Eine UN-Dystopie: „Digitale Identitäten, die mit Bankkonten verknüpft sind, können die Bereitstellung von Sozialleistungen verbessern“. In Japan wird das wohl nichts. Hier ist die Geschichte eines gescheiterten Projekts: „My Number ID Card“.
Japan gilt im Allgemeinen, vor allem was den technischen Bereich betrifft, als fortschrittliches Land. Vergleicht man den Stand der Digitalisierung mit dem Deutschlands, kann man leicht zum Schluss kommen, dass Welten dazwischen liegen. Dennoch sollte man nicht nur dem Image vertrauen, vor Fukushima wurden japanische Atomkraftwerke auch für sicher gehalten. Und derzeit spielt sich ein Chaos um die Einführung einer sogenannten My Number ID Card ab, wie man es in Japan kaum für möglich hielt. Allerdings kritisierten manche IT-Experten die Situation in Japan schon seit längerem und sprachen in Bezug auf den Rückstand bei der Digitalisierung von zwei verlorenen Dekaden.
Ich bin kein IT-Fachmann und sah Japan bei der Digitalisierung bisher immer recht gut aufgestellt. Alle Neuerungen auf diesem Gebiet hatte ich in den letzten Jahren zuerst in Japan kennengelernt, bevor sie nach Deutschand kamen. So weit ich es miterlebte, hatte in Japan zu Beginn der Corona-Krise auch der Umstieg auf Homeoffice und Homeschooling relativ gut funktioniert, während das Homeschooling an deutschen Schulen ein Desaster war. 40 Prozent der Schüler hatten nur einmal pro Woche Unterricht, weil es in vielen Schulen an der digitalen Infrastruktur fehlte, Lehrern an digitaler Kompetenz und Schülern an Computern. Allerdings endete die japanische Corona-App „Cocoa“ mit einem ähnlichen Flopp wie die entsprechende App in Deutschland. Monatelang war es unbemerkt geblieben, dass über Android und über iPhones mit älterem Betriebssystem keine Meldung erfolgte, wenn Nutzer Kontakte mit infizierten Personen hatten. Die anfangs groß angekündigte, aber letztlich ineffiziente App wurde als Folge dessen nach einiger Zeit stillschweigend begraben.
Der technische Vorsprung Japans im digitalen Bereich geht auf die 1970er und 1980er Jahre zurück. Damals war Japan bei der Entwicklung von Computern führend. Sicher erinnern sich viele noch an das Auftauchen der ersten Computerspiele von Nintendo, die innerhalb weniger Jahre in ganz Europa den Markt beherrschten und in keinem Haushalt mit Kindern fehlen durften. Auch bei der Entwicklung eines Online Banking Systems spielte Japan damals eine Vorreiterrolle. Doch ab den 1990er Jahren verlor Japan im Zuge der Internationalisierung des Internets den Anschluss. Bis 2020 waren bei japanischen Behörden unterschiedliche Betriebssysteme in Verwendung, die untereinander nicht kompatibel waren, sodass trotz Digitalisierung bei Kontakten mit Ämtern nach wie vor eine Menge Papierkram anfiel. Akut wurde das Problem zu Beginn der Corona-Zeit, weil man es bis dahin nicht ernst genug genommen hatte.
Idee kam in Japan nicht gut an
Im Gegensatz dazu bewies in der Covid-Pandemie ein kleiner Staat wie Estland, dass er weltweit zu einem Vorreiter in der Digitalisierung geworden war. Dort konnten während der Lockdowns 99 Prozent der staatlichen Behörden online weiterarbeiten. Geldzahlungen wurden automatisch überwiesen und wichtige Dokumente im Internet veröffentlicht. Die hastigen Versuche der japanischen Behörden, bei der Digitalisierung den Anschluss zu finden, führten aber zu keiner wirklichen Verbesserung, der alte Schlendrian wirkte nach. Exemplarisch dafür steht das Versagen bei der Einführung der sogenannten „My Number ID Card“. Das Projekt „My Number“ hatte man eigentlich schon vor Jahren gestartet. Damals war allen in Japan aufhältigen Personen – das heißt, nicht nur Staatsbürgern, sondern auch Ausländern, die in Japan wohnten – eine zwölfstellige Nummer zugewiesen worden. Das sollte Verwechslungen ausschließen, die aufgrund einer Namensgleichheit und womöglich auch durch gleiche oder ähnliche Geburtsdaten entstehen könnten.
Obwohl die Sache einem guten Zweck diente, kam die Idee nicht sonderlich gut an. Nicht wenige hatten das Gefühl, zu einer Nummer degradiert zu werden. Es kam eine Assoziation mit Gefängnisinsassen auf, die in Japan nicht mit ihren Namen, sondern nur mit einer Nummer angesprochen werden. Ihre Namen und damit ihre bisherige soziale Existenz sind im Gefängnis quasi ausradiert, sie müssen sich selbst mit ihrer Nummer bezeichnen, wenn sie vor ihren Wächtern stehen. Um auf diese Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen und die Leute nicht zu überfahren, wurde anfangs die Einführung der „My Number ID Card“ nicht forciert. Die erste Ankündigung, dass jedem eine Nummer zugewiesen werden sollte, liegt sieben oder acht Jahre zurück, doch danach passierte lange Zeit nichts. Ich bekam vor fünf oder sechs Jahren zwar einen Zettel mit My Number als behördliche Benachrichtigung zugestellt, doch musste ich die Nummer weder beim Meldeamt noch bei sonst einer Behörde angeben. Es genügte nach wie vor mein Name, das Geburtsdatum und die Vorlage irgendeines Ausweises. Erst als ich vor zwei oder drei Jahren einen größeren Betrag von meinem Konto ins Ausland überweisen wollte, verlangte die Bank zur Bestätigung meiner Identität die Nummer. Eine „My Number ID Card“ war dazu nicht nötig, es genügte die Vorlage des Zettels, den ich per Post bekommen hatte. Obwohl ohnehin IBAN und BIC angegeben werden mussten, und auf der Bankkarte mein Namen in Lateinschrift stand, wurde mir als Begründung gesagt, das diene der Verifizierung meiner Identität und damit der Sicherheit der Überweisung. Dies war das erste und einzige Mal, dass My Number von mir verlangt wurde.
Den meisten Japanern ging es ähnlich, viele wussten nicht, wozu sie sich die Mühe machen sollten, einen neuen Ausweis zu beantragen. Bis vor einem Jahr hatte erst ein Viertel der Bevölkerung eine „My Number ID Card“. Daraufhin begannen die Politiker die Geduld zu verlieren. Die Regierung Kishida wollte sich mit einer Digitalisierungsoffensive profilieren, deshalb ging ihr das zu langsam. Als offiziellen Grund für die Notwendigkeit der „My Number ID Card“ gab man an, dadurch könnten verschiedene Dokumente digital zusammengeführt werden, was die Verwaltung vereinfachen würde. Das Ministerium für Digitalisierung war 2021 mit Antritt der Regierung Kishida eingeführt worden und seit August 2022 war Tarō Kōno der zuständige Minister. Kōno war Kishidas parteiinterner Rivale gewesen, als es um die Nachfolge von Yoshihide Suga im Amt des Premierministers ging. Der bescheidener und konzilianter auftretende Kishida hatte sich damals gegen den arrogant und autoritär wirkenden Kōno durchsetzen können. Dass er später ausgerechnet diesem Mann das Ministerium für digitale Angelegenheiten anvertraute, sieht fast so aus, als hätte er seinen Konkurrenten damit bewusst auf einen Schleudersitz gesetzt. Doch inzwischen hat der Skandal auch schon Kishida eingeholt, und er musste sich ebenso wie sein Minister für das angerichtete Fiasko entschuldigen.
Kōno hatte zur Durchsetzung der „My Number ID Card“ das Prinzip Freiwilligkeit aufgegeben und verlangt, dass noch in diesem Jahr alle Bürger und Residenten in Japan eine „My Number ID Card“ beantragen müssten. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, hatte er einerseits denjenigen, die sich die Karte bis zu einem bestimmten Termin abholten – die Frist lief bis Ende März – eine Geldprämie versprochen. Andererseits hatte er als Druckmittel auch angekündigt, dass ab Herbst 2023 die Krankenversicherungskarte nur noch bei gleichzeitiger Vorlage einer „My Number ID Card“ gültig wäre. Ab Herbst 2024 sollte dann die Krankenversicherungskarte komplett wegfallen und durch die „My Number ID Card“ ersetzt werden, die deren Funktion übernehmen und allen Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen und Apotheken Zugriff auf die elektronischen Gesundheitsakten ihrer Patienten erlauben würde.
Sich für das Fiasko entschuldigen
Dieses Vorgehen mutete von Beginn an willkürlich an, denn was hatte die von den Rathäusern ausgestellte „My Number ID Card“ mit der Krankenversicherung zu tun? Das Argument, dies würde die Verwaltung vereinfachen, wirkte wenig überzeugend. Außerdem waren aus Ländern, wo elektronische Gesundheitsakten schon existieren, keine vertrauenserweckenden Dinge darüber zu hören. In Israel war während der Covid-Pandemie damit ein Patientenmonitoring betrieben worden, und es gab Vorwürfe, dass man die gewonnenen Daten Pfizer zur Verfügung stellte, damit Israel bei Lieferungen mit dem Covid-Vakzin bevorzugt würde. Ähnliche Pläne hatte für Deutschland auch schon Gesundheitsminister Lauterbach angekündigt, da erschien Skepsis angebracht. Die Covid-Pandemie, wo mittels digitaler Impfpässe die Menschen drangsaliert wurden, zeigte, wohin der Weg führt. Ist erst einmal die Handhabe dafür geschaffen, kann man nicht wissen, wozu sich so etwas nutzen lässt.
In Österreich existierten elektronische Gesundheitsakten bereits seit längerem, abgekürzt ELGA genannt. Nachdem Anfang 2022 im Parlament die Covid-Impfpflicht beschlossen worden war, stand zu befüchten, dass der Impfstatus der Bürger anhand von ELGA überprüft würde. Dies wurde zwar dementiert und als technisch nicht machbar dargestellt, aber das Vertrauen in die Gesundheitsakte hatte darunter gelitten. Die Reaktion vieler Impfgegner war, sich von ELGA abzumelden. Bei ELGA dürfen keine Amtsärzte, Ärzte im Dienst von Versicherungen oder medizinisches Personal bei der Musterung für den Wehrdienst auf die Daten zugreifen. Aber wer garantiert, dass diese Einschränkung bei nächster Gelegenheit von profilierungssüchtigen Politikern mit fadenscheiniger Begründung nicht aufgehoben werden wird?
Solche Überlegungen spielten aber in Japan keine Rolle, denn jeder ging davon aus, dass mit den Daten korrekt und gewissenhaft umgegangen würde. Worauf die größten Skeptiker wohl kaum gekommen wären, passierte aber ausgerechnet im technikaffinen Japan. Nach Beginn der massenhaften Ausgabe der „My Number ID Card“ häuften sich nämlich die Meldungen über falsch gespeicherte Gesundheitsdaten. Ob das auf Fehler im System oder auf menschlicher Schlamperei beruhte, blieb unklar. Der große Andrang von Antragstellern in den Rathäusern und die damit verbundene Überlastung des Personals dürfte aber zu dem Chaos zumindest beigetragen haben. Obwohl die „My Number ID Card“ ausdrücklich den Zweck haben sollte, die Kartenbesitzer genau zu identifizieren und damit Verwechslungen auszuschließen, kam es zu gravierenden Irrtümern. In Fällen, die in die zehntausende gingen, waren die „My Number ID Cards“ mit falschen Patientendaten verknüpft worden. In manchen Fällen zeigten sie sogar falsche Behindertenausweise an. Dabei konnten die Leute noch von Glück sagen, wenn solche Fehler rechtzeitig auffielen, bevor sie damit in einem Krankenhaus vorstellig und von den Ärzten falsch behandelt wurden.
Inzwischen haben schon 50 Prozent der Japaner eine „My Number ID Card“, doch anstatt das Vertrauen zu stärken, hatte der Skandal die Verunsicherung in der Bevölkerung nur erhöht. In einzelnen Fällen kam es nämlich zu noch haarsträubenderen Irrtümern. Rund 750 Leute erhielten mit der „My Number ID Card“ falsche Identitätsnummern und zwar solche, die schon anderen Personen mit gleichlautenden Namen zugeteilt worden waren. Völlig unverständlich daran war, dass die Einführung der Nummer damit begründet wurde, solche Verwechslungen auszuschließen. Wie hatte das also passieren können?
Doch auch bei solchen Fehlern blieb es nicht. In weiteren zehntausenden von Fällen wurden Leuten, die Renten oder Sozialhilfe bezogen, falsche Namen zu ihren Bankkonten zugeordnet. Dabei handelte es sich – anders als oben genannt – nur um Verwechslungen innerhalb der Familie. Verwundert waren die Betroffenen aber nicht nur über die Fehler an sich, sondern auch darüber, zu welchem Zweck die Bankdaten überhaupt registriert wurden. Es stellte sich dann heraus, dass über die „My Number ID Card“ auch Angaben zu Steuerzahlungen zu finden waren. Was hatten all diese Daten mit der Krankenversicherung und den elektronischen Gesundheitsakten zu tun? Als die Bank von mir „My Number“ verlangte, dachte ich mir nichts dabei, aber womöglich ging es damals schon darum, die Nummer mit dem Bankkonto zu verknüpfen. Je mehr man sich damit beschäftigt, umso verdächtiger erscheint die Sache. Steckt dahinter etwas anderes als öffentlich gesagt worden ist? War das Gerede von der Digitalisierung zur Vereinfachung der Bürokratie nur ein Vorwand, um eine geheime Agenda nicht publik werden zu lassen? Dass elektronische Gesundheitsakte und Bankdaten von einem Identitätsausweis wie der „My Number ID Card“ abrufbar gemacht werden, sollte eigentlich die Alarmglocken läuten lassen. Noch dazu, wo ohne die Pannen bei der Umsetzung des Plans das ganze Ausmaß der Datenspeicherung vielleicht gar nicht ans Licht gekommen wäre.
Weg mit übers Knie gebrochener Aktion
Zählt man zwei und zwei zusammen, werden durch die Vernetzung von Informationen Digital Twins erschaffen, wie sie in feuchten Träumen datenhungriger Bürokraten herumspuken. Die digitale Zusammenführung aller Daten, die zu einer Person verfügbar sind, ermöglicht die Erschaffung eines „digitalen Zwillings“, wodurch die Überwachung aller Bürger enorm vereinfacht wird. Das passt auch zum Digitalpakt der UN, wo gefordert wird, dass die digitale Identität einer Person mit ihrem Bankkonto verbunden sein soll. Zur Begründung heisst es:
„Digitale Identitäten, die mit Bankkonten verknüpft sind, können die Bereitstellung von Sozialleistungen verbessern. [...] Digitale Technologien können dazu beitragen, Datenlecks, Fehler und Kosten bei der Gestaltung von Sozialprogrammen zu vermindern.“
Möglicherweise arbeitet die japanische Regierung in diese Richtung schon vor. In dem Zusammenhang von einer „Verminderung von Datenlecks“ zu sprechen, klingt jedoch wie Hohn, wenn man in Erwägung zieht, wie die Daten anderweitig missbraucht werden können. In nicht wenig Fällen wurde schon Personen, die in der Öffentlichkeit gegen den Mainstream argumentierten, das Konto gekündigt. Kürzlich ging durch die Presse, dass es zuletzt Nigel Farage getroffen hat, der zwar kritische, aber keineswegs radikale Ansichten vertritt. In Japan wurde von solchen Kontosperrungen noch nichts bekannt, doch wie bereits bei der Corona-Politik folgt die japanische Regierung offenbar Empfehlungen von UN-Stellen, ohne dies der Bevölkerung explizit zu sagen. Stattdessen tut die Regierung so, als basierten ihre Maßnahmen auf eigenen ministeriellen Entscheidungen. Die Versuche, die digitale Identität mit einem Bankkonto zu verbinden, muten wie eine weltweit konzertierte Aktion an.
Auch in der EU ist geplant, eine digitale Identitäts-App einzuführen, wie Martina Binnig kürzlich auf Achgut schrieb. Diese App soll Zahlungsmöglichkeiten, Gesundheitsdaten, Bildungsqualifikationen, Fahrerlaubnisse und weitere Daten bündeln. Das ist fast identisch mit den Zukunftsplänen bei der „My Number ID Card“, die soll später auch den Führerschein ersetzen. Der Weg zu einem Sozial-Credit-System, wie es in China bereits praktiziert wird, wäre damit nicht mehr weit. Um die Probleme zu lösen und den Imageschaden für die „My Number ID Card“ möglichst gering zu halten, hat die japanische Regierung rasche Abhilfe bei all den Pannen versprochen. Bis Herbst 2023 sollen alle Karten durchgecheckt und alle Fehler behoben sein. Die „My Number ID Card“ muss vier Informationen enthalten: Name, Geschlecht, Geburtsdatum und Adresse. Und es soll kontrolliert werden, ob diese Angaben korrekt sind. Da das vorhersehbar eine Mammutaufgabe wird, wiesen Kommunalpolitiker darauf hin, dass dieses Versprechen kaum einlösbar ist, da die Rathäuser mit dieser Aufgabe überfordert sind. Man will die Frist daher zumindest um ein Jahr bis Herbst 2024 verlängern.
Laut Umfragen würden 70 Prozent der Japaner dies begrüßen, noch mehr wären allerdings dafür, die Einführung der „My Number ID Card“ ganz abzublasen. Die übers Knie gebrochene Aktion jetzt wieder aufzugeben, kann sich die Regierung jedoch nicht leisten. Deshalb will sie hart bleiben und das Projekt bis zum bitteren Ende durchziehen. Kishida, der in seiner relativ kurzen Amtszeit nicht zum ersten Mal eine erratische Entscheidung wie diese traf, will keine Schwäche zeigen, denn er hätte damit einen peinlichen Gesichtsverlust zu befürchten. Die Akzeptanz der „My Number ID Card“ wird er damit aber genauso wenig erhöhen wie seine mageren Beliebtheitswerte.
Wolfgang Zoubek lebt seit fast zwanzig Jahren in Japan und arbeitet an einer Universität. Ihn beschäftigt seit langem der Vergleich zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen in Japan und in Deutschland.