Von Karl-Heinz Dehner.
Die Pläne der EU zur „Wiederherstellung der Natur“ bedrohen die Welternährung. Nicht CO2-Reduktion oder mehr Artenvielfalt würden erreicht, sondern ein weniger erschwingliches Lebensmittelangebot.
Das EU-Parlament hat am 12. Juli mit knapper Mehrheit für das EU-Renaturierungsgesetz gestimmt (Achgut berichtete). Das Gesetzesvorhaben nennt sich „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“ und ist ein zentraler Teil des European Green Deal, eines Maßnahmenpakets, das Europa nach den Vorstellungen der EU-Kommission bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral machen soll. In der Begründung heißt es gleich zu Beginn: „Gesunde Ökosysteme bieten Nahrungsmittel und Ernährungssicherheit, sauberes Wasser sowie CO2-Senken und schützen vor mit dem Klimawandel einhergehenden Naturkatastrophen.“ Tatsächlich dominiert aber der „Klimaschutz“, während die Ernährungssicherheit unter den Maßnahmen eher leiden wird. Die Verordnung sieht unter anderem vor, 20 Prozent der Naturräume (Land und Wasser) in ihren Ausgangszustand zurückzuversetzen. Darunter fällt auch die Wiedervernässung von ursprünglichen Moorböden.
Sie ergänzt die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030, die ein zentraler Bestandteil des europäischen Green Deal ist, und macht die darin gesetzten Ziele für die „Wiederherstellung der Natur“ verbindlich. Die EU-Biodiversitätsstrategie formuliert zum einen das Ziel, 30 Prozent der EU-Landfläche gesetzlich zu schützen und ein Drittel dieser Fläche unter strengen Schutz zu stellen. (Geschützte Gebiete entsprechen im Wesentlichen den Natura-2000-Gebieten, in denen wirtschaftliche Nutzung zwar zugelassen ist, sich aber den jeweils definierten Zielen zur Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung der Artenvielfalt zu unterwerfen hat. In den unter strengen Schutz gestellten Gebieten soll die Natur weitgehend sich selbst überlassen bleiben, was jede Form wirtschaftlicher Nutzung ausschließt. Immerhin darf die Bevölkerung diese streng geschützten Gebiete weiterhin betreten.) Darüber hinaus schlägt sie mit Blick auf die Landwirtschaft vor, mindestens zehn Prozent der landwirtschaftlichen Fläche so zu nutzen, dass hier nicht mehr die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Vordergrund steht, sondern die Bereitstellung von Lebensraum für Wildtiere und -pflanzen.
Die Biodiversitätsstrategie ist eng verbunden mit der „Farm to Fork“-Strategie (F2F) der EU-Kommission und ergänzt sie, indem sie der Landwirtschaft in der EU weitgehende Beschränkungen auferlegt. Zu den spezifischen Zielen der F2F- und Biodiversitätsstrategie gehören: Reduzierung des Düngemitteleinsatzes um 20 Prozent, Halbierung des Einsatzes und des Risikos chemischer Pestizide und Antibiotika, Ausweitung des ökologischen Landbaus auf 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und Rückführung von mindestens 10 Prozent der Agrarflächen in Landschaften mit hoher Artenvielfalt. Außerdem sollen bis 2040 25 Prozent und bis 2050 35 Prozent der trockengelegten Moorböden wiedervernässt werden. In Deutschland wären davon etwa acht Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche betroffen.
Ziel der Ernährungssicherheit in Gefahr
In der Plenardebatte am 11. Juli gab César Luena, Berichterstatter für den Umweltausschuss und Fraktionsmitglied der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) im Europäischen Parlament zur Begründung des Vorhabens an:
„81 Prozent der Lebensräume [sind] in einem schlechten Zustand. 84 Prozent der Kulturpflanzen sind von der Bestäubung durch Insekten abhängig, und die Insekten verschwinden. 70 Prozent der Böden sind degradiert, was die Nahrungsmittelproduktion und -verfügbarkeit gefährdet und die Agrarökosysteme anfälliger für Schäden durch extreme Wetterereignisse macht.“
Dabei beruft er sich auf den Internationalen Biodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services), seiner Meinung nach eine „wissenschaftliche Plattform, die die führenden Experten auf diesem Gebiet der Europäischen Umweltagentur, des Europäischen Bodenobservatoriums und des jüngsten Copernicus-Klimaberichts zusammenbringt“. EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius hatte auch ein paar große Zahlen zur Hand: „Die Hälfte des weltweiten Sozialprodukts hängt von der Natur ab, und 75 Prozent unserer Nutzpflanzen sind von der Bestäubung abhängig.“
Luena spricht von Unwahrheiten und Falschmeldungen, die über das Vorhaben verbreitet worden seien. Damit zielt er auf die von Landwirten vorgetragenen Warnungen vor den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des EU-Vorschlags ab. Dort wird befürchtet, große Teile landwirtschaftlicher Flächen könnten aus der Nutzung genommen oder deren Produktivität durch Wiedervernässung verringert werden. Damit sei das Ziel der Ernährungssicherheit in Gefahr. Luena behauptet kühn, die „Wissenschaft" würde das Gegenteil zeigen. Doch so einfach lassen sich die Einwände nicht vom Tisch wischen.
Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion
In der Tat gibt es eine Reihe von Studien, die mit unterschiedlichen Methoden versucht haben, die ökonomischen und ökologischen Folgen der Umsetzung der Ziele der F2F und der Biodiversitätsstrategie abzuschätzen (u.a. Beckman et al., 2020; Barreiro-Hurle et al., 2021; Bremmer et al., 2021; Henning et al., 2021). Alle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Verwirklichung der vorgegebenen Umweltziele der F2F sowie der damit zusammenhängenden Ziele der Biodiversitätsstrategie des Europäischen Green Deal zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion in Europa führen wird. Dies wird einen Anstieg der europäischen Agrarimporte und einen Rückgang der Exporte zur Folge haben, was sich in höheren Lebensmittelpreisen auf den Weltmärkten und einer verringerten weltweiten Ernährungssicherheit niederschlägt. Außerdem erhöhen die größeren Importe von außerhalb der EU den Landverbrauch in anderen Regionen.
In der Studie der Forschungsabteilung des US-Landwirtschaftsministeriums (Beckman et al., 2020) wurden drei Szenarien betrachtet. Das erste Szenario geht davon aus, dass die Ziele der Strategien in der EU, nicht aber in der übrigen Welt umgesetzt werden und keine Handelsbarrieren errichtet werden. Das zweite Szenario, ein „mittleres Szenario“, dehnt die Beschränkungen für landwirtschaftliche Betriebsmittel auf jene EU-Handelspartner aus, die von Lebensmittel- und Agrarexporten in die EU abhängig sind. Im dritten Szenario, dem „globalen Szenario“, betrachtet die Studie die Auswirkungen des Extremfalls einer weltweiten Übernahme der Strategien, was der Wunschtraum der EU-Strategen sein mag. Untersucht wurden die Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die Nahrungsmittelpreise und die Ernährungssicherheit.
Nicht genehme Studien
Bei einer Umsetzung der Strategien in der EU, nicht aber in der übrigen Welt (was wohl das wahrscheinlichste Szenario ist) wird den modellbasierten Berechnungen zufolge die Agrar- und Lebensmittelproduktion in der EU um 12 Prozent zurückgehen. Besonders starke Einbußen werden bei den Ackerkulturen prognostiziert, nämlich ein Rückgang der erzeugten Mengen um 49 Prozent bei Weizen, 20 Prozent bei anderen Getreidearten und Zuckerrüben und 60 Prozent bei Ölsaaten. Die europäischen Agrar- und Lebensmittelexporte würden um 20 Prozent zurückgehen und die Importe in die EU um 2 Prozent zunehmen. Die Nahrungsmittelpreise in der EU würden um 17 Prozent steigen. Die Studie beziffert den weltweiten Verlust an Wohlstand auf 96 Milliarden US-Dollar, wovon 84 Milliarden US-Dollar zulasten der EU gehen. Weltweit würden sich infolge der verringerten Produktion in der EU die Nahrungsmittelpreise um durchschnittlich 9 Prozent erhöhen und die Zahl der Menschen ohne sichere Lebensmittelversorgung würde sich um 22 Millionen erhöhen.
Auch die Studie von Agrarökonomen der Universität Kiel (Henning et al., 2021) kommt zu dem Ergebnis, dass die F2F-Strategie zu einem signifikanten Produktionsrückgang und entsprechenden Preissteigerungen in der EU führen wird. Die Abschätzung der Agrarökonomen basiert auf dem CAPRI (Common Agricultural Policy Regionalized Impact) Modell, das vom Joint Research Center (JRC) der EU-Kommission entwickelt wurde. Den Modellergebnissen zufolge belaufen sich die Produktionsrückgänge in der gesamten EU im Einzelnen auf über 20 Prozent bei Getreide und Ölsaaten, 20 Prozent bei Rindfleisch und über 6 Prozent bei Milch. Dies geht mit Preissteigerungen für Agrarprodukte in der EU einher, wobei die stärksten Preisanstiege bei Rindfleisch (plus 58 Prozent), Schweinefleisch (plus 48 Prozent) und Rohmilch (plus 36 Prozent) zu verzeichnen sind. Für pflanzliche Produkte werden Preissteigerungen zwischen 15 Prozent für Obst und Gemüse, 18 Prozent für Ölsaaten und 12,5 Prozent für Getreide für Getreide prognostiziert.
Aufgrund des Rückgangs der landwirtschaftlichen Produktion prognostiziert die Studie eine Verringerung der Treibhausgasemissionen in der EU um 109 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Jedoch würden der Rückgang der Exporte und die Zunahme der Nahrungsmittelimporte aus Nicht-EU-Ländern dort zu einer Zunahme der Treibhausgasemissionen um 54 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent führen, womit die Hälfte des erzielten Gewinns wieder zunichte gemacht würde. Darüber hinaus würden Landnutzungsänderungen in der EU zusätzliche Emissionen in Höhe von 50 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent verursachen. Infolgedessen ergibt sich bei Umsetzung der F2F-Strategie praktisch eine neutrale Treibhausgas-Bilanz von 109-50-54=5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Studie der Wissenschaftler des JRC der EU-Kommision (Barreiro-Hurle et al., 2021). Diese Folgenabschätzung wurde von der EU-Kommission beauftragt und nach Fertigstellung sechs Monate unter Verschluss gehalten, weil die Ergebnisse nicht genehm waren.
Bei einer Umsetzung der vorgeschlagenen EU-Ziele zum Green Deal erwarten die Wissenschaftler Produktionsrückgänge von 5 bis 15 Prozent, die am stärksten bei der Rinderhaltung ausfallen. Bei Getreide werden ein Rückgang der Getreideanbaufläche um 4 Prozent und der Getreideerträge um 11 Prozent als Folge verminderter Düngung und geringeren Pflanzschutzes prognostiziert, wodurch sich die Getreidernte um etwa 15 Prozent verringert. Obwohl die Anbauflächen für Gemüse und Dauerkulturen in dem betrachteten Szenario stabil bleiben, gehen die Ernten infolge der geringeren Erträge im ökologischen Anbau um 12 Prozent zurück.
Rückgang der landwirtschaftlichen Erzeugung
Die Reduktionsziele für die Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft (CH4 und N2O) erfordern eine deutliche Verringerung der Tierbestände, unter anderem um die Effekte der Gülleausbringung zu verringern und eine Verbesserung der Stickstoffbilanz zu erreichen. In der Folge sinkt das Fleischangebot um 14 bis 16 Prozent und das Rohmilchangebot schrumpft um etwa 10 Prozent, was zu steigenden Fleisch- und Milchpreisen führt. Wie stark der Anstieg ausfallen wird, hängt letztlich auch von der Elastizität der Nachfrage ab (das heißt wieviel Fleisch und Milch die Verbraucher zu höheren Preisen noch kaufen würden).
Die Modellrechnungen der Wissenschaftler zeigen indes, dass das eigentliche Ziel der Maßnahmen – nämlich die deutliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen – verfehlt wird. Die geschätzte Verringerung der landwirtschaftlichen CH4- und N2O-Emissionen in der EU um 15 Prozent wird zu zwei Dritteln durch den Anstieg der Emissionen in der übrigen Welt infolge der höheren Importe und geringeren Exporte der EU zunichte gemacht. Reduziert werden könnte die Verlagerung der Emissionen nach Ansicht der JRC-Wissenschaftler durch eine Ernährungsumstellung auf mehr pflanzliche Produkte sowie durch weniger Lebensmittelverschwendung (dazu unten mehr).
Die Forscher der Wageningen University & Research (WUR) (Bremmer et al., 2021) verknüpften detaillierte kulturspezifische Fallstudien für zehn Kulturen in sieben EU-Ländern mit dem partiellen Gleichgewichtsmodell AGMEMOD (Agricultural Member State Modeling). Sie berechneten die Auswirkungen anhand von vier Szenarien, die aus den Strategien abgeleitet wurden. Das erste Szenario geht von einer 50-prozentigen Reduzierung von Pestiziden aus. Szenario 2 unterstellt eine 20-prozentige Verringerung des Düngemitteleinsatzes, und Szenario 3 betrachtet die Umstellung von mindestens 25 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen auf den ökologischen Landbau. Szenario 4 schließlich vereint die Ziele der ersten beiden Szenarien mit dem Ziel, mindestens 10 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen der Natur zu überlassen. Dieses letzte Szenario gibt den besten Einblick in die gesamte Wirkung der vorgeschlagenen Maßnahmen.
Die Evaluierung auf Makroebene zeigt, dass die Umsetzung der Ziele der F2F- und Biodiversitätsstrategien zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Erzeugung in der gesamten EU um durchschnittlich 10 bis 20 Prozent bei den einzelnen Kulturpflanzen führen wird. Bei einigen Kulturen, wie zum Beispiel Äpfeln, kann die Produktionsmenge um bis zu 30 Prozent zurückgehen. Darüber hinaus ziehe ein verringerter Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln Qualitätsprobleme nach sich. Getreide könne anfällig für Pilze und damit unbrauchbar für menschliche Ernährung und tierische Verfütterung werden (was im krassen Gegensatz zu den „Food waste reduction targets“ der EU-Kommission steht). Auch die Qualität von Obst und Gemüse würde leiden.
Nachteile gravierender als Vorteile
Die vier aufgeführten Studien über die Auswirkungen der Strategien und ihrer vier Zielvorgaben unterscheiden sich in ihrer Methodik und den zugrunde liegenden Annahmen. Ihre Autoren weisen zudem auf ihre Grenzen hin. Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen hinsichtlich des Rückgangs der europäischen Produktion erklären sich insbesondere durch die unterschiedliche Gewichtung der von den Autoren bis 2030 unterstellten technischen Fortschritte in der Landwirtschaft, die die erwarteten negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Erträge bremsen könnten.
Die EU-Kommission und die Befürworter der Strategien weisen immer wieder darauf hin, dass alle diese Studien vom derzeitigen Lebensmittelverbrauch in Europa ausgehen, ohne mögliche Verringerungen der Lebensmittelverluste und Änderungen der Ernährungsgewohnheiten zu berücksichtigen, wie sie im Green Deal gefordert werden. Doch deren kurz- und mittelfristige Realisierbarkeit ist fraglich, wie die WUR-Studie im Hinblick auf die Lebensmittelverluste gezeigt hat.
Trotz unterschiedlicher Methoden und Schwerpunktsetzung gelangen die aufgeführten wissenschaftlichen Abschätzungen zur Farm to Fork-Strategie zu weithin überstimmenden Ergebnissen:
- Rückgang der Erträge und der landwirtschaftlichen Produktion: Die Getreideproduktion in der EU würde je nach Studie und Getreideart um 15 Prozent bis 50 Prozent sinken.
- Anstieg der Agrar- und Lebensmittelpreise in der EU
- Rückgang der Einkommen von Landwirten
- Anstieg der Importe, Rückgang der Exporte und Verschlechterung der europäischen Handelsbilanz
- Nur begrenzte globale Umweltvorteile in Hinblick auf den Klimaschutz aufgrund der Kompensation durch die steigende Agrarproduktion in der übrigen Welt.
Insgesamt scheinen die negativen Auswirkungen auf die Nahrungsmittelkosten und die Ernährungssicherheit deutlich sicherer und gravierender als die zu erwartenden Vorteile in Hinblick auf den Klimawandel.
Die Rolle der Insekten
In der Debatte um die Biodiversitätsstrategie wird immer wieder behauptet, die Ernährungssicherheit sei durch den Rückgang der Insektenpopulationen gefährdet. Zur Abhängigkeit der Kulturpflanzen von der Bestäubung durch Insekten nennt der Berichterstatter für den Umweltauschuss des EU-Parlaments eine Zahl (84 Prozent), deren Herkunft sein Geheimnis ist, die vom EU-Umweltkommissar genannte Zahl (75 Prozent) findet sich im Statusbericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES, einer zwischenstaatlichen Organisation, die nach Vorbild des UN-Klimarats IPCC beansprucht, die maßgebliche Wissenschaft zu verkörpern.
Im IPBES-Bericht heißt es:
„Mehr als drei Viertel der weltweit führenden Nahrungspflanzenarten sind mehr oder weniger auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen, um den Ertrag und/oder die Qualität zu sichern. Pflanzen, die von Bestäubern abhängig sind, tragen zu 35 Prozent der weltweiten Pflanzenproduktion bei.“
Die erste Zahl (also die genannten 75 Prozent) bezieht sich auf die Zahl der Kulturpflanzenarten, die zweite Zahl bezieht sich auf die produzierten Nahrungsmengen. Dazu heißt es weiter im Bericht:
„Bezogen auf das weltweite Produktionsvolumen stammen 60 Prozent der Produktion aus Kulturen, die nicht von tierischer Bestäubung abhängen (z. B. Getreide und Hackfrüchte), 35 Prozent der Produktion aus Kulturen, die zumindest teilweise von tierischer Bestäubung abhängen, während 5 Prozent nicht bewertet wurden.“
Kein Zusammenhang von Biodiversität und Ernährungssicherheit
Alle vom IPBES angegebenen Zahlen kommen aus einer Studie von Klein et al. (2006). Die Studienautoren haben Daten zu 107 der weltweit wichtigsten Kulturpflanzen ausgewertet und fanden, dass tierische Bestäubung für 18 der wichtigsten Einzelkulturen (die 60 Prozent der Weltproduktion ausmachen) und 10 der wichtigsten Grundnahrungsmittel unerheblich ist. Hierbei handelt es sich um wind- oder passiv selbstbestäubte Gräser (Getreide und Zuckerrohr). Die Produktion von 39 der 57 wichtigsten Einzelkulturen steigt durch die Bestäubung von Tieren. Diese machen 35 Prozent der weltweiten Nahrungsmittelproduktion aus. Da aber die meisten dieser Kulturen nicht vollständig von tierischer Bestäubung abhängig sind, liegt der Anteil der Produktion, der direkt auf diese zurückzuführen ist, unter 35 Prozent.
Und auch für diese 35 Prozent ist die Biodiversität der Insekten oder deren Rückgang praktisch irrelevant. Denn die Bestäubungsleistungen bei den Nutzpflanzen werden größtenteils von Honigbienen erbracht. Diese sind nicht bedroht, schon gar nicht durch die moderne Landwirtschaft. Neben der Honigbiene gibt es eine Reihe weiterer Arten, die nennenswert Bestäuberleistungen erbringen. Diese sind jedoch ebenfalls häufig vorkommende Arten, die mit der Intensivierung der Landwirtschaft gut zurande kommen. Dies ergab eine Studie, an der Wissenschaftler aus vielen Ländern mitgearbeitet und 90 Einzelstudien zu 1394 Ackerbaukulturen ausgewertet haben. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass nur 2 Prozent der Wildbienenarten 80 Prozent der gesamten Bestäubung durch Wildbienen erbringen und dass diese 2 Prozent zu den zahlreichsten und am weitesten verbreiteten Arten gehören, die keine Anzeichen von Bestandsrückgang oder Gefährdung zeigten.
Den vermeintlichen Zusammenhang von Biodiversität und Ernährungssicherheit, der immer wieder angeführt wird, um zweifelhafte Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt zu begründen, gibt es nicht. Es ist schlicht falsch, wenn in der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 pauschal behauptet wird: „Die biologische Vielfalt ist auch für die Gewährleistung der Ernährungssicherheit in der EU und weltweit von entscheidender Bedeutung. Der Verlust an biologischer Vielfalt bedroht unsere Lebensmittelsysteme und setzt unsere Ernährungssicherheit und Ernährung aufs Spiel.“
Wir sollten Artenschutz als Zweck an sich betrachten und nicht als Mittel zum Zweck. Und wir sollten bei allen Einzelmaßnahmen zum Artenschutz immer eine rationale Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.
Karl-Heinz Dehner hat Mathematik und Geschichte der Naturwissenschaften studiert. Er war zunächst viele Jahre als Software-Entwickler in mehreren Firmen und dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei mehreren Institutionen tätig.