Der Ernst der heutigen Lage Frankreichs
Die Verbindung von harten Reformen mit ungehemmter Globalisierung kann nicht funktionieren. Nur eine Politik, die solche Reformen von vornherein in den Rahmen eines stabilen, territorialstaatlichen Schutzes stellt, ist dauerhaft haltbar.
Diese Erwägungen erhalten ihr ganzes Gewicht, wenn man die heutige Lage der einzelnen Nationen betrachtet. Frankreich ist in mehrfacher Hinsicht in eine bedrohlich Schieflage geraten. Und das nicht erst seit kurzem, sondern schon seit längerer Zeit. Frankreich hat massive und andauernde Verluste bei seiner Industrie: Die Industrieproduktion des Jahres 2016 lag rund 14 Prozent unter dem Stand von 2008. Sie ist auf den Stand von 1993 zurückgefallen. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung, der 1959 noch 25 Prozent betragen hatte, war 2012 auf 10,2 Prozent gefallen. Er lag nicht nur niedriger als in Deutschland (21,8 Prozent), sondern auch als im EU-Durchschnitt (15,1 Prozent) – zum Beispiel niedriger als in Spanien, Italien, Tschechien, Polen, Österreich, Schweden.
Zugleich ist der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1980: 45 Prozent auf 2015: 57 Prozent gestiegen. Die Zunahme des Staatsanteils wirkt demnach nicht als Industrie-Sicherung, sondern als Industrieersatz. Die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben des Staates zeigt die typische Form einer Budget-Spirale: Es gibt nicht nur ein chronisches Defizit, sondern es ist ein chronisches Defizit im Wachstum. So stiegen zwischen 2007 und 2017 die Kurven der Einnahmen und Ausgaben fast parallel an. Sie sind eng miteinander verkoppelt, und keine politische Kraft war bisher in der Lage, dieses Zwangsgesetz, das neuen Einnahmen neue Ausgaben folgen lässt (oder umgekehrt), zu durchbrechen.
Dazu kommt ein elementares Sicherheitsproblem, das vor allem mit der arabisch-islamischen Migration zu tun hat. Frankreich sah sich gezwungen, angesichts islamistischer Terroranschläge den Ausnahmezustand auszurufen. Weniger sichtbar, aber elementarer ist hier, die Situation an den Schulen (wo Schüler mit islamischem Migrationshintergrund sich weigerten, die landesweite Schweigeminute für die Terroropfer einzuhalten, und in den (noch zu den Metropolräumen zählenden) Vorstädten, die von migrantischen Jugendbanden an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zu No-Go-Areas gemacht wurden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass in den großstädtischen Räumen auch bei einheimischen Bevölkerungsgruppen die Bindung zum kulturellen und zivilbürgerlichen Erbe der eigenen Nation geschwächt ist. Die Auflösung der territorialen Zugehörigkeit ist hier längst eine Realität und nicht nur eine theoretische Möglichkeit. Auch hier gibt es einen Zirkel der Hilflosigkeit, bei dem sich eine fehlende Gesetzes-Schärfe des Staates und eine fehlende Loyalität der Bürger gegenseitig verstärken.
Zwei verschiedene Modelle von Reformpolitik
Unterstellen wir einmal, dass in einem Land der Ernst der Lage gesehen wird und das es in ganz unterschiedlichen politischen Lagern einen Willen zu ernsthaften und auch einschneidenden Reformen gibt. Gewiss, es fällt ein bisschen schwer, das dem jeweils anderen politischen Lager zu konzedieren, aber es ist hilfreich, es einen Moment lang zu tun. Gehen wir außerdem davon aus, dass „schmerzhafte Einschnitte“ allein noch keine erfolgreiche Reformpolitik ausmachen können. Keine Politik wird als legitim anerkannt werden, die nur aus dem Element „Einschnitte“ besteht. Es muss ein zweites Element her, das eine Art Gegengewicht bildet und gewissermaßen im Austausch für die Akzeptanz von Einschnitten gegeben wird. Und genau bei diesem zweiten „kompensierenden“ Element gibt es einen grundlegenden Unterschied, der die Reformpolitik in die zwei Lager trennt, die sich heute gegenüberstehen.
- Zunächst zu Modell A: Wir gehen also davon aus, dass es hier wirklich Einschnitte gibt und diese auch nicht verschleiert werden. Das zweite kompensierende Element ist in diesem Modell - sehr generell formuliert – eine Öffnung ins Globale. Hier sollen Gewinnaussichten an Wohlstand und Geltung bestehen, die die Verluste bei Reformen ausgleichen. Man kann sicher nicht bestreiten, dass es bei einer solchen Öffnung immer etwas zu gewinnen gibt, du sei es nur, dass man Neuland betritt und einen größeren Umkreis des Handelns spürt. Die Frage ist, wie groß solche Gewinne sind, wie konkret sie sind, wann sie eintreten und wem sie zugutekommen. Die Frage ist auch, welche zusätzlichen Gefahren und Verluste diese Verbindung von Reform-Einschnitten und Weltoffenheit mit sich bringt. Und welche generelle Unsicherheit sie eventuell im Land auslöst.
- Zum Modell B: Auch hier unterstellen wir wirkliche, nicht verschleierte Einschnitte. Aber das zweite Element ist hier nicht Öffnung, sondern Schutz und Kontrolle – also eine Kompensation durch eine Auffangposition, deren Sicherheit die Einschnitte nicht existenzgefährdend werden lässt. Es werden also keine großen Gewinne an Wohlstand und Geltung in Aussicht gestellt, sondern etwas Bescheideneres, das aber direkter herstellbar und in seinen Wirkungen überprüfbar ist; das weniger zusätzliche Gefahren mit sich führt und daher weniger Unsicherheit erzeugt; und das auch gleichmäßiger verteilt ist.
Man sieht, wie eng diese beiden Modelle mit dem Unterschied zwischen der „urbanen“ Ordnungsidee und der „territorialen“ Ordnungsidee verbunden sind. Natürlich sind die beiden Modelle von Reformpolitik stark vereinfacht. In der Realität wird das Modell „Reform und Weltoffenheit“ einige Elemente in Richtung Stabilität und Sicherheit enthalten. Und selbstverständlich wird das „Reform und Protektion“ Außenhandel, internationale Diplomatie und eine (verlässlich begrenzte) Zuwanderung enthalten. Aber um die Fähigkeit zu beurteilen, dauerhafte Reform-Mehrheiten zu bilden, ist diese vereinfachte Darstellung hilfreich.
Das notorische Scheitern des Modells „Reform und Weltoffenheit“
Es ist ohne Zweifel so, dass gegenwärtig in Frankreich und in einer Mehrheit der EU-Länder Modell „Reform und Weltoffenheit“ regiert. Wobei man gleich einschränken muss: Das Reformelement, das zu Beginn der Regierungszeit Macrons noch sichtbar war, ist inzwischen weitgehend festgefahren und abgebrochen. In Deutschland gab es in der Ära Merkel überhaupt keine Reformen, die man mit „einschneidend, aber entlastend“ beschreiben könnte. Im Gegenteil wurden dem Land zusätzliche Kosten, Versorgungs-, Haftungs- und Rechtsansprüche aufgebürdet, der Last nur dadurch verdeckt ist, dass Deutschland bis vor kurzem noch von einer außenwirtschaftlichen Sonderkonjunktur getragen wurde. So konnte hier die Problematik der Modells A von vornherein nicht zum Ausbruch kommen.
In Frankreich aber ist das der Fall, und dies beschränkt sich nicht nur auf die Präsidentschaft von Emanuel Macron, sondern auf alle die Mehrheiten, die seine Vorgänger - insbesondere auch Nicolas Sarkosy und Francois Hollande – jeweils gesammelt hatten. Immer gab es den gleichen Verlauf: Ein Start mit viel Reformelan und großen Sympathiewerten, die dann sehr schnell verloren gingen. Der Zauber des Aufbruchs und Anfangs macht schnell einer Ernüchterung Platz. Dies Politikmodell verschliss ihre Führungsfiguren. Es verschliss sogar die tragenden Parteien der jeweiligen Regierungsmehrheiten, es raubte ihnen ihren Charakter als Volksparteien, es zerstörte große Parteitraditionen, wie die der sozialistischen Partei Frankreichs und der Gaullisten. Und das liegt tatsächlich an der Bauweise dieser Politik. Denn sie enthielt ja kein dezidiert stabilisierendes Element, keinen „Protektionismus“.
Stattdessen war sie immer darauf angewiesen, die „Offenheit“ mit rosigen Versprechungen aufzuladen. Immer musste man auf ein „Herauswachsen“ aus der Krise setzen. Und immer ferner rückte dies „Neuland“ einer alle Probleme lösenden Prosperität. Auch die wiederholten „Europa-Initiativen“ Macrons folgen dieser Logik: Sie sollen immer wieder eine vage Hoffnung nähren, dass da draußen ein größeres Ganzes wartet, das Frankreich für seine inneren Verluste kompensiert. Deshalb hängt dies Politik so stark am Euro – und vor allem an der EZB-Politik des billigen Geldes, das letztlich der einzige zählbare Gewinn der Öffnung ist. Und da das realwirtschaftlich keine zählbare Kompensation bedeutet (insbesondere nicht bei Industriearbeitsplätzen), setzt Macron verstärkt auf kulturelle Kompensationen und auf das „große Projekt“ einer Klimarettung – was insgesamt vor allem Inszenierungen für und durch die gehobenen Sozialschichten der Großstädte sind.
Der Neo-Autoritarismus
Das alles wird nicht verbergen können, dass die Lösung „Kompensation durch Offenheit“ zunehmend fiktiv wird. Und dass damit das Gesamtgebäude dieses Politikmodells aus dem Gleichgewicht gerät. Sie kann der Politik immer weniger eine Legitimität geben. Sie kann die Bürger nicht mehr im ausreichenden Maß motivieren. Sie erzeugt Resignation, Passivität, Rückzug, Widerwillen, Widerstand im Binnenland. Aber auch znnehmende Ernüchterung und Verteilungskonflikte in den metropolitanen Räumen.
Vor diesem Hintergrund wird das Handeln in diesem Politik-Modell A zunehmend autoritär. Die Liberalität, die das Element der „Weltoffenheit“ versprach, verschwindet. Das Regieren bekommt nun eine forcierte Tonlage. Die Maßnahmen werden zunehmend negativ – belastend, zerstörend: Sie arbeiten mit Preiserhöhungen, Steuerhöhungen, Normerhöhungen, Verboten. An dieser Stelle kommen wir nochmal auf den Ausgangspunkt der Bewegung der „Gelben Westen“ zurück - das war ein ganzes Negativprogramm gegen das Automobil, das die autofahrenden Bürger buchstäblich in die Enge trieb: Vervielfachung der Radarkontrollen, Geschwindigkeits-Begrenzung auf Landstraßen auf 80 Stundenkilometer, Preiserhöhungen für Benzin, eine "ökologisch" genannte Steuer auf Brennstoffe, schärfere und teurere Überprüfungen der technischen Fahrzeug-Sicherheit, Abkehr von der Diesel-Technologie. Die „Anreize“ werden nun neue Steuern und Strafen.
Und auch in der politischen Rede spielen nun nicht „Werte“, sondern Feindbilder die Hauptrolle. Wo das eigene Politikmodell nicht mehr zu überzeugen weiß, muss das andere Politikmodell, das eine mögliche Alternative darstellen könnte, als finsterer Feind an die Wand gemalt werden. Im Ernst will Herr Macron den Franzosen weismachen, dass alles andere als seine Politik eine Form von „Rechtsextremismus“, „nationale Abschottung“ und „Rassismus“ sei. Das kennen wir ja auch aus Deutschland. Die Vertreter des Politikmodells A behaupten, dass das Politikmodell B auf eine Wiederkehr des NS-Regimes hinauslaufe.
Soll man nun mit gleicher Münze zurückzahlen, und behaupten, dass in Wahrheit das Politikmodell A „totalitär“ sei? Nein, das trifft es nicht. Denn hier ist nicht eine große Gewaltmaschinerie am Werk, die im Grunde ständig Krieg nach innen oder außen führt. Die Form der Ausübung politischer Macht, die im Modell A am Werk ist, ist milder, sie arbeitet nicht nur mit Unterdrückung, sondern auch mit Zuwendungen und Versprechungen. Deshalb erscheint es mir sinnvoller, von einem anderen Autoritarismus zu sprechen, der die Gesellschaft tiefer infiltriert und sie durch ständige kleine Eingriffe demoralisiert. Als Alexis de Tocqueville in seinem 1840 erschienen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ versuchte, die Gefahr zu beschreiben, die einem Land in modernen, demokratischen Zeiten droht, schrieb er folgende Sätze:
„So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen hat und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Natur schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung ist.“
Das ist nicht als Zwangsgesetz der Moderne zu verstehen. Es ist eine Gefahrenbeschreibung, aber keine Prognose. Denn Tocqueville, der von den Verhältnissen in Amerika und der Dynamik des Landes sichtlich fasziniert war, sah auch mächtige Gegenkräfte, die dies Regime einer kleinlich-fürsorglichen Vormundschaft konterkarieren. Darunter zählt er vor allem die „industrielle Leidenschaft“ und auch die Gemeinschaftsbildung und Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. In der Gesamtbilanz sah Tocqueville in den USA eine Freisetzung von Energien. Und Tocqueville hat mit dieser Gesamtsicht, wenn man an das „amerikanische 20. Jahrhundert“ denkt, sicher recht gehabt.
Ein restriktives Szenario, aber kein ultimatives Szenario
Allerdings gibt es einen kritischen Punkt in dem „amerikanischen Szenario“, das Tocqueville beschreibt: Es müssen sich im Binnenraum eines Landes immer wieder neue Aktivitätsfelder eröffnen. Das Szenario muss ein expansives Szenario sein. Das gilt für die Vereinigten Staaten von Amerika im 19. und 20. Jahrhundert ohne Zweifel – jedenfalls über weite Strecken. Das gilt auch für viele Länder Europas, die sich oft erst im 19. Jahrhundert zu modernen Nationalstaaten mit starker Binnenentwicklung bildeten. Im 20. Jahrhundert werden die expansiven Phasen weniger, und gegen Ende des 20. Jahrhunderts werden die Räume enger, die Stellung Europas und Nordamerikas in der Welt relativiert sich, und das Wachstum wird mehr und mehr zu einem (neo-keynsianisch) animierten Wachstum. Damit bekommt der von Tocqueville beschriebene Neo-Autoritarismus tatsächlich die Oberhand.
Und dieser Autoritarismus steht selber auch nicht mehr so souverän da, wie ihn Tocqueville noch beschreibt. Die fürsorgliche, behütende Macht, die die Bürger in „eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere“ verwandelt, bröckelt. Ihre „gewaltigen Hände“ schwächeln. Sie kann selbst elementare Maßnahmen bei der Sicherheit, der technischen Infrastruktur, der Vermittlung der Bildungsbestände, des Schutzes der Außengrenzen nicht mehr durchsetzen. Die Resultate der „Weltoffenheit“ überzeugen nicht und keine Autorität begründen, die zu nachhaltigen Reformmaßnahmen in der Lage wäre. Der Neo-Autoritarismus zunehmend erratischer und anarchischer.
Wir müssen also über das restriktive Szenario sprechen, in dem sich die fortgeschrittenen Länder – viel mehr als die Schwellenländer – befinden. Dieser Ernst der Lage muss wirklich ernst genommen werden. Hier ist es mit neuen Eliten oder charismatischen Heldenfiguren nicht getan. Es gilt aber auch das Gebot, das wirkliche Maßder Restriktion zu finden - und davon auszugehen, dass es einen Punkt der Bodenbildung gibt, an dem der Niedergang gestoppt werden kann. Das ist der Sinn einer Politik der Konsolidierung.
Die Krise des Politikmodells A und das Gefühl der Hilflosigkeit, das dadurch entsteht, führt oft zu dem Eindruck, dass der Verfall eines Landes unaufhaltsam und grenzenlos ist. Das kann zu einem ultimativen politischen Denken führen – etwa nach dem Muster des Satzes: „Entweder wir halten jetzt sofort den Verfall auf, oder alles ist vorbei“. Einen solchen Diskurs gab es im Vorfeld des ersten Weltkrieges, der von der Hatz des „Zuvorkommens“ (durch Krieg der Verdrängung zuvorkommen) getrieben war. Einen solchen Diskurs gab es bei der extremen Linken: „Entweder kommt die Revolution dem Krieg zuvor, oder der Krieg der Revolution“. Doch die Vorstellung eines ultimativen Verfalls, eines „Untergangs von Rom“, der nun der modernen Zivilisation bevorsteht, entsprecht nicht der Realität. Das restriktive Szenario, das für die entwickelten Nationen der Moderne im 21. Jahrhundert gilt, bedeutet eine Restriktivität auf hohem Niveau. Kein Zusammenbruch auf breiter Front, sondern ein Sinken der Zuwachsraten bei der Produktivität, der Wertschöpfung und damit beim Wachstum. Ein Sinken der Zuwachsraten wohlgemerkt, nicht ein Sinken von Produktivität und Wertschöpfung, und auch kein Minuswachstum. Das ist der Raum, der für eine Politik der Konsolidierung tatsächlich existiert. Schon heute besteht ein großer Teil der Leistungsfähigkeit eines entwickelten Landes darin, dass Betriebe, Infrastrukturen und Bildungseinrichtungen tagaus, tagein ihre Leistungen einfach nur wiederholen.
Die Moderne fällt also nicht um, wenn es kein ständig sich steigerndes „Vorwärts!“ gibt. In der gegenwärtigen Lage kann sich zeigen, dass die Moderne allein schon als relativ statisches „langsames“ Gebilde lebensfähig und legitim ist. Und dass sie schon auf diesem Niveau allen vorherigen Geschichtsepochen überlegen ist. Sie hat die Binnenräume dieser Welt nachhaltig weiter gemacht - und die Herzen auch.
Das Modell „Reform und Schutz“
Das oben beschriebene Politikmodell B „Reform und Schutz“ passt zu diesem restriktiven, aber nicht ultimativen Szenario. Es enthält das dringend Gebotene – vor allem das stabilisierende Element des Schutzes – und es ist auch genügend Substanz im Land, die sich zu schützen lohnt und die auch die Kraft zum Selbstschutz hat. Damit kommen wir noch einmal auf die Bewegung der „Gelben Westen“ und auf das „periphere Frankreich“ zurück. Hier ist eine der Kräfte sichtbar geworden, die diese Form des Politischen tragen kann. Hier ist auch deutlich geworden, welche Punkte wichtig sind, damit die Verbindung „Reform und Schutz“ wirklich stimmt und vom Modell A unterscheidbar ist.
Gegen das Gelbwesten-Lager wurde der Vorwurf erhoben, dass sie die französische Haushaltsmisere noch verschärfen würde – weil es Steuererhöhungen ablehnt, aber zugleich Mehrausgaben für die Peripherie fordert. Das entspricht nicht ganz den Fakten: Denn das periphere Frankreich ist gar nicht der Hauptempfänger staatlicher Ausgaben. „Viele der zahlreichen Sozialleistungen Frankreichs entgehen ihnen, trotzdem werden sie vom Fiskus hart rangenommen“schreiben C. Schubert und C. Budras unter Berufung auf Finanzfachleute (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.12.2018). Tatsache ist auch, dass aus den Reihen der „Gelben Westen“ selten direkte Versorgungsleistungen gefordert werden, sondern oft nur die Erhaltung und Sanierung von Infrastrukturen in der Fläche (Verkehr, Gesundheit, Bildung, Kultur, Verwaltung). Die Gewohnheit und Bereitschaft zur Selbsthilfe sind also da. An der Peripherie kommt man ohne jenes enge Fördern und Betreuen aus, das in den großen Städten erwartet wird. Reformen, die in das wuchernde soziale Netz einschneiden, sind daher eher ein Problem der empfindlichen Großstädter als der Bewohner des „tiefen Frankreich“. Es ist daher wichtig, dass sich die Peripherie nicht vor den Karren einer „Sozialbewegung“ spannen und für typisch „urbane“ Ansprüche instrumentalisieren lässt. Der deutsche Begriff „gleichwertige Lebensbedingungen“ hilft da nicht weiter, weil er zu dicht bei einer törichten Gleichmacherei liegt.
Wichtig ist eine elementare, ortsnahe, flächendeckende Grundsicherung bei den Infrastrukturen. Eine beständige garantierte Verfügbarkeit für eine unregelmäßige Nachfrage – niemals für eine Übernahme der gesamten Lebensführung. Das meint „Schutz“ im Unterschied zu „Lebensqualität“. Auf den öffentlichen Versammlungen der Gelben Westen sind auch Forderungen nach institutionellen Garantien laut geworden: Die Erhaltung von Vertretungskörperschaften und Verwaltungen auf der kleinräumigen, kommunalen Ebene; auch die Erhaltung der „Départements“ als regionale Elementareinheit im ganzen Land – also insgesamt eine strikte und flächendeckende Subsidiarität zwischen verschiedenen Staatsebenen.
Zugleich liegt es in der Natur der Sache, dass das Schlüsselelement dieser Politik – der Schutz – zu einem großen Teil auf der Ebene des Gesamtstaats gewährleistet werden muss: Staatshaushalt und Währung, Grenzhoheit, Schutz von Schlüsselindustrien, Definition der unverzichtbaren Kernbestände des Bildungssystems, Entscheidung über Krieg und Frieden… Man kann das den Stabilitätsvorbehalt einer staatlichen Verfassung nennen, die einzelne Rechtsansprüche soweit einhegen muss, dass sie nicht den Fortbestand des Landes gefährden. Es wurde in den Gelbwesen-Versammlungen durchaus deutlich, dass nicht nur lokale und regionale Interessen vertreten wurden, sondern auch der Zustand des französischen Nationalstaates und die Souveränitätsfrage im Raum stand. Hier wurde die Grundlogik des Politikmodells „Reform und Schutz“ dann oft besonders deutlich. Man ist bereit, Opfer zu bringen, aber nicht, solange Souveränität und Verantwortung in ein Niemandsland (halb französisch, halb europäisch) ausgelagert sind und der Raum des Schutzes nicht eindeutig eingegrenzt ist. Opfer und offene Grenzen – das ist eine absolut unhaltbare Kombination. Und das habe ich im Originalton in sehr einfachen und klaren Worten in den vergangenen Monaten immer wieder gehört.
Zurück nach Deutschland
In diesem Herbst steht Deutschland vor einer folgenschweren Entscheidung. Werden die Regierenden aus Anlass des Klimawandels ihre Hochpreis-Politik auf CO2-Emissionen (durch Besteuerung oder Emissionshandel) verschärfen und damit den Weg einschlagen, der in Frankreich eine so große Verbitterung ausgelöst hat und das Land nachhaltig gespalten hat? Werden sie das Geld zur Scheidelinie zwischen dem ökologisch „Guten“ und „Bösen“ machen? Werden sie damit das Geld auch in einem ganz neuen Maße zum obersten Richter über das Verkehrs- und Siedlungssystem machen? Und zum Scharfrichter über Sein oder Nichtsein von Existenzen und Lebensformen?
Man hat hierzulande ja schon reichlich Normen- und Kosten-Erhöhungen in dieser Richtung beschlossen, aber jetzt würde man wirklich eine Spaltung des Landes herbeiführen, eine Spaltung der Republik. Nein, das ist keine Übertreibung, denn man muss bedenken, dass es bei dieser Politik nicht um die Antwort auf ein kleineres Problem geht. Die Regierenden haben ja praktisch einen „Klima-Notstand“ ausgerufen und dies Anliegen zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten deutschen Politik erklärt. Und dieser Notstand soll jetzt so eingerichtet werden, dass die einen sich freikaufen können, während die anderen ihre ganze bisherige Existenz nicht mehr halten können.
Es wird vielleicht noch ein bisschen dauern, bis Deutschland gewahr wird, wie übel es da zugerichtet wird von einer politischen Klasse, die immer mehr ein Alles-oder-Nichts-Spiel treibt. So hat sich in Frankreich die Macron-Mehrheit auch aufgeführt – bis zum November 2018, als die Gelben Westen ihr den Schneid abkauften …
Den ersten Teil dieser Beitragsfolge finden Sie hier.
Den zweiten Teil dieser Beitragsfolge finden Sie hier.
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