Der Blackout, auf den Deutschland zusteuert, hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit der Vorstellung von Hippies und nicht wenigen Normalbürgern, der Strom komme aus der Steckdose. Dieser fromme Wunsch befeuerte den jahrzehntelangen Kampf gegen Atomkraftwerke. Unser Autor erinnert sich, wenn auch ungern, dabei mal mitgetan zu haben.
An diesem Tag zeigte der endende Winter noch mal die Zähne. Die Temperatur lag nur etwas unter null, aber ein biestiger Ostwind machte bibbern, sobald man das Autofenster runterkurbelte. Wir standen auf der A 23 Richtung Norden stundenlang im Stau oder kamen gerade mal im Schritttempo voran.
Unserer Laune tat das keinen Abbruch. Mit den Insassen anderer Autos, fast alle mit demselben Ziel unterwegs, tauschten wir Infos und Getränke aus. Manchmal fuhr man in einem anderen Wagen ein paar Kilometer weit mit und hob dort die Tassen. Auch der eine oder andere Fahrer knallte sich was Alkoholisches rein. Zwar dröhnten immer wieder Helikopter der Polizei über uns hinweg, aber Kontrollen würde es heute nicht geben. Nicht hier. Wir waren auf dem Weg in die Wilstermarsch, zur Baustelle des Kernkraftwerks Brokdorf.
(Nutzwertwarnung: Wenn Sie, lieber Leser, im Osten dieses Landes sozialisiert und daher womöglich mit etwas politischem Common sense ausgestattet sind, brauchen Sie nicht weiterzulesen. Die folgenden Erinnerungen dürften nur Wessis älterer Bauart vertraut vorkommen.)
Also, wir sagten natürlich Atomkraftwerk, nicht Kernkraftwerk. Letzterer Begriff war in unseren Ohren reiner Betreibersprech, dazu bestimmt, den Kern der Sache – die unausweichliche Atomkatastrophe – zu verschleiern. AKW oder KKW, das war eine semantische Markierung, wie „Zone“ oder „DDR“ in den Fünfzigern und Sechzigern. Am Gebrauch erkannte man, wo einer stand.
Waren nicht alle gegen Atomkraft?
Wir waren selbstverständlich gegen Atomkraft. Waren das nicht alle vernünftigen Menschen? Jedenfalls kam es uns so vor. Unendlich schienen die Zuströme zum Protestauflauf gegen den Bau des AKW Brokdorf an diesem 28. Februar 1981. Es sollte tatsächlich die massenhafteste Demo werden, die es bislang in Deutschland gegeben hatte.
Später würden die Anmelder von 80.000 bis 100.000 Teilnehmern sprechen, die Polizei von immerhin 50.000. In der Wilstermarsch hatten Läden geöffnet, wo Snacks und Limonaden verkauft wurden. Wir nahmen das als affirmatives Signal. Die Bevölkerung stand hinter uns!
Wer „wir“ waren? Nun, in meiner klapperigen Alfa Giulia Nuova Super mit dem herrlich phallischen Schaltknüppel quetschten sich fünf Personen – Freunde und Bekannte von mir. Eine Chefsekretärin, ein Grafiker, ein Fotograf, ein angehender Künstler und ich, freier Journalist. Das ist ein Schreiber, der frei von regelmäßigen Einnahmen ist. Ich arbeitete für eine Reihe von Blättchen und Blättern. Ab und zu auch für den Stern, der am besten zahlte.
Der Stern wurde in Itzehoe gedruckt, wo die A 23 damals endete. Auch der Stern war gegen Atomkraft. Wer, bitteschön, war denn für Atomkraft, wer benutzte den Begriff „friedliche Nutzung der Kernenergie“? Doch nur die Atomindustrie und ihre Handlanger in der Regierung.
Fast so viele Helis wie in „Apocalypse Now“
Ab Itzehoe schlugen wir uns auf ebenfalls verstopften Schleichwegen gen Brokdorf durch. Die letzten Kilometer bis zur Baustelle marschierten wir, während Hubschrauber über uns kreisten. Mehr Helis auf einmal hatte ich bis dahin nur im Kino gesehen, in Coppolas „Apocalypse Now“. Die ganze Demo bestand für die meisten Teilnehmer hauptsächlich aus An- und Abreise. Aber war nicht der Weg das Ziel? Wurde hier nicht ein zivilgesellschaftliches Zeichen gesetzt? Die Tagesschau würde jedenfalls groß berichten.
Alle Teilnehmer erschienen friedfertig. Na, fast alle. In der Nähe des abgeriegelten Bauzauns sah ich hinter einem Schuppen einen Schwarzgekleideten mit Sturmhaube, der sich anscheinend für irgendwas zurechtmachte. Ich bemerkte, dass er ein langes Eisenrohr oder Ähnliches unter seine Jacke schob. Es war das erste Mal bei einer Demo, dass ich einen entschlossenen Gewalttäter wahrnahm. Wie sich bald herausstellte, war er nicht allein gekommen.
Nachdem die Demo zur Erleichterung der Veranstalter und der Landespolitiker die längste Zeit ohne Krawall verlaufen war, lieferten sich gegen Ende, als das Gros der Demonstranten längst abgezogen war, etwa 3.000 (!) Vermummte teils blutige Kämpfe mit der Polizei. Zwei von ihnen versuchten, einen in den Graben gefallenen Polizisten totzuschlagen, wodurch die hässliche Etappe der Demo doch noch eine gewisse Prominenz erhielt.
Im Großen und Ganzen jedoch beschrieben die Medien den Event als friedfertig, malten davon ein freundliches Bild. Auch ich nahm ein gutes Gefühl aus Brokdorf mit nach Hause. Ich hatte ein Statement abgeliefert, oder?
Betriebsfähig, aber nach Merkels Atomausstiegssalto abgeschaltet
Das war in einem Jahr, als mein geschätzter Achse-Kollege Manfred Haferburg als Schichtleiter im AKW Greifswald etwas Nützlicheres lieferte, nämlich Strom. Schon zwei Jahre zuvor hatte Haferburg während der norddeutschen Schneekatastrophe in einer Marathonschicht maßgeblich dafür gesorgt, dass in der DDR nicht sämtliche Lichter ausgingen.
Wie bekannt, wurde Brokdorf trotz jahrelanger Proteste und juristischer Querelen schließlich doch gebaut. Das seit 1972 geplante Werk ging 1986 ans Netz, lieferte hinfort gewaltige Strommengen und wurde, noch für viele Jahre betriebsfähig, als späte Folge von Merkels Atomausstiegssalto Ende letzten Jahres abgeschaltet.
Um die verbreitete Stimmung gegen Atomkraft zu verstehen, die sich seit den frühen Siebzigern breitmachte, muss man das irgendwie frivole Lebensgefühl dieser Zeit Revue laufen lassen. Es handelte sich um die Generation Bei-uns-kommt-der-Strom-aus-der-Steckdose – nebenbei der cleverste Claim, den die Atomkraft-Werbung je ersonnen hat. Kaum jemand sorgte sich um Energieressourcen, obschon der Club of Rome damals „Die Grenzen des Wachstums“ beschwor und jehovazeugenhaft alle möglichen Verknappungen, Peaks und Untergänge weissagte, die nicht eintrafen.
Schlabberige Latzhosenträger, prekäre Wurzelzwergexistenzen und freudlose Körnermampfer
Auch die Ölkrisen der 1970er blieben im Bewusstsein der meisten Bundesbürger Episoden, die man beherzt ausgeritten hatte. Unvorstellbar, dass Strom einmal knapper werden, gar für ein Weilchen oder länger versiegen könnte. Die Atomangst hingegen war groß. Sie hatte aus den 1950ern, da sie auch von den westdeutschen Kommunisten („Kampf dem Atomtod“) geschürt worden war, in die Siebziger rübergemacht.
Und diese sorgsam gehegte Angst war es, die den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Sekten und Partikel bildete, welche sich schließlich als grüne Partei zusammenschlossen. Was Mao-Jünger und Ökonazis, Esoteriker und Pädophile, Naturverklärer und Technikhasser verband, war der Kampf gegen den „Atomstaat“. So lautete der Titel eines Klassikers der Bewegung aus der Feder des Futurologen Robert Jungk, auch er von den frühen, kommunistisch gesteuerten „Ostermärschen gegen den Atomtod“ mitgeprägt.
Die Ökofreakszene mit ihren schlabberigen Latzhosenträgern, prekären Wurzelzwergexistenzen und freudlosen Körnermampfern stieß den eher hedonistisch gepolten Großteil der Menschen lange ab. Viele Grüne dieser Zeit sahen ja aus wie eine missglückte Photoshop-Kreuzung aus Claudia Roth und Anton Hofreiter.
Little did we know
In einem einzigen Punkt aber war die Mehrheitsgesellschaft schon immer ganz bei den Grünlingen: in der Ablehnung der Atomkraft.
Was mich betraf, der sich wohl als einen Sozialliberalen begriff, so kannte ich kaum einen Menschen persönlich, der jemals öffentlich für Atomenergie eingetreten war. So etwas tat man nicht. Damit wäre man raus gewesen aus seinen mühsam erworbenen Freundschaften und Zusammenhängen. Im Mainstream mitzuschwimmen, das ist keineswegs eine Erscheinung der Jetztzeit.
Auch ich habe mitgemacht. Und mitgelacht über Scherze, die im Milieu der Richtigdenkenden kursierten. Etwa der Reim:
Fällt der Bauer tot vom Traktor, liegt’s am Stader Schrottreaktor.
Oder eine Karikatur aus, glaube ich, der taz. Sie zeigte ein Mädchen, das die Haustür geöffnet hat. Draußen steht ein Wesen mit drei Beinen. Das Mädchen hat den Kopf gewendet und ruft ins Haus:
Mama, komm mal! Es ist Besuch aus Stade da.
Im niedersächsischen Stade produzierte eines der ersten kommerziellen Kernkraftwerke ab 1972 Strom. Die Anlage, 2003 vom Netz genommen, wurde in ihrer Geschichte gelegentlich nachgebessert, war jedoch nie ein „Schrottreaktor“. Kein Mensch wurde durch sie verstrahlt. Aber der Cartoon mit dem dreibeinigen Besuch war einfach ulkig. Hippies konnten sehr ulkig sein. Was die technische Seite der Atomkraft betraf, so galt für uns alle die Zeile aus Bert Kaemferts berühmtestem Lied „Strangers In The Night“: Little did we know.
Mit Vollgas um diverse ideologische Irrenhäuser
Was wir über Kernkraft zu wissen glaubten, entstammte zum Beispiel dem Buch „Friedlich in die Katastrophe“. Es galt eine Zeitlang als „Bibel der Anti-AKW-Bewegung“ und verkaufte sich weit über 130.000-mal. Sein Autor Holger Stroh hatte Fertigungstechnik, Business Administration und Erziehungswissenschaften studiert, galt kurioserweise für eine Weile als Atomkraftexperte und driftete später mit Vollgas um diverse ideologische Irrenhäuser.
Wikipedia verortet ihn gegenwärtig im Lager von „Chemtrails“-Verschwörungstheoretikern, was seine Philippiken gegen Atomkraft erklären könnte. Nach Strohms Meinung stammt Aids aus amerikanischen Forschungslabors; Amerika hätte das Wetter in Nordkorea manipuliert und dadurch eine Hungersnot bewirkt. Ferner betrieben die USA laut Strohm in Berlin eine Reichsregierung, die eigene Pässe ausstellte und dem US-Präsidenten unterstehe, schreibt Wikipedia. Man könnte über die Biografie des Bibelstifters Strohm zur Erkenntnis gelangen, dass jede Religion die Propheten hat, welche zu ihr passen.
Die größte Wirkung für eine breite Ablehnung der atomaren Energieerzeugung entwickelte nach meiner Erinnerung allerdings kein Buch, sondern ein Blockbuster made in Hollywood. „Das China-Syndrom“ aus dem Jahr 1979, eine mit Jane Fonda, Michael Douglas und Jack Lemmon glänzend besetzte, spannend inszenierte Mischung aus Katastrophenfilm und Verschwörungsplotte, handelt von einem Beinahe-GAU in einen kalifornischen AKW.
Das Medien-Mantra: Die Atomkraft ist erledigt, für immer
Aufrechte TV-Reporter kommen der Sache auf die Spur, doch die profitgierige Betreiberfirma will den Schrottreaktor wieder hochfahren und schreckt vor Mordanschlägen nicht zurück, um ihre Machenschaften zu vertuschen. Der dramatische Versuch des ebenfalls aufrechten Chefingenieurs, die furchtbare Wahrheit publik zu machen, kostet den Mann das Leben. Am guten Ende können die Journalisten die kapitalistischen Betreiberschurken entlarven, und das übrige Leben geht weiter. Nun freilich nach dem Motto: AKW? Nee!
Die eindeutige Anti-AKW-Mission des Films erhielt noch publizistischen Rückenwind, als knapp zwei Wochen nach dem Kinostart in den USA ein sogenannter Ernster Unfall passierte. Im Kernkraftwerk Three Mile Island kam es – hauptsächlich wegen menschlichen Versagens – zu einer partiellen Kernschmelze.
Zwar kam dadurch niemand ums Leben, doch Bewohner der umliegenden Orte wie Harrisburg waren schwer gestresst. Vor allem in Deutschland erhielt die Anti-AKW-Bewegung durch den Unfall kräftigen Auftrieb. Von da an musste niemand mehr mit Fakten begründen, warum er gegen Atomenergie war – Haltung zeigen genügte.
So ist es bis heute geblieben. Über neuartige, sicherere, effizientere Generationen von Kernkraftwerken, mit denen auch das Atommüllproblem womöglich lösbar wäre, davon will kaum jemand was wissen. Diskussionen darüber finden höchstens in medialen Nischen statt oder in Kreisen, die den Atomausstieg sowieso von Anbeginn kritisiert haben. Ein großer Teil der Wähler und Stromkunden dagegen glaubt noch immer dem Mantra der meisten Medien, das Thema Atomkraft sei erledigt. Für immer und weltweit.
Das Ausland schüttelt den Kopf über Deutschlands Energie-Voodoo
Warum dann in vielen Ländern neue AKW geplant oder schon im Bau sind? Lauter Geisterfahrer, die uns da entgegenrasen!
Alles wird gut. Spiegel-Leser hatten die frohe Botschaft bereits am 14. März 2011 vom Titelblatt des Magazins empfangen: „Das Ende des Atomzeitalters“ sei gekommen, hieß es da, gleich nach Fukushima. Das Stück reflektierte sehr hübsch die Träume grüner Journos. Freilich war es ein bisschen mit der heißen Nadel gestrickt.
Inzwischen werden die Atomkarten neu verteilt. „Jetzt geht das heuchlerische Deutschland in die Knie“ – mit diesem Zitat aus Großbritannien illustriert die FAZ in einem aktuellen Stück das Kopfschütteln des Auslands über Deutschlands Energie-Voodoo.
„Die Hippies haben gewonnen“, schrieb der Autor Michael Miersch vor zehn Jahren in einem Buch. Seine Analyse des siegreichen Feldzugs der Blumenkinder gegen die Gentechnik trifft auf die erfolgreiche Erdrosselung der Kernkraft ebenso zu. Erfolgreich in Deutschland, versteht sich.
Hippiesierung einer ehemaligen Industrienation
Neulich habe ich wieder auf Brokdorf geschaut, aus anderer Perspektive. Beim Örtchen Freiburg steht eine Bank auf dem Elbdeich, unweit eines Radarturms. Manchmal fahre ich da hoch. Man hat da guten Netzzugang. Kann auf dem iPhone zum Beispiel lesen, was der gewesene Kinderbuchverfasser und amtierende Wirtschaftsminister so alles über Energieversorgung weiß. „Wir haben ein Gasproblem, kein Stromproblem“, zitiert ihn die Website von n-tv. Der Robert! In Energiefragen genau so helle wie seine Parteifreundin Annalena („Das Netz ist der Speicher“).
Jenseits des mächtigen Flusses steht die weiße Reaktorkuppel des AKW Brokdorf, flankiert von einer endlosen Phalanx aus hochsubventionierten Zappelstromerzeugungstürmen. Gemäß der im Herbst 2010 vom Bundestag beschlossenen Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke hätte Brokdorf rechnerisch bis 2036 laufen können. Politisch ausgeknipst wurde der stabile Stromgroßlieferant im März 2011, endgültig abgeschaltet am 31. Dezember 2021. Was da am Elbstrom auf die Abwrackung wartet, ist das Symbol der Hippiesierung einer ehemaligen Industrienation.
Ja verdammt, #ichhabemitgemacht. Brokdorf 1981, das war ein Medienereignis, einer der vielen kleinen Schritte auf dem langen Marsch zum grünen Narrenschiff. Ich gab bei dem Gedanken meiner Kawa die Sporen und fuhr runter vom Deich. Dinge gibt es, über die man besser nicht nachsinnt. „Viel zu grauenvoll, als daß man klage“ (Hugo von Hoffmannsthal).