Falls es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt – die Erinnerung eines Stammes, ja ganzer Landstriche an Ereignisse, die lange zurückliegen -, dann ist das für Nordwestdeutschland die Erinnerung an die Sturmflut von 1962. Immer schwingen da Ängste vor kommendem Unbill mit. Kann es sein, dass die Angst noch viel tiefer wurzelt? Die beiden „groten Mandränken“, das große Ersaufen von 1362 und 1634, bei dem Teile Frieslands regelrecht zerrissen wurden und die wahrscheinlich vielen Zehntausenden das Leben gekostet haben, sie sind jedenfalls im Norden bis heute jedem ein Begriff. Und sie waren nur Extremereignisse einer niemals abgerissenen Kette von Fluten. „Nordsee ist Mordsee.“
Zwanzig Meter „achtern Diek“ lebend, hinterm dem Deich der Oste (ein Nordsee naher Nebenfluss der Unterelbe), weiß ich durch die Alten aus meiner Gegend, dass viele von ihnen traditionell eine „Notfallmappe“ im Schrank der guten Stube verwahren. Darin sind die wichtigsten Dokumente für Haus, Hof und Familie versammelt. Heult der Wind im Herbst oder Winter furchteinflößend und warnt der Wetterdienst vor einer „sehr schweren Sturmflut an der gesamten deutschen Nordseeküste“, legt man die Mappe vorsichtshalber bereit. Um wenigstens sie zu retten, falls die Deiche brechen und man auf dem Dachboden Schutz vor den Fluten suchen muss, wie das schon die Großväter und Urgroßväter immer mal getan hatten.
Im Winter 1962, das Meer hatte 130 Jahre lang relative Ruhe gegeben, war es wieder soweit. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar drückte ein ungeheurer Sturm aus Nordwest die Wassermassen in den riesigen Trichter namens Deutsche Bucht. Bei Windstärke 10 lief das Wasser auf 5,35 Meter über Normalnull auf. An vielen Stellen im Norden brachen die Deiche, drangen eisige Fluten weit ins Land hinein. Besonders verheerend war die Lage in Hamburg, wo der tief gelegene Stadtteil Wilhelmsburg überflutet wurde. Von den 347 Todesopfern der Katastrophe starben 315 in Wilhelmsburg.
Im Chaos der Flutfolgen – die Menschen und die Verwaltungen waren 17 Jahre nach Kriegsende, in der Euphorie des Wirtschaftswunders, überhaupt nicht mehr auf einen existenziellen Notfall eingerichtet – begann übrigens der Aufstieg des Helmut Schmidt, damals Polizeisenator der Hansestadt. Der kommisserprobte Entscheider riss das Kommando unter Verletzung diverser Gesetze an sich, brachte die Rettungskräfte auf Trab und telefonierte Hubschrauber aus Frankreich herbei. Dem Auftritt bei der Sturmflut verdankt Schmidt seine erstaunlich anhaltende Popularität mindestens so sehr wie seinem Standing in den bleiernen Zeiten des RAF-Terrors.
Der großen Flut wird im Nordwesten, besonders aber in Hamburg, bei runden Jahrestagen ausführlich gedacht. Jetzt, zum Fünfzigsten, hagelt es Zeitungsserien, TV-Themenabende, Ausstellungen, Vorträge. Es war unvermeidlich, dass auch die Church of Global Warming nichts unversucht lassen würde, die Katastrophe für ihre Missionsarbeit auszuschlachten. So, wie es Untergangs-Sekten schon im ausgehenden Mittelalter taten, indem sie Naturdesaster zur Strafe Gottes für das sündige und maßlose Treiben seiner Kreaturen erklärten. Theodor Storm hat das Phänomen in seiner Deichbaunovelle „Der Schimmelreiter“ anschaulich beschrieben. Detlev von Liliencrons „Rungholt“-Gedicht über das Untergehen einer verderbten Insel klingt noch aktueller, nämlich wie eine ökotheologische Bußpredigt von Claudia Roth oder Margot Käßmann:
„Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier alltäglich der Menschenstrom“.
In der Sendung „Flutschutz heute“ der immer ums Klima besorgten NDR-Hamburg-Welle versuchten die Moderatoren neulich, Tatarenprognosen über angeblich enorm steigende Wasserspiegel und anschwellende Sturmaktivitäten zu einem Bedrohungsszenario aufzublasen, das gerade den Norddeutschen schwer Bange machen müsste. Doch leider waren die dazu ins Studio geladenen Experten weder Parteigänger von Greenpeace noch solche vom WWF. Da hockten vor dem Mikro auch kein Mojib Latif und kein Stefan Rahmstorf. Nur stocknüchterne, stinknormale, vollkommen unpolitische Fachleute. Etwa der Leiter des Hochwasserschutzes („Hamburgs oberster Deichbauer“), der Leiter des Sturmflutwarndienstes im Bundesamt für Seeschifffart und Hydrografie und ein Deichvogt aus Hamburg.
Mit diesen drei von der Vernunfttankstelle war, wie die Moderatoren erkennen mussten, ganz schlecht Panik zu verbreiten. Im Autoradio zugehört:
Wenn es jetzt häufiger zu schweren Stürmen kommt, wollten die Rundfunker wissen, erhöht das nicht das Sturmflutrisiko an der Nordseeküste?
- Die Häufigkeit von Stürmen hat gar nicht zugenommen, weltweit derzeit eher abgenommen.
Und wenn der Meeresspiegel um einen Meter steigt, vielleicht um noch mehr, um wie viel müsste man dann die Deiche erhöhen?
- Wer sagt denn, dass der Meeresspiegel so stark steigen wird? Laut dem Pegel Cuxhaven, eine der sichersten Messmarken im ganzen Norden, beträgt die Meeresspiegelerhöhung seit 1900 ungefähr 20 Zentimeter.
Um wie viel müsste man die Deiche erhöhen, um auf der sicheren Seite zu sein?
- Um 20, 25 Zentimeter.
Sooo wenig?
- Wir können heute, mit den viel besseren Warn- und Evakuierungsmitteln, das Wasser auch mal über den einen oder anderen Deich ablaufen lassen.
Und in welchem Zeittraum müssten Deich-Erhöhungen stattfinden?
- Na, innerhalb der nächsten 100 Jahre.
Da meinte man, die Moderatoren erstickt nach Luft schnappen zu hören.
Liebe Redakteure von NDR 90,3 und geistesverwandter Anstalten: Einfach mal ein paar bodenständige Experten einladen und aus dem Nähkästchen plaudern lassen - geht gar nicht. Für solche Sendungen müsst ihr Leute finden, die sich CO2-schreckensmäßig bereits bewährt haben, kapiert? Leute, die 45 Minuten lang Horror darüber verbreiten können, was uns Küstenbewohnern durch die globale Erwärmung droht. Kurz, nicht irgendwelche unsensiblen Fachidioten müsst ihr befragen, sondern ideologisch gefestigte Landuntergangspropheten.
Tipp: ruft künftig vor der Sendung einfach beim BUND, beim Nabu oder bei den Grünen an. Die liefern euch die passenden Experten. Und zwar frei Funkhaus.
PS: Der NDR hat die Sendung nicht in seine Mediathek gestellt. Kluge Entscheidung.