Imogen Lemke, Gastautorin / 14.09.2019 / 06:15 / Foto: Pixabay / 63 / Seite ausdrucken

Von wegen Diktatur: Mein Ungarn ist anders

Von Imogen Lemke.

Seit dem Amtsantritt der rechtskonservativen Regierung unter Viktor Orbán im Jahr 2010 lässt die deutsche Presse kein gutes Haar an den politischen Entwicklungen in Ungarn. Ob Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit von Justiz und Medien oder der Umgang mit Obdachlosen und Roma – die überwiegende Mehrzahl der veröffentlichten Artikel erhebt schwere Vorwürfe gegen den Ministerpräsidenten Orbán. Spätestens seit dem Beginn der Flüchtlingskrise 2015 ist Ungarn für Deutschland nicht mehr als der inhumane, unsolidarische Bösewicht, der sich weigert, ebenfalls Migranten aufzunehmen und so die Lasten der Massenmigration mitzutragen. Zuletzt wurde dieses Bild in dem am 4. September vom ZDF ausgestrahlten Dokudrama „Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge“ erneut untermauert. Nach Einschätzungen der „Zeit“ ist Ungarn ohnehin schon verloren, da sich das Land zusehends von demokratischen Grundsätzen entferne und auf dem besten Wege sei, sich in eine Diktatur zu verwandeln.

Eine Untersuchung von deutschen Artikeln über Ungarn aus dem Jahr 2017 hat gezeigt, dass 70 Prozent der Berichte negative Darstellungen enthielten, während 29 Prozent neutral und lediglich 1 Prozent positiv über Ungarn berichteten. Doch inwieweit decken sich die geübte Kritik und die tatsächlichen Fakten? Während meines Auslandssemesters an der ELTE-Universität in Budapest hat sich mir die Möglichkeit geboten, Einblicke in die tatsächliche politische Lage und Stimmung zu bekommen und mit Ungarn selbst über ihre eigene, aus deutscher Sicht oft unverständlich erscheinende Sicht der Dinge zu sprechen. Dabei habe ich ein ganz anderes Bild von Ungarn bekommen als das, welches mir die deutsche Berichterstattung vorgezeichnet hat.

Um verstehen zu können, warum die Ungarn so sind, wie sie sind, muss man sich die über Jahrhunderte gewachsenen Besonderheiten der national-ungarischen Identität bewusst machen. Da ist zunächst einmal Ungarns singuläre Sprache, die weder slawischen noch romanischen oder germanischen Ursprungs ist und sich somit von den Landessprachen der Nachbarländer völlig unterscheidet. Tief in das kollektive Gedächtnis der Ungarn hat sich die über Jahrhunderte währende Fremdherrschaft eingebrannt. So wurde das Land nach der verlorenen Schlacht von Mohács 1526 gegen die Osmanen lange Zeit zum ständigen Schlachtfeld zwischen den Osmanen und den Habsburgern. Nach der Niederlage der k.u.k. Monarchie im Ersten Weltkrieg musste Ungarn den Verlust von etwa zwei Dritteln seines Territoriums hinnehmen. Seit dem Einmarsch der Roten Armee 1945 unterlag das Land bis zum Fall des Eisernen Vorhangs der sowjetischen Einflusssphäre, das Aufbegehren gegen die sowjetischen Unterdrücker wurde im ungarischen Volksaufstand von 1956 blutig niedergeschlagen.

Ängste vor einem „Hereinreden“ und „Einmischen“

Die Erinnerung daran ist in den Köpfen der Ungarn auch heute noch sehr lebendig, Einschusslöcher der Kugeln sind teilweise noch immer an einigen Fassaden in Budapester Bezirken zu sehen. All diese Erfahrungen in der nationalen Kulturgeschichte haben in bedeutendem Maße zu der starken Betonung der besonderen ungarischen Identität beigetragen. Viele Ungarn, mit denen ich ins Gespräch kommen konnte, haben mir gegenüber ihre Ängste vor einem „Hereinreden“ und „Einmischen“ der europäischen Institutionen und anderen Nationalstaaten geäußert. Führt man sich die historisch-politischen Hintergründe des Landes vor Augen, werden diese Bedenken plötzlich verständlich: Ungarn ist ein Land, das seine eigene Freiheit wieder und wieder gegenüber ausländischen Mächten in blutigen Auseinandersetzungen erstreiten musste. Die Regierung unter Ministerpräsident Orbán nimmt nun vermehrt Bezug auf die nationale Erinnerung in Ungarn – dabei fühlen sich die Ungarn in ihrer Rückbesinnung auf ihr nationales Erbe von den europäischen Partnern oftmals unverstanden.

Doch was ist nun dran an den Vorwürfen der deutschen Berichterstattung? Wie ist es um die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Presse in Ungarn tatsächlich bestellt? Findet Kontrolle, oder sogar Zensur, durch die Regierung wirklich statt?

Wirft man einen näheren Blick auf die Medienlandschaft in Ungarn, erscheinen die Vorwürfe rasch als unbegründet. Es fällt zwar auf, dass sich die Medien in Ungarn in besonderem Maße durch Polarisierungen auszeichnen. Gleichzeitig sind die einzelnen Medien jedoch in der Lage, die Vielfalt der politischen und gesellschaftlichen Bandbreite widerzuspiegeln.

Obwohl ein nicht unwesentlicher Teil der ungarischen Medien politisch gebunden ist, ist der andere Teil von Staat und kommerziellen Interessen weitgehend unabhängig. Auf dem ungarischen Medienmarkt sind übrigens alle großen deutschsprachigen Medienunternehmen vertreten, etwa die Funke-Gruppe, Axel Springer, Ringier und Bertelsmann.

Keine Verurteilung ohne triftigen Grund

Erst Ende August hat die derzeitige Justizministerin Ungarns Judit Varga zudem eine Regierungsinitiative zur Abschaffung der ideologischen Zensur in den sozialen Netzwerken vorgestellt. Ungarn setzt sich somit aktiv für den Erhalt der freien Meinungsäußerung im Netz ein und schlägt einen anderen Weg ein als den, den Deutschland mit dem von Heiko Maas initiierten Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegangen ist.

Dass Orbáns Regierung unbedingt ungarische Interessen vertritt und diese gegen die europäischen Partner durchzusetzen vermag, trifft in der ungarischen Bevölkerung auf breite Zustimmung. Dennoch haben sich viele meiner Dozenten an der eher als regierungskritisch einzustufenden ELTE-Universität in Budapest kritisch mit der ungarischen Regierung auseinandergesetzt und klar gemacht, dass sie deren politischen Kurs nicht teilen und mit vielen politischen Entwicklungen nicht übereinstimmen. Auch das hat mir gezeigt, dass der Vorwurf, Ungarn sei heute eine Diktatur, nicht stimmen kann. Wenn man schreiben, offen sprechen, offen abweichender Meinung sein, und das Land verlassen kann, dann ist es absurd, von einer Diktatur zu sprechen.

Die Mischung aus fehlerhafter und verzerrter Berichterstattung zeigt nicht auf, inwieweit die Entwicklungen in Ungarn tatsächlich gegen europäisch-demokratische Werte verstoßen oder inwieweit sie lediglich von in Deutschland vorherrschenden Ansichten abweichen. Deshalb wäre es falsch, die politischen Entwicklungen in Ungarn pauschal als antidemokratisch oder als antieuropäisch zu bezeichnen. Vielmehr sollten sie vor dem Hintergrund der staatlichen Souveränität gesehen und akzeptiert werden. Um auch in Zukunft die enge Verbindung zwischen Deutschland und Ungarn zu pflegen, ist es von entscheidender Bedeutung, die abweichenden Motivationen und Ziele in den Beziehungen sichtbar zu machen und gleichzeitig die aufschlussreiche Wirkung des offenen Dialogs zu berücksichtigen.

Kein Land und keine Regierung ist fehlerlos, dennoch kann der Dialog zwischen den Völkern Europas nur effektiv und friedensstiftend sein, sofern er nicht auf Vorurteilen und Fehleinschätzungen beruht. Kritik sollte und muss geübt werden, aber nur, wenn sie auf sachliche und nachweisbare Argumente gestützt ist. Das muss für alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten. Kritik darf nicht als Verurteilung ohne triftigen Grund geäußert oder verstanden werden, sondern vielmehr als ein Prozess der Weiterentwicklung eines gemeinsamen europäischen Demokratieverständnisses. Die einseitige und vorurteilsbehaftete deutsche Berichterstattung über Ungarn ist jedoch nicht geeignet, einen Beitrag dazu leisten.

Imogen Lemke, 22, studiert Jura.

Dieser Artikel ist im Rahmen des Projekts  „Achgut U25: Heute schreibt hier die Jugend in Zusammenarbeit mit der Friedrich A. von Hayek Gesellschaft und dem Schülerblog „Apollo-News“ entstanden. 

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Anders Dairie / 14.09.2019

Als Erzdemokrat, der Volkswahlen unbedingt respektiert, muss ich sagen:  Ein Gewählter darf auf der Basis seiner Verfassung tun und lassen, was er will.  Wenn ORBAN gewählt ist,  habe ich das hinzunehmen.  Es gibt die Diplomatie,  die dazu da ist, um formell Schwierigkeiten zu beseitigen. Wenn über ein kleines Land ideologisch hergefallen wird,  erinnert das an ganz finstere Zeiten.  Also die Tendenz, wegen der uns viele Leute anderer Völker weiterhin—mindestens—schief ansehen.  Es gehört zu guten Ton von Uni-Professoren seit 50 Jahren “gegen etwas” zu sein.  Bei den gläubigen Studenten macht das nach wie vor Eindruck. Es ist ja noch genügend Zeit,  in der Rolle als Elite,  wieder vernünftig zu werden.

Wolfgang Lechner / 14.09.2019

Dank Herrn Weißgerber’s Artikel vom 29.07.2017 weiß ich warum bei uns im Ort seit über 500 Jahren täglich mittags die Kirchenglocken läuten, sogar auch die von den Evangelischen. Und wenn ich die Glocken höre, dann denke ich kurz an die Ungarn und an Ungarn und freue mich kurz auf meinen nächsten Besuch in dem schönen Land bei den sehr gastfreundlichen Menschen.

Helge-Rainer Decke / 14.09.2019

Frau Imogen Lemke, mein Enkel ist 23 Jahre und hat gerade die Pflichtfachprüfung zum ersten juristischen Examen bestanden. Für die Schwerpunktbereichsprüfung bereitet er sich nun an der Humboldt European Law School in Rom (ELS) vor. Hierfür erhält er ein Stipendium vom DAAD. Vielleicht sollten Sie sich für die Schwerpunktbereichsprüfung an einer Law School in Ungarn bewerben. Ich vermute, die Ungarische Sprache ist für Sie kein Problem.

Ferenc v.Szita - Dámosy / 14.09.2019

@Herr Dörre: ihr Behauptung, ungarische Medien “sind regierungstreu”, ist unzutreffend. Nur im Unterschied zu Deutschland gibt es in Ungarn SOWOHL bürgerlich-nationalkonservative ALS AUCH linksliberale Leitmedien - in Deutschland hingegen NUR letzteres. Und ähnlich war es in Ungarn vor 2010, daher ist der Verdienst der Orbán-Regierung, daß sie auch (nicht nur!) rechtskonservative Leitmedien in großem Stil ins Leben gerufen hat. Nur um einige Beispiele aufzuzählen: das ATV, der Nachrichtensender hír.24, der RTL-Klub, das NationalTV (N1) - alles schäumend oppositionelle Fernsehprogramme, die überall frei empfangen werden können und in jedem TV-Grundpaket enthalten sind. Bereits dies sind vier oppositionelle Hauptsender - dem gegenübergestellt (also mitnichten ausschließlich!) sind die beiden tendenziell in der Tat eher regierungnahen Staatssender M1 und M2, das DunaTV sowie der sehr Fidesz-nahe Nachrichtensender hír.tv (der durch den Oligarchen Lajos Simicska zeitweilig auf oppositionell umgemodelt worden war, jedoch mittlerweile durch die Fidesz-Seite ZURÜCKGEHOLT wurde und daher wieder sein ursprüngliches, bürgerlich-nationalkonservatives Programm sendet, wie es sich gehört). Nicht anders sieht es mit oppositionellen Printmedien aus: etwa die sozialistische Tageszeitung Népszava, die Satirezeitschrift MagyarNarancs (Ungarische Orange) sowie etliche linkliberale Wirtschaftsblätter, die an jedem Kiosk tagtäglich zu haben sind (die bürgerliche Tageszeitung MagarNemzet wurde, ähnlich die das hír.tv, zeitweilig ebenfalls durch Simicska auf oppositionell umgemodelt, dann von diesem fallengelassen; mittlerweile ist sie wieder wie ursprünglich eine bürgerlich-nationalkonservative und somit Fidesz-nahe Zeitung). Ganz zu schweigen von all den oppositionellen Internetportalen, Blogs u.Foren, die von jedem jederzeit daheim am PC gelesen werden: INDEX, Mérce (Maßstab),  168óra (168Stunden), Zsúrpubi (Partyboy), Alfahír, nicht zuletzt die Soros-nahe 444. Also recht ausgeglichen!

Rudolf George / 14.09.2019

Neben der Erfahrung von Unterdrückung - tatsächlicher, nicht eingebildeter - unterscheidet sich der Osten Europas in einem weiteren Aspekt von dem westlichen Mainstream: es gab dort keine 68er Bewegung, die mit einem kaderkommunistischen Programm die Eroberung aller gesellschaftlichen Schaltstellen betrieb. Bei uns ist dieses Programm schon so weit gediehen, dass das Bürgertum fleißig an seiner Selbstabschaffung arbeitet und 80-90% der Politik und Medien die totalitären Grundprinzipien der Bewegung als „Demokratie“ darstellt. Die Mehrheit im Osten Europas sieht das mit Angst und Bangen, und wehrt sich gegen den Ansatz, Unterwerfung unter eine weitere totalitäre Ideologie als „Freiheit“ zu verkaufen.

Werner Arning / 14.09.2019

Die Art und Weise wie in Deutschland etwa über Ungarn berichtet wird, zeigt auf, dass in der deutschen Medienberichterstattung die Fairness vollständig abhanden gekommen ist. Früher war einmal die Fairness, die relativ neutrale, respektvolle Berichterstattung ein Markenzeichen deutscher Medien. Gut, in Zeiten des kalten Krieges galt dieses Prinzip nicht immer. Aber selbst damals jedoch, immer noch mehr als heute in Bezug auf „Partner und Freunde“ der deutschen Regierung. Da wird ausgeteilt, belehrt, und besser gewusst, dass es nur so knallt. Der Deutsche ist wieder auf unangenehme Art und Weise selbstbewusst geworden, könnte man meinen. Man wähnt sich in moralischer Hinsicht so viel besser als Andere, man meint die Demokratie und ihr Wesen so viel besser verstanden zu haben als Andere, dass man nun denkt, man habe die Berechtigung, den Anderen fortwährend die Leviten zu lesen. Und die Medien übernehmen bereitwillig diese Aufgabe. Ich glaube Ihnen gerne, Frau Lemke, dass es in Ungarn viel demokratischer zugeht, als unsere Medien uns glauben machen. Es ist wichtig und lobenswert, dass Sie sich darum bemühen, das uns über die Medien vermittelte Bild zu korrigieren. Ich möchte dieses schöne Land unbedingt kennenlernen. Danke dafür, dass mir noch mehr Lust darauf gemacht haben.

beat schaller / 14.09.2019

Völlig richtig Frau Lemke und die Ungaren sollten sich von diesem heutigen Diktatorischen Merkel EUtschland rein gar nichts sagen lassen, ausser vielleicht eine Entschuldigung für die permanenten Erniedrigungen .  Ungarn ist stolz auf viele Traditionen und lebt diese mit Begeisterung. Eutschland ist vor allem im austeilen, verbieten und vorschreiben für alle anderen Weltmeister. Die Polit-Elite ist nicht einmal mehr bei den Gescheitesten der Allerdümmsten einzureihen.  b.schaller

Andre Meier / 14.09.2019

Die Berichterstattung deutscher Medien über andere Länder ist selten auch nur halbwegs ovjektiv. Man denke an die Berichterstattung über Israel und die USA, die mit der Realität meist nichts gemein hat.

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