Vor einer Woche erst war in den französischen Medien das Wort Bürgerkrieg auf allen Kanälen, der drohende Bürgerkrieg in Russland. Heute bezieht sich das selbe Wort auf das eigene Land.
Dieser Artikel ist ein Stimmungsbild aus Frankreich. Das Stimmungsbild kann nur unvollständig sein, da wir unmöglich mit allen Bürgern sprechen, alle Nachrichtensendungen ansehen, alle Tweets lesen, alle Städte besuchen können. Vor einer Woche erst war in den französischen Medien das Wort Bürgerkrieg auf allen Kanälen, der drohende Bürgerkrieg in Russland. Heute bezieht sich das selbe Wort auf das eigene Land.
Ihren Anfang nahm diese Entwicklung vergangenen Dienstag. Man erfuhr in Dauerschleife, dass ein 17-Jähriger von einem Polizisten erschossen wurde. Experten äußerten sich, die Altbekanntes wiederholten: Die Polizei müsse in den Problemvierteln viel präsenter sein, nicht nur, wenn es zu einem Notfall oder einer kriminellen Handlung komme. Es bräuchte mehr Initiavien und Projekte in diesen Wohnvierteln. Die Polizei müsse ihre Handlungsanweisungen und Handlungen überdenken.
Was der 17-Jährige getan oder unterlassen hat, wie es zu dieser Eskalation kam – darüber erfuhr man nichts*. Auffällig war, dass man den 17-jährigen Nahel zumeist als getötetes Kind bezeichnete, nur hin und wieder als Jugendlichen. Die Diskussion drehten sich um Polizeigewalt, die Begegnung zwischen den Polizisten und Nahel wurde als Verkehrskontrolle bezeichnet.
Nahel Merzouk hat in den letzten drei Jahren 15 Vorstrafen gesammelt. Fahren ohne Führerschein, ohne Versicherung, mit falschem Nummernschild. Hehlerei, Drogenhandel, fünf Anklagen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Zuletzt saß er am Wochenende vor seinem Tod aufgrund von Letztgenanntem in Untersuchungshaft. Natürlich rechtfertigt das nicht, dass ein Polizist ihn tötet.
Der Präsident buchstabierte den Vornamen falsch
Von einem Kind zu sprechen, das bei einer gewöhnlichen Verkehrskontrolle durch rassistische Polizeigewalt getötet wurde, gibt aber auch nicht die ganze Geschichte wieder. Der Anwalt des Polizisten gibt in Nachrichtenmagazinen sein Statement ab: Sein Mandant hätte auf die Beine Nahels gezielt. Das unerwartete Anfahren des Autos hätte die Waffe nach oben schnellen lassen, der Schuss sei deswegen in Nahels Brust gegangen.
Kaum diskutiert wird, ob es angemessen ist, dass zwei Polizisten bei einer Verkehrskontrolle von Beginn des Gesprächs an ihre Waffen in Anschlag haben. Unbekannt bleibt, wo die Mitfahrer im Auto abgeblieben sind und was sie zum Tathergang sagen. Unbekannt bleibt die Zeugenaussage des Kollegen des Polizisten, der geschossen hat.
Die Diskussionen drehen sich um die schwierigen Wohnviertel in den Vorstadtgürteln, um die inakzeptable Gewalt des Polizisten, die inakzeptable Gewalt auf der Straße, um die Agitation in den sozialen Medien. Dass die Mainstreammedien mit dieser Art von Berichterstattung eventuell ebenfalls zur Eskalation beitragen, fällt als Einzelmeinung unter den Tisch oder es gilt als rechtsextrem.
Der Präsident drückte am Dienstagabend in einem Tweet sein Mitgefühl mit der Famile aus und versicherte, dass die juristischen Schritte sofort eingeleitet worden seien. In seinem Tweet buchstabierte er den Vornamen falsch, er schrieb Naël.
Für den Dienstagabend rief Nahels Mutter zu einem Gedenkmarsch auf. Dort trugen sie und diverse Menschen um sie herum T-Shirts mit der Aufschrft „Gerechtigkeit für Nahel“. Das Gebaren der Mutter auf diesem Gedenkmarsch ähnelte dem einer Politikerin im Wahlkampf.
Es ist unklar und es soll unklar bleiben
Am Mittwochabend begannen die Unruhen. Bei denen auch viele mitmischen, die randalieren wollen, die plündern wollen, Leute, die sich für den Auslöser in Nanterre gar nicht interessieren. Es werden Gebäude in Brand gesteckt, die von den Medien als Symbole des französischen Staates bezeichnet werden: Komissariate, Präfekturen, aber auch Grundschulen und Bibliotheken. Inwiefern in Brand gesteckte Autos und geplünderte Lidl-Filialen ein Symbol des französischen Staates darstellen, ist uns nicht ersichtlich. Erinnern wir uns daran, dass es auch nach dem Sieg Marokkos im Fußballhalbfinale zu Vandalismus kam.
Präsident Macron besuchte am Mittwochabend das Konzert von Elton John in Paris.
Die Analayse der großen Medien und der Politiker ist, dass die sozialen Medien maßgeblicher Treiber der Ausschreitungen seien. Rufe nach mehr Kontrolle der sozialen Medien werden laut. Kein Wort der Selbstkritik, dass auch die Mainstreammedien über nichts anderes mehr gesprochen haben, jeder Hinweis auf das illegale Verhalten Nahels wurde als rechtsextrem gebrandmarkt. Zu keinem Zeitpukt gab es einen Versuch der Deeskalation. Nicht im Moment der polizeilichen Kontrolle, nicht in den Analysen der Medien danach, nicht seitens der Politik.
In Hintergrundsendungen im Radio wird man mit einer Serie von Kommentaren bombardiert, meistens ist es unmöglich, die Stimmen zuzuordnen. Wer spricht hier: Ist es eine Nachbarin der Familie, ist es ein Soziologe, ist es ein Bewohner eines Problemviertels, der aber seinerseits kein Problemfall ist, sondern einer geregelten Arbeit nachgeht – es wird nicht gesagt, die O-Töne werden schnell hintereinandergeschnitten. Es ist unklar und es soll unklar bleiben, es wird Stimmung gemacht, nicht informiert.
Am Sonntagmorgen sind die Unruhen nicht mehr die erste Nachricht
Die Ausrufung des Ausnahmezustands wird in Betracht gezogen. Plötzlich sind Umfragen da, dass sich sieben von zehn Franzosen die Ausrufung des Ausnahmezustands wünschen. Es wird gemahnt: Bleiben sie zu Hause. In manchen großen Städten wurde ab 18 Uhr der öffentliche Personennahverkehr eingestellt. Abendliche Ausgangssperren wurden diskutiert und regional ausgerufen, kulturelle Veranstaltungen abgesagt.
Die für Großveranstaltungen und Demonstrationen ausgebildeten polizeilichen Sonderkräfte CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) sind in alle Brennpunkte entsandt.
Der Tonfall der großen Medien ist seit Samstagabend gleichlautend: Die Polizeikräfte seien vor Ort, danach werden einige Zahlen abgesondert. Seit Donnerstag wird jeden Tag verlautbart: Ja, es gab wieder Ausschreitungen, aber diesmal weniger schlimm als in der gestrigen Nacht. Zahlenspiele, die an die Jahre 2020 bis 2022 erinnern – weniger schlimm geht beispielsweise so: Letzte Nacht waren es nur 78 statt 80 Feuerwehreinsätze.
Am Sonntagmorgen schließlich sind die Unruhen in den Radionachrichten nicht mehr die erste Nachricht, sondern der Streik der Journalisten der Wochenzeitung Journal de Dimanche. Dieser Streik begann am Donnerstag, es geht um den neuen Chefredakteur Geoffroy Lejeune. Er ist der Redaktion unwillkommen, da er zuvor für das Blatt Valeurs actuelles gearbeitet hat, das – je nach politischer Couleur – als konservativ oder auch als rechtsextrem bezeichnet wird. Zudem hat Geoffroy Lejeune im vergangenen Präsidentschaftswahlkampf Éric Zemmour unterstüzt.
Nachdem der Verfassungsrat Mitte April 2023 die Rentenreform abgesegnet hatte, sagte Präsident Macron in einer Ansprache ans Volk 100 Tage zur Befriedung des Landes an. Die letzten 20 Tage beginnen am Donnerstag. Und wir erinnern uns, wie die 100 Tage eines anderen französischen Staatsoberhaupts geendet haben.
*Wer sich über den eigentlichen Hergang am Dienstagmorgen in Nanterre informieren möchte, kann dies hier tun.
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Pierre Gustavson, Schnitttechniker, Dokumentarfilmer.
Marie Dufond lebt nach 27 Jahren in Süddeutschland, fünf Jahren in der Schweiz und 14 Jahren in Norddeutschland seit Februar 2020 in Südfrankreich. Sie ist studierte Expertin für Kommunikation, Stimme und Sprache.