beschwerden erreichten die Eisdiele nun fast wöchentlich. „Eine Frau drohte mit Demos vor unserem Laden. Dann entgingen uns große Aufträge, weil man fürchtete durch uns in die rechte Ecke zu geraten.“ Als dann noch ein Grünen-Politiker schriftlich rügte, bekamen die Eisladen-Besitzer, die auch für tausende Euro bundesweit Veranstaltungen beliefern, Angst. Lichtel: „Wir leben von unseren Kunden, nicht vom Namen. So einen Kampf können wir uns nicht leisten.“ Das Café heißt nun „Peter und der Wulf“ – nach den beiden Gesellschaftern Peter Lichtel und Michael Wulf.
Universitätsbibliothek Freiburg bietet „betreutes Lesen“
Achgut.com-Autor Uwe Jochum weist auf seinem Blog auf die Tatsache hin, dass die Universitätsbibliothek Freiburg eine Art „betreutes Lesen“ betreibt. Einige im neurechten Verlag Antaios erschienene Bücher seien von der Ausleihe gesperrt worden und dürften nur im „Sonderlesesaal“ der Bibliothek und auch nur zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt werden, darunter die Titel „Nationalmasochismus“ von Martin Lichtmesz und „Umvolkung“ von Akif Pirinçci. Auch „Das Heerlager der Heiligen“ (1973), in dem der verstorbene französische Schriftsteller Jean Raspail in fiktionaler Form die gewaltfreie Invasion Europas durch verelendete Menschenmassen der Dritten Welt schildert, sei in den Sonderlesesaal verbannt worden.
Und auch in der englischsprachigen Welt empörte man sich diese Woche, und forderte Haltung ein. Der weiße kanadische Popsänger Justin Bieber postete am Sonntag und Montag einige Fotos auf seinem Instagram-Kanal, die ihn mit einer neuen „Dreadlocks“-Frisur zeigten. Das sorgte laut Spiegel für „scharfe Kritik“ von vielen seiner Fans. Bieber habe mit dieser „kulturellen Aneignung“ „eine Grenze überschritten, sei unsensibel gegenüber Schwarzen und ihrer Kultur“. „Es ist nicht das erste Mal, dass Bieber mit seinen Haaren eine Kontroverse auslöst. Bereits 2016 erschien er mit einer ähnlichen Frisur“, erklärt der Spiegel weiter. Eine gute Nachricht gibt es: Der Sänger hat sich bislang offenbar noch nicht für seine Haartracht entschuldigt.
In Großbritannien ist Douglas Kedge wegen eines „Hassverbrechens“ angezeigt worden. Der Rentner hatte einen (laut dem Magazin Spiked respektvoll-kritischen) Brief an eine Abtreibungsgegnerin geschrieben. Das ist natürlich nicht strafbar, aber der Fall wurde dennoch als „Hass-Vorfall“ (non-crime hate incident) aufgenommen. In Großbritannien werden schon seit Jahren allerlei absurde Dinge von den Behörden als Hass-Vorfälle kategorisiert, etwa 2017 eine Rede der damaligen Innenministerin Amber Rudd zur Einwanderungspolitik. In der Regel werden keine strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen. Die Fälle gehen allerdings stets in die Polizeistatistik ein.
Ärger bekommen haben diese Woche auch 60 Abgeordnete des britischen Oberhauses House of Lords. Wie die Daily Mail berichtet, fehlten die Parlamentarier bei einer Schulung zum Thema sexuelle Belästigung. Bei dieser bestand Anwesenheitspflicht, weshalb die Ethikaufsicht des Parlaments nun Ermittlungen gegen die Abgeordneten eingeleitet hat. Mögliche Strafen sind ein vorübergehender Ausschluss vom House of Lords sowie Nichtzahlung des Tagegeldes für Abgeordnete. Zu den 60 „Schwänzern“ gehört auch die 91-jährige ehemalige Sprecherin des House of Commons Betty Boothroyd, die sich aktuell von einer Herz-OP erholt und ohnehin seit Beginn der Coronapandemie zurückgezogen auf ihrem Anwesen außerhalb Londons lebt, wie von ihren Ärzten empfohlen.
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, 20. März 2021). Bestellbar hier.