Wolfram Weimer / 23.09.2018 / 16:00 / Foto: Sandro Halank / 40 / Seite ausdrucken

75 Jahre 100 Prozent Lafontaine

Ich war mit Oskar Lafontaine in manchen Interviews wie Talkshows und ganz selten einer Meinung. Aber ich habe ihn schätzen gelernt. In einer rund geschliffenen Gefälligkeitsdemokratie, da sich alle am liebsten opportunistisch auf dem Quadratmillimeter der politisch korrekten Mitte treffen wollen, verkörpert er noch das Kantige. Wie saarländisches Altholz in den Kunststoff-Lounges der Berliner Republik.

Wenn er nicht so offensichtlich katholisch-jesuitisch wäre, würde man ihn als lutherischen Dickkopf beschreiben, der da irgendwo links in der Ecke steht und nicht anders kann. Diese Eigenart, selbst zu denken, riskant zu denken, und dann ohne Rücksicht auf Verluste laut zu sagen, was er meint, das hat ihn stark gemacht – über Jahrzehnte. Ein Mann der Eigentlichkeit in einer immer nebulöseren Sphäre der uneigentlichen Republik.

Das zweite Merkmal des Oskar Lafontaine ist seine Urwucht, seine Kraft und Leidenschaft für die Sache, aber auch für sein eigenes Überleben. Er ist ein Comeback-Wunder und hat mehr politische Leben, als normalerweise in ein Leben passen. Er war Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landtagsabgeordneter, Ministerpräsident und Bundesfinanzminister, Fraktionschef und Kanzlerkandidat, Vorsitzender von SPD wie Linkspartei. Er ist politischer Stratege und linker Vordenker, kurzum: der Tausendsassa der Bundesrepublik, der nach allen Skandalen, Stürzen, Intrigen und Machtkämpfen, ja selbst einem Attentat immer noch spitzbübisch heiter in die politische Welt blickt. Der die Welt jeden Tag neu definiert, auch sein eigenes Leben.

Die Quecksilbrigkeit seines Temperaments findet im derzeit so bewegten politischen Terrain eine völlig neue Passung. Hätte Lafontaine in den Achtzigern gerufen, Deutschland brauche eine Sammlungsbewegung, ein neues Parteiensystem, er hätte gewirkt wie ein Internet-Prophet in der Telefonzelle. Doch heute ist seine disruptive Art zu denken und handeln gefragt. Gerade unter Deutschlands Linken, die in den Ruinen des Betonsozialismus ausharren, ist die Sehnsucht nach Erneuerung riesengroß.

So alt  wie die Volksmusik-Zuschauer des MDR

Die SPD siecht todkrank dahin. Sie ist in Merkels Sauerstoffzelt der Großen Koalition gefangen und weiß selber nicht wohin. Man sehnt sich nach links heraus, dabei rückt das Wahlvolk nach rechts. Wahlen gehen verloren, Umfragen künden neue Debakel an, die Volkspartei von einst zerbricht. Selbst eine trostlose Truppe wie die AfD holt die große Traditionspartei Deutschlands inzwischen ein. Ähnlich gefangen (hier im mentalen Plattenbau der DDR-Horizonte) wirkt die Linkspartei, deren Wähler inzwischen so alt sind wie die Volksmusik-Zuschauer des MDR.

Just in dieser Krisenlage greift Oskar Lafontaine an den Hebel eines politischen Schaufelradbaggers und will den linken Flöz der Nation lösen, heben, in neue Formen packen und das Land damit befeuern. Wer könnte das glaubhafter als er – der Doppelvorsitzende von SPD und Linkspartei, der Jäger und Sammler politischer Ideen.

“Wir brauchen eine linke Sammlungsbewegung, eine Art linke Volkspartei, in der sich Linke, Teile der Grünen und der SPD zusammentun”, verkündete Lafontaine zum Jahreswechsel im “Spiegel”. Im ersten Moment nahm das politische Berlin den Vorstoß als einen klassischen Silvesterkracher wahr, als billigen Versuch, mit einem Knall Aufmerksamkeit zu erheischen. Doch langsam ahnt man, dass daraus eine politische Bombe werden könnte.

Und nun, zu seinem 75. Geburtstag, ist es so weit. Lafontaines linke Sammlungsbewegung “Aufstehen” hat sechs Wochen nach ihrer Gründung mehr als 100.000 Unterstützer gefunden. In der SPD-Zentrale wähnt man zwar noch “das wird nix”, es sei die “PR-Nummer eines profilneurotischen Ehepaares” und beschimpft den Urheber als “Spalter”. Doch wenn Oskar Lafontaine eines ist, dann mobilisierungsstark. Seine Worte werden gehört, weil er häufig genau das sagt, was Millionen linksorientierter Menschen in Deutschland denken. Und er hat schon einmal die Parteienlandschaft neu gestaltet. Lafontaine ist zudem verheiratet und politisch verbündet mit der Fraktionschefin der Linkspartei Sahra Wagenknecht, was die Sache zum öffentlichen Faszinosum werden lässt.

Von einem politischen Megatrend getragen

Das Projekt wird von einem politischen Megatrend getragen. Emmanuel Macron hat mit seiner neuen Sammlungsbewegung Frankreichs Politik revolutioniert, von Bernie Sanders in den USA über Jeremy Corbyn in Großbritannien und Beppe Grillo in Italien bis Jean-Luc Mélenchon in Frankreich haben Linkspopulisten bewiesen, dass Sammlungsbewegungen neue Machtstrukturen moderner Demokratien schaffen können. “Das Parteiensystem, so wie es heute besteht, funktioniert nicht mehr”, sagt Lafontaine. “Wir brauchen eine Neuordnung.” Die Botschaft hören manche in den klassischen Funktionärsparteien nicht gerne. Doch sie ahnen, dass er damit richtig liegen könnte.

Vor allem wagt Lafontaine es, der AfD das Thema Migration zu entreißen. Seine Bewegung will gezielt “die Wanderung zur AfD stoppen und vielleicht umkehren”. Das gehe aber nur, wenn man die Ängste der Menschen direkt annehme. Lafontaine versteht im Gegensatz zu vielen Genossen in der politischen Linken, dass große Teile ihrer Klientel die massenhafte Zuwanderung schlichtweg ablehnen. Schon deshalb, weil sie die Verteilungskonflikte um Wohnungen, Jobs, Sicherheit und Sozialleistungen am schärfsten treffen. Bei den Landtagswahlen wählen teilweise mehr als 30 Prozent der Arbeiter und Arbeitslosen die AfD, und zwar auch in Westdeutschland.

Und so sucht Lafontaine eine Formel, die Begrenzung der Zuwanderung mit linker Moral zu rechtfertigen. Man dürfe nicht diejenigen verwöhnen, die sich mit illegalen Methoden zu uns durchschlügen, die Notleidenden anderen in Afrika und Asien aber vergessen. Nur Hilfe vor Ort sei wahrhaft human. Flüchtlingshilfe hier in Deutschland aber sei so, als ob ein Gutsherr einen von einhundert Hungernden, die an seinem Schlosszaun stehen, zum Abendessen hereinbitte.

Manche alte Weggefährten wittern in dieser Position Rechtspopulismus und zeihen Lafontaine der Gewissenlosigkeit. Doch Oskar Lafontaine hat in seinen 75 Jahren häufig bewiesen, dass es sich lohnen kann, einmal andersherum zu denken. Und die Moral nicht denen zu überlassen, die es sich mit ihr bequem machen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in The European 

Foto: Sandro Halank CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Anders Dairie / 23.09.2018

Da die LINKE keine Zukunft hat, sonst stünde sie längst bei 20% und stellte im Oste alle MPen, muss wohl nach den Macht-Theoretikern eine NEUE KPD her. So meint das der NAPOLEON v.d. Saar.  Es könnte ihm egal sein, was ist.  Jedoch, dass süße Gift des Machthabens steckt in seinen Gliedern. Da er tatsächlich Katholik gelernt hat, sein häusliches Arbeitszimmer schmückt ein Pabstbild ( Johann XXIII?  ), steckt der Missionierungs-Eifer der Jesuiten im ganzen Wesen. Siehe Heiner GEISSLER !  Es ist nicht wahr, dass Solche “innerlich abrüsten” können.  Geht LAFO in den Urwalt, ist zu seiner Lebenszeit der Rest von Borneo/ Kalimantaan katholisch oder LAFO tot.  Mit MARX kann er den Durchbruch nicht schaffen.  Ergo:  LAFO ist noch der Echte,  der Missionar.  Seine vielen Frauen werden ist genau wissen !  Und der amerik. NSA auch…LAFO floh aus dem Finanzministerium über Nacht, war ein paar Wochen verschwunden , als SCHRÖDER u.a.  wegen der Rosenholz-Datei—und den StaSi-Spionen im Westen—beim Ami war.  Es ist deswegen verdächtig, weil genau das nie zum Thema wurde.

Marc Blenk / 23.09.2018

Lieber Herr Weimer, ein Problem ist aber, dass sich in die Sammlungsbewegung zuhauf auch Leute reingemogelt haben, die rein gar nichts mit Wagenknecht und Lafontaine zu tun haben. Im Gegenteil deren erklärte Gegner sind. Die Sache ist also recht unausgegoren. Es fehlt noch ein eigentliches Programm, dass dann auch verhindert, dass wieder die Leute die Agenda bestimmen, die eine Open Boarder Politik wollen. Ich traue das Lafontaine zu, nur weiß ich nicht, ob er das überhaupt will. Es hängt davon ab, ob er die Chancen für realistisch einschätzt, damit erfolgreich zu sein. Der Unterschied zu Macron ist doch deutlich: In Deutschland laufen keine ‘Bewegungen’. Wir haben ein anderes System. Also müsste am Ende eine Parteineugründung her. Und darum wird es gehen. Zu guter letzt entscheidet sich Wohl oder Wehe einer neuen linken Kraft an der Migrationsfrage. Nur wenn sich eine migrationskritische Position einer neu zu gründenden Partei durchsetzte, wird sie erfolgreich sein können. Für die gegenteilige Position gibt es ja schon drei Parteien. Das ganz hätteden Charme, dass das Merkelsystem von zwei Seiten umkreist würde. Dies könnte zusätzlich die Verhältnisse zum tanzen bringen.

Werner Arning / 23.09.2018

Lafontaine hat erkannt, dass Links nur dann noch eine dauerhafte Chance hat, wenn sich eine Linke von Merkel deutlich distanziert. Und zwar vor allem auch in der Flüchtlingspolitik. Dabei muss sie den Konflikt mit den Medien in Kauf nehmen und gleichzeitig von der AfD unterscheidbar bleiben. Das ist ein Spagat. Es müsste eine linke Bewegung sein, die zunächst zur eigenen Bevölkerung steht, bevor sie sich dem Projekt der Weltrettung widmet. Also ein bisschen linker Nationalismus, freilich ohne es zu übertreiben. Sie müsste also versuchen, als Partei der Deutschen aufzutreten, oder sagen wir, als Partei derer, die schon länger hier leben. Und sie müsste erklären, das dieses durchaus mit linker Politik vereinbar ist. Sie müsste auf Vernunft anstatt auf Gesinnung setzen. Sie müsste den irrationalen, gutmenschelnden, grünen Anstrich vermeiden, sich von diesem abgrenzen. Gleichzeitig müsste sie entmenschlichenden Charakter eines globalisierten Kapitalismus, für den die derzeitigen „Linken“ die Steigbügel halten, entlarven. Der Bürger sieht die Parteien (außer der AfD) zunehmend als Interessenvertreter der Migranten und anderer europäischer Länder. Dieses Bild müsste so eine Bewegung zu verändern versuchen, dazu müsste sie sich gegen Merkel und die Medien stellen. Einem wie Lafontaine wäre das zuzutrauen. Wahrscheinlich nur ihm. Mit Unterstützung seiner Frau. Doch nur wenn sie es ernst meinen und keine Manöver spielen, kann es funktionieren. Der Bürger würde (hoffentlich) ein Falschspiel durchschauen. Denn geht es nur darum, die AfD zu schwächen, wird die neue Bewegung eine Eintagsfliege bleiben. Höchstens gut für die kommenden Wahlen. Wenn aber tatsächlich Substanz dahinter steckt, bin ich gespannt. Das Ding könnte wirklich NUR Lafontaine durchziehen. Er hat ein Attentat überlebt, er würde auch diese Aktion überleben. Alles oder nichts.

J.P.Neumann / 23.09.2018

Er kann nichts falsch machen, denn die Agonie der Merkelära ist unerträglich, die Regierungsparteien sind längst selbst das größte Hindernis in allen relevanten gesellschaftlichen Fragen.  (Die Migrantenflut ist dabei ja nur ein Thema von vielen).  Wenn Lafointaine und Wagenknecht jetzt die Vorschlaghämmer schwingen und das morsche Haus Merkel Risse kriegt und hoffentlich zusammenkracht, soll es mir recht sein.  Die Außendienstler im Karojacket von der AfD werden das sowieso nie schaffen. Die putzen eher die Dienstwagen der CDU.

Kurt Altwicker / 23.09.2018

Wenn Lafontaine der “trostlosen Truppe” ein Thema entreißen will, scheint diese irgendetwas richtig zu machen. K. Altwicker

Gertraude Wenz / 23.09.2018

Wieso ist die AfD eine trostlose Truppe? Sollten solche unbelegten Pauschalisierungen nicht unter Ihrem Niveau sein?

Heiko Stadler / 23.09.2018

Die bisher noch weitgehend unerschlossene Gruppe der Arbeitslosen schätzen Sie, Herr Weimer, bei den AfD-Wählern auf 30% ein. Möge ihre Behauptung in Erfüllung gehen!

Elisabeth Zillmann / 23.09.2018

Herr Weimer,haben Sie gelegentlich die Reden von AfD– Abgeordneten im Bundestag gehört?Falls nicht,empfehle ich Ihnen dringend,selbiges zu tun.Falls doch: Was soll Ihr Gerede von der „ trostlosen Truppe“?Sie müßten längst bemerkt haben,daß diese „Truppe“ mit Abstand die lebendigsten,kompetentesten und ehrlichsten Reden halten. In Punkte Sachlichkeit kann Ihnen kaum ein Abgeordneter aus einer anderen Partei das Wasser reichen. Dieses ewige AfD – bashing nervt nur noch und ist des Cicero unwürdig.

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