Wolfgang Zoubek, Gastautor / 06.03.2022 / 15:00 / Foto: Galoren.com / 5 / Seite ausdrucken

Haruki Murakami: Viel gelesen und wenig verstanden

Der Japaner Haruki Murakami gehört zu den meistgelesenen Autoren der Gegenwart. Das Zen-und-Coca-Cola-Image, das man ihm verpasste, wird seinem Werk nicht gerecht.

Japanische Literatur ist im Westen wenig bekannt. Es gab zwar japanische Nobelpreisträger für Literatur, 1968 Yasunari Kawabata und 1994 Kenzaburō Ōe, ebenso sind die Namen von Ryūnosuke Akutagawa und Yukio Mishima einigen Lesern geläufig, und in den neunziger Jahren machte eine gewisse Banana Yoshimoto auch im deutschsprachigen Raum kurzzeitig Furore, doch andere japanische Schriftsteller sind allenfalls noch ein paar Japanologen bekannt. Eine Ausnahme stellt Haruki Murakami dar, denn er ist international wohl der berühmteste lebende japanische Autor.

Erstaunlich ist, dass Murakami trotz seines Ruhms bis heute weitgehend ein Außenseiter in der Literaturszene blieb. An seinen Werken scheiden sich die Geister, und er verdankt seinen Erfolg in erster Linie seiner treuen Leserschaft. Viele Leser schätzen ihn und erwarten sehnsüchtig seine nächste Neuerscheinung, und sobald eine erscheint, steht sie auf Anhieb auf den Bestsellerlisten. Doch bei Literaturkritikern standen seine Werke nie hoch im Kurs, und sein Ansehen stieg nicht mit den zunehmenden Verkaufszahlen seiner Bücher, im Gegenteil. Viele Rezensionen klingen immer noch so, als hätte man es bei ihm mit keinem ernstzunehmenden Literaten zu tun.

Über sein Privatleben ist fast nichts bekannt

Die ersten Übersetzungen seiner Texte ins amerikanische Englisch klangen sehr flapsig, und so wurde Murakami ein Zen-und-Coca-Cola-Image verpasst, das seinem Werk nicht nur nicht gerecht wurde, sondern auch zu Fehldeutungen einlud. Es wurde oft betont, dass er von amerikanischer Literatur beeinflusst sei, tatsächlich sind aber die Einflüsse von Dostojewski und Kafka viel stärker. Obwohl Murakamis Texte nie so unerbittlich auf ein fatales Ende zusteuern wie bei Kafka, wirken die vielen irrationalen Elemente in seinen Werken doch sehr kafkaesk.

Deutschsprachige Literaturfreunde scheinen in erster Linie Murakamis mehrbändige Romane, in denen sich gut schmökern lässt, zu schätzen, aber auch seine Erzählungen sind recht beliebt. Trotzdem ist er in vielerlei Hinsicht in Deutschland eine unbekannte Größe. Murakami gibt ungern Interviews, lässt sich nur selten zu Lesungen und Diskussionen einladen und lebt sehr zurückgezogen. In Japan nimmt er zwar in einer monatlichen Radiosendung zu aktuellen Themen Stellung, und er verfasste auch einige autobiographische Texte, zum Beispiel über seinen Beruf als Schriftsteller und über sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, dennoch ist über sein Privatleben fast nichts bekannt, er breitet es nicht öffentlich aus.

Derzeit ist Murakami in Japan wieder in aller Munde, weil Drive My Car, die japanische Verfilmung einer seiner Kurzgeschichten auf internationalen Filmfestivals Aufsehen errregt. Der Film des Regisseurs Ryūsuke Hamaguchi erhielt in Cannes einen Preis, dann in den USA den Golden Globe und wurde auch für den Oscar in mehreren Kategorien nominiert. Drive My Car ist eine Episode aus Murakamis 2013 erschienenem Sammelband Männer ohne Frauen. Darin geht es um einen Schauspieler, der seinen Führerschein abgeben musste, und sich nun von einer jungen Frau chauffieren lässt. Dabei erzählt er ihr von seiner verstorbenen Frau, und wie er darauf reagierte, als er sie eines Tages in den Armen eines anderen Mannes fand.

Anfangs überhaupt keinen literarischen Ehrgeiz

Bisher kam es schon zu mehreren Verfilmungen seiner Werke, und darüber hinaus gab es auch Dramatisierungen für die Bühne, aber der künstlerische Wert dieser Bearbeitungen war meist umstritten und keine erregte größeres Aufsehen. Murakamis Werke sind nämlich eher handlungsarm, leben in der Hauptsache von der geschilderten Atmosphäre und nicht von dramatischer Spannung. Es erwies sich daher immer als recht schwierig, das Flair seiner Texte in ein anderes Medium zu übertragen.

Schon Murakamis literarische Anfänge glichen denen eines Quereinsteigers. 1949 in Kyoto geboren, wuchs er in Kobe auf. Seine Eltern waren beide als Lehrer für japanische Literatur tätig, doch das Schreiben wurde ihm von ihnen nicht in die Wiege gelegt. Er hatte anfangs überhaupt keinen literarischen Ehrgeiz. Er kam 1968 nach Tokyo, wo er an der renommierten Waseda-Universität Theaterwissenschaft zu studieren begann. Beim Studium lernte er auch seine spätere Frau kennen, mit der er heute noch verheiratet ist.

Die beiden eröffneten in den 1970er Jahren ein Jazzcafé in Tokyo. Murakami war damals noch Student, nahm sein Studium aber nicht sonderlich ernst und schaffte erst nach mehrjähriger Verspätung mit Ach und Krach den Abschluss. Demotivierend wirkte auf ihn, dass er gerade am Höhepunkt der radikalen Studentenbewegung an die Uni kam. Anfangs schien er deren Forderungen positiv zu sehen, doch aufgrund dabei gemachter Erfahrungen fühlte er sich später von den stalinistischen Methoden der studentischen Kampfkader abgestoßen.

Einer der meistgelesenen Autoren der Gegenwart

Als Autor hatte er mit 29 Jahren eine Art Erweckungserlebnis. Und zwar kam ihm, als er einem Baseballspiel beiwohnte, plötzlich der Gedanke, dass er einen Roman schreiben könnte. Er setzte die Idee auch umgehend in die Tat um, doch war er wenig zufrieden damit, vor allem stilistisch missfiel ihm, was er geschrieben hatte. Anstatt sein Werk nun in einer Schublade verschwinden zu lassen, begann er noch einmal von vorn. Um seinen Stil zu verbessern, griff er zu einem außergewöhnlichen Mittel, er schrieb diesmal nicht in seiner Muttersprache, sondern auf Englisch. Die Tatsache, dass er die Sprache nicht perfekt beherrschte, sah er nicht als Nachteil, sondern als Vorteil an. Denn die Limitierung seines Ausdrucksvermögens in der Fremdsprache zwang ihn, mit einem beschränkten Wortschatz auszukommen. Danach übertrug er den auf Englisch verfassten Text zurück ins Japanische und fand auf diese Weise den Stil, der seine Werke bis heute prägt.

Dieser Stil ist einfach, schnörkellos und leicht zu lesen. Murakami vermeidet mit Absicht schwierige Wörter und gesuchte Wendungen, also all das, was gemeinhin als anspruchsvolle Literatur gilt. Was sich einfach ausdrücken lässt, wird von ihm auch in einfachen Worten beschrieben, trotzdem gewinnt seine Sprache durch Bildhaftigkeit Tiefe. Und die leichte Lesbarkeit seiner Romane begünstigt es, dass er damit ein Massenpublikum erreicht.

Ein weiterer Grund, warum es Murakami gelang, zu einem der meistgelesenen Autoren der Gegenwart zu werden, liegt wohl darin, dass seine Protagonisten immer Allerweltstypen sind, mit denen sich die Leser nicht nur in Japan, sondern auch anderswo identifizieren können. Die Figuren, die vor allem in seinen frühen Romanen immer in Ich-Form erzählen, geraten zwar nicht selten in bizarre Situation, begegnen außergewöhnlichen Menschen und erleben seltsame Abenteuer, wachsen aber nie über sich hinaus, sie sind und bleiben Menschen mit ganz gewöhnlichen Interessen. Die Bereiche, die über ihren Alltag hinaus gehen, nehmen sie zwar hin, aber nur als etwas Unbegreifliches und oft hat man als Leser sogar das Gefühl, dass der Protagonist nichts anderes als das zweite Ich des Autors ist.

Ein besonderes Markenzeichen von Murakamis Romanen ist, dass es darin oft zwei Welten nebeneinander gibt. Eine Welt, wie sie jeder aus seinem Alltag kennt, und eine phantastische, in der die unglaublichsten Dinge geschehen. Doch auch wenn diese beiden Welten parallel existieren, sind sie meist auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben. Exemplarisch zeigt sich dies in 1Q84, wo ein Zufall den Zugang in die andere Welt eröffnet.

Mischung aus Hoffnung und Resignation

Murakamis frühe Romane waren keine großen Erfolge. Er gab sein Jazzcafé auf, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, doch musste er danach eine Zeit lang Nebenjobs annehmen, um sich als Autor finanziell über Wasser zu halten. Für sein Erstlingswerk, den Roman Wenn der Wind singt, erhielt er zwar einen Literaturpreis, doch das blieb anfangs die einzige künstlerische Anerkennung. Den Akutagawa-Preis, der in Japan als Ritterschlag für jeden aufstrebenden Autor gilt, bekam er nicht. Er erhielt zwar einige andere Preise, aber die bedeutenderen Auszeichnungen wurden ihm im Ausland verliehen.

Seinen Durchbruch erlebte Murakami in Japan 1987 mit dem Roman Norway no mori. Der Titel ist eine Übersetzung des Beatles-Hits Norwegian Wood ins Japanische. Er wurde gewählt, weil dieses Lied im Roman mit einer sentimentalen Erinnerung des Protagonisten verknüpft ist. Der deutsche Titel Naokos Lächeln klingt im Vergleich dazu banal. Der Roman fand viele Leser, weil er mit seiner Mischung aus Hoffnung und Resignation das Lebensgefühl der damals jungen Generation in Japan traf. Auch die für japanische Verhältnisse freizügigen erotischen Schilderungen trugen zum Erfolg bei.

In Norway no mori geht es um einen Studenten, der zwischen mehreren Frauen steht, aber sich am meisten zu einer hingezogen fühlt, die depressiv veranlagt ist und suizidale Gedanken hegt. Sie verhält sich aufgrund ihrer psychischen Probleme immer rätselhafter, bis sie für ihn ganz unnahbar wird. Er besucht sie noch in einer Klinik, und es scheint, dass sie bald als geheilt entlassen werden könnte, doch während er auf ein Wiedersehen hofft, erfährt er von ihrem Tod.

Meister im Entwickeln von Stimmungen

Sein zweiter großer Erfolg war 1994 Nejimakitori Chronicel (Deutsch: Mister Aufziehvogel). Mit diesem Werk erreichte Murakami Bekanntheit auch außerhalb Japans. Das Buch war zuerst in Amerika erfolgreich und wurde dann in weitere Sprachen, darunter ins Deutsche, übersetzt. Dieser Roman enthält eigentlich alles, was Murakami ausmacht, und ist sicher einer seiner besten, er zeigt alle Qualitäten, die er als Autor hat. Und wenn er je den Nobelpreis verdient hätte, dann um dieses Romans willen.

Murakami ist ein Meister im Entwickeln von Stimmungen. So wie im ersten Teil von Mister Aufziehvogel die Welt des Protagonisten – eines Mannes um die Dreißig, der seinen Job verlor und von seiner Frau verlassen wurde – geschildert wird, das macht Murakami keiner nach. All die kleinen Episoden, die der vereinsamte Mann erlebt, als er sich in seinem neuen Alltag zurechtzufinden versucht, sich auf die Suche nach seiner entlaufenen Katze begibt, dabei einen verwilderten Pfad entdeckt, der hinter seinem Haus vorbeiführt und die Gärten der Nachbarhäuser miteinander verbindet, ergeben nach und nach ein Bild wie in einem Mosaik. So lernt er in einem der Gärten eine sadistisch veranlagte Schulschwänzerin kennen, trifft sie öfters und lässt sich mit ihr auf Spielchen ein, in deren Folge sie ihn in einen Brunnen sperrt, woraus sich dann der weitere Verlauf des Geschehens entwickelt. Allein diese Anfangskapitel des Romans sind es wert, gelesen zu werden.

Murakami verfasste sowohl kürzere Geschichten, als auch längere Erzählungen, sowie einige große, mehrbändige Romane, dazu enthält sein Œuvre auch Essays und Übersetzungen. 1997 erschien ein Buch mit Interviews von Betroffenen der Sarin-Attacke auf die Tokyoter U-Bahn. Für ein anderes Buch interviewte Murakami Mitglieder der Sekte, aus deren Kreis die Attentäter kamen. Seine literarischen Neuerscheinungen der letzten Jahre waren Kafka am Strand (2002), 1Q84 (2009), Die Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki (2013) und zuletzt Die Ermordung des Commendatore (2017). Seine neueste Veröffentlichung stammt aus dem Jahr 2020, ein Erzählband mit dem Titel Erste Person Singular, worin in acht Geschichten Personen in Ich-Form Begebenheiten aus ihrem Leben erzählen. Trotz des zum Teil fiktiven Charakters der Erzählungen scheint es zumindest in einigen so, dass Murakami darin eigene Erfahrungen verarbeitet hat.

Keine eindeutige Zuordnung von Gut und Böse

Murakami beginnt nach eigenem Bekunden ohne Plan zu schreiben. Das merkt man manchen seiner Werke auch an und zwar vor allem dann, wenn die Story im weiteren Verlauf allzu sehr ins Mäandern gerät. Ein Beispiel dafür ist sein letzter großer Roman Die Ermordung des Commendatore. Da entdeckt der Protagonist, ein Porträtmaler, in dem Haus, das er kürzlich gemietet hat, in einem Versteck das Bild eines alten japanischen Malers, der noch lebt, und beginnt, sich für dessen Biographie zu interessieren.

Er erfährt, dass sich der Maler als junger Mann vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Wien aufhielt und sich für Mozarts Opern interessierte. Die Szene im aufgefundenen Bild könnte eine verfremdete Darstellung vom Tod des Komturs aus Don Giovanni sein. Weiter findet er heraus, dass der Maler in Wien eine Beziehung zu einer Frau hatte, die im Widerstand gegen Hitler tätig war und mit Komplizen einen Anschlag auf einen Nazibonzen verübt haben soll. Im Bild könnte auch diese Szene auf verschlüsselte Weise dargestellt worden sein.

Was macht nun Murakami aus dieser Ausgangssituation? Er lässt eine Figur aus dem Bild lebendig werden, und im zweiten Band sucht der Protagonist den alten Maler in einem Pflegeheim auf, um Näheres über seinen Aufenthalt in Wien und die Symbolik des Bildes zu erfahren. Der Mann ist aber nicht nur dement, er liegt zu dem Zeitpunkt auch schon im Sterben. Von ihm ist daher nichts in Erfahrung zu bringen, stattdessen tritt der Protagonist, geleitet von der mysteriösen Figur aus dem Bild, den Rückweg vom Pflegeheim durch eine geheimnisvolle Unterwelt an, die an Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde erinnert. Über das Bild und die Verwicklungen des Malers in den politischen Widerstand in Wien nach dem Anschluss Österreichs erfährt der Protagonist und damit auch der Leser bis zum Schluss nichts mehr.

In Murakamis Werken begegnet man oft einer seltsamen Ambivalenz, alles ist mehrdeutig, es gibt keine eindeutige Zuordnung von Gut und Böse. Die Sympathien liegen zwar auf Seiten der Protagonisten, aber deren Verhalten wirkt oft eigenartig. So leicht sich Murakamis Texte auch lesen, es bleibt immer vieles offen und enthebt die Leser nicht der Aufgabe, sich eigene Gedanken zu machen. Der Roman Die Ermordung des Commendatore endet zwar in jeder Hinsicht unbestimmt, doch scheinen in der Mehrdeutigkeit des Bildes die Antworten auf die Fragen verborgen, die der Autor aufwarf, aber unbeantwortet ließ.

Mysteriöse Tunnel und Brunnenschächte

Das rätselhafte Bild wirkt wie ein Vexierbild, das ganz andere Dinge zeigt, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet. Handelt es sich beim ermordeten Commendatore um den Komtur aus Mozarts Oper Don Giovanni, ist die Sache einfach. Dann wäre sein Mörder der Bösewicht, der am Ende zu recht in der Hölle landet. Für den Fall jedoch, dass es sich um die Darstellung der Ermordung eines Nazibonzen handelt, wäre die Sache komplizierter. In einer Epoche säkularisierter Moral heiligt der Zweck die Mittel, und da können, wenn es gegen Nazis geht, auch Mörder zu den Guten gehören.

Eine solche Schlussfolgerung wird in Murakamis Text zwar nicht gezogen, sie schwingt aber zwischen den Zeilen mit. Der Maler hatte sich in Bezug auf die Ereignisse der Vergangenheit Schweigen auferlegt, aber sie künstlerisch zu bewältigen versucht. Ähnlich wie in Deutschland war auch in Japan ab 1945 bis in die 1960er hinein jahrelang alles, was in den Jahren davor geschah, unter den Teppich gekehrt worden. Es war den Menschen, die die Zeit erlebt hatten, peinlich, doch da sie nichts ungeschehen machen konnten, sprachen sie nach Möglichkeit nicht mehr darüber.

Die nachwachsende Generation wuchs daher wie in einem geistigen Vakuum auf. Erst nachdem sich nach und nach eine Umkehrung aller Werte vollzogen hatte, der Blick von innen auf die eigene Geschichte einer Perspektive von außen gewichen war, sodass alles, was früher als gut und richtig galt, nun als falsch und schlecht angesehen wurde, konnte die Zeitgeschichte wieder thematisiert werden. Die Indifferenz war beseitigt, wer die Guten und wer die Bösen waren, stand nun wieder fest.

Murakami, Jahrgang 1949, gehörte genau zu dieser Generation, die lange Zeit im Unklaren über die unmittelbare Vergangenheit gelassen wurde. Und die mysteriösen Tunnel und Brunnenschächte, die in einigen Werken Murakamis sich als Verbindungen durch Raum und Zeit entpuppen, scheinen trotz ihrer mehrdeutigen Symbolik darauf anzuspielen. Sowohl in Mister Aufziehvogel als auch in Die Ermordung des Commendatore wirken die dunklen Schächte wie Metaphern dafür, dass sich die Vergangenheit, je größer der zeitliche Abstand wird, immer tiefer im Dunkel verliert. Und wenn der letzte Zeitzeuge seine Erfahrungen mit ins Grab nimmt, verwandelt sich das Vergangene endgültig von etwas Erlebtem zu etwas bloß Berichtetem.

Nicht handeln, sondern behandelt werden

In Die Ermordung des Commendatore erscheint die Unmöglichkeit, sich der Vergangenheit anzunähern, als zentrales Motiv. Schon im ersten Band spielt der Zugang zu einem Grab, aus dem von Zeit zu Zeit seltsame Geräusche ertönen, eine wichtige Rolle. Bei einer mit hohem technischen Aufwand durchgeführten Untersuchung wird aber durch die Grabungen mehr zerstört als entdeckt. Dies weist voraus auf den zweiten Band, wo auch alle Nachforschungen vergeblich sind. Der Nachlass des Malers bietet zwar weiten Spielraum für Spekulationen, doch niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was daran wahr oder fiktiv ist.

Abgesehen von dieser Metaphorik lebt Die Ermordung des Commendatore wie alle Romane Murakamis von Stimmungen, die der Autor durch atmosphärisch dichte Beschreibungen erschafft. Hier besonders in Bezug auf die Lebenswelt des faszinierenden Herrn Menshiki, den einerseits sein Charisma, andererseits sein unerschöpflicher Reichtum zum Beherrscher seiner Umgebung machen. Obwohl er unwiderstehlich auf Frauen wirkt, hat er sich nach einer Enttäuschung von der Welt zurückgezogen und lebt nun als Single in einer pompösen Villa auf einem Hügel hoch über dem Meer in der Nähe von Odawara.

Auch wenn Murakami als unpolitischer Autor gilt, bilden in seinen Werken die japanische Geschichte oder extremistische Strömungen in der Gegenwartsgesellschaft oft eine Folie, vor der die Hauptfiguren Kontur gewinnen. Murakamis Helden sind meist Einzelgänger, die nicht handeln, sondern behandelt werden. Sie verfolgen keine hehren Ziele, sondern sind meist nur damit beschäftigt, ihr Leben nach beruflichen oder privaten Rückschlägen wieder auf die Reihe zu kriegen. Es ist oft nur ein einziges prägendes Erlebnis, das ihr Verhalten bestimmt. Und in manchen Romanen kommen sie in Kontakt mit sektenartigen Geheimorganisationen, doch bleibt ihr Verhältnis dazu ambivalent.

Als „Pseudo-Mystiker“ tituliert

Kritiker im deutschsprachigen Raum haben damit ihre Probleme. Das indifferente Verhalten von Murakamis Protagonisten, die nie Positionen beziehen, oft nur ziellos herumreisen, einmal auf der Flucht vor sich selbst, ein andermal auf der Suche nach sich selbst, lässt sich schwer einordnen. Sie sind sexuellen Abenteuern zwar nicht abgeneigt, aber scheuen feste Bindungen. Sie wehren sich gegen Gruppendruck und Umerziehung durch die Gesellschaft, sind meist auf der Suche nach Nischen, wo sie bleiben können, wie sie sind, und von der Welt in Ruhe gelassen werden.

Symptomatisch für das Unverständnis, das Murakami als Autor entgegengebracht wird, war das Urteil von Sigrid Löffler im Jahr 2000 in der Fernsehsendung Das literarische Quartett. Obwohl sie nur die Übertragung eines Werks aus dem Amerikanischen ins Deutsche kannte, somit also nur die Übersetzung einer Übersetzung, wertete sie Murakamis sprachlichen Stil ab. In so einem Fall sollte man aber das Original kennen, sonst kritisiert man allenfalls die Übersetzer. Der Einwand von Hellmuth Karasek, dass es sich bei Murakami vielleicht um den kommenden Nobelpreisträger handelt, klang nicht minder lächerlich. Wer bei seinen Beurteilungen nicht in der Lage ist, sich an das Originalwerk zu halten, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich auf Informationen aus zweiter Hand zu beziehen.

Auch in neueren deutschen Kritiken hat sich noch kein größeres Verständnis für Murakamis Texte entwickelt. Die Ermordung des Commendatore wurde von Iris Radisch als „Mythen- und Markenpotpourri“ bezeichnet, und die literarischen Motive als „recycelte Schnipsel aus der Jenaer Romantik, der griechischen Antike, der katholischen Fabelwelt und der Wiener Psychoanalyse“. Man merkt, wie die Kritikerin all ihre Literaturkenntnisse im kleinen Finger hat, sodass sie ihre Analysen nach Belieben auch einem japanischen Autor überstülpen kann.

Von Maike Albath musste sich Murakami als „Pseudo-Mystiker“ titulieren lassen, dessen Werke man nicht liest, sondern „wegschlotzt“. Von einer ernsthaften Beschäftigung mit Murakamis Texten zeugen solche Verrisse wenig, sie scheinen eher ihren Grund im Unmut der Kritikerinnen zu haben, dass seine Werke trotz ihrer vom hohen intellektuellen Ross herab verkündeten Urteile so viele Leser finden.

In Japan „unjapanisch“

In Japan ist ein häufig geäußerter Vorwurf der Kritiker, dass Murakami „unjapanisch“ schreibe. Er zog daraus die Konsequenz, dass er mit dem japanischen Literaturbetrieb gar nichts mehr zu tun haben wollte. Er übersiedelte für mehrere Jahre ins Ausland, lebte einige Zeit in den USA, aber auch in Italien und Griechenland. Inzwischen hat er seinen Wohnsitz wieder in Japan und lässt negative Kritiken einfach an sich abperlen.

Was den Nobelpreis betrifft, könnte es ihm gehen wie Graham Greene, der immer wieder als Favorit gehandelt wurde, aber im Endeffekt leer ausging. In Japan entwickelte sich in den letzten Jahren jeweils im Oktober ein wiederholtes Ritual, dass sich treue Murakami-Fans in einem Club versammeln, um auf die Verkündigung des neuen Literaturnobelpreisträgers zu warten. Bisher wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Murakami selbst, der sehr medienscheu ist, ließ sich dazu noch zu keiner Stellungnahme vor eine Kamera locken.

Foto: Galoren.com CC BY 4.0 via Wikimedia
Leserpost

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Carola Zechert / 06.03.2022

Vor vielen Jahren gab es einen sehr schönen Artikel über Murakami in der ZEIT, verfasst von der Schriftstellerin Sybille Berg. Das machte mich neugierig auf Murakamis Kurzgeschichten, die mir mit ihrer eigenartig-einzigartigen Atmosphäre sehr gut gefallen haben.

Holger Kammel / 06.03.2022

Eine absolute Bildungslücke. Die Rezension lädt zum Nachholen ein. Bisher kenne ich mehr japanische Filme als Literatur, obwohl ich eine Leseratte bin. Aus Malerei und Musik her bewundere ich die Ästhetik. Literaturpreise werden überbewertet. Spätestens nach dem Nobelpreis für Jelinek gebührt jedem ein Nobelpreis. Zuerst den Analphabeten.

Karla Vetter / 06.03.2022

Leider trifft dieses “Warten auf den Literaturnobelpreis die” Besten. Mein Favorit Philipp Roth ist darüber verstorben. Wenn man aber weiß wie es im Literatur - Komitee der noblen Schweden zuging wundert Einen nichts mehr. Schließlich musste man deswegen schon mal die Vergabe aussetzen.

P. Wedder / 06.03.2022

Danke! Es war Zeit mich zu erinnern, was für Schätze ich mal wieder aus dem Regal nehmen sollte. Es wird mir gut tun. Danke dafür

Frank Holdergrün / 06.03.2022

Murakami wird hier sehr gut skizziert, er erzählt vom Du und ich, also von uns Normalen, die keine Lust haben, andere zu behandeln, die aber oft von Politik und Chefs bzw. der Gesellschaft traktiert werden. Die taube Löffler hat ihn bei uns zerstört. Zwei Bücher, die ich von ihm am meisten schätze, fehlen: das Buch über das Laufen (Wovon ich rede wenn ich vom Laufen rede) und über seine Art zu schreiben (Von Beruf Schriftsteller). Letzteres wäre als Einstieg zum Lesen seiner Romane zu empfehlen. Wer sich endlich motivieren will, in die Gänge, ins tägliche Laufen zu kommen, findet keine bessere Motivation als das Buch von Murakami.

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