Gastautor / 03.10.2015 / 06:30 / 0 / Seite ausdrucken

25 Jahre Wiedervereinigung: Flüchtlinge werden uns durchschütteln - und das ist gut so

Von Marko Martin

Seit 25 Jahren leben wir im wiedervereinigten Deutschland – und noch immer hat sich Wolfgang Thierse nicht zu Wort gemeldet. Seltsam, stammt doch von ihm die staatstragende Aufforderung, “einander unsere Geschichten” zu erzählen. Kein 3. Oktober seit 1990, an dem diese Mahnung nicht erscholl – vorzugsweise musikalisch untermalt von Brandenburger-Tor-Konzerten mit den Puhdys, Nena und Udo Lindenberg.Hat nun also sogar die Gilde der Bedenkenträger und Wiedervereinigungskritiker begriffen, dass aller west-östliche Kladderadatsch inzwischen bis in die letzte Silbe auserzählt ist – und am Horizont ganz neue Herausforderungen warten?

Dennoch ein kurzer Blick zurück, nicht ganz ohne Zorn. Denn was mental tatsächlich schief lief und verdruckst war im letzten Vierteljahrhundert – es hatte auch mit dem säkular-protestantischen Zwang zum Einander-Geschichten-Erzählen zu tun.

Als der Ossi auf den Wessi traf

Denn nicht etwa Stories des politischen, ökonomischen oder schlicht lebensweltlichen Gelingens waren es, sondern larmoyante Etüden in Klage und Anklage. Dabei hatte dieser unerquickliche “talk in progress” schon früher begonnen: Immer dann, wenn in den Wohnungen der damaligen DDR Westbesuch angesagt war, Aldi-Billigprodukte, Kunert-Feinstrumpfhosen und HB-Zigaretten ihre Besitzer wechselten und ostdeutsche Muttis und Vatis sich mit Dresdener Stollen und Original Pilsener revanchierten – schließlich habe man ja auch etwas anzubieten, nicht wahr.

Entgegen der Legende wurde nämlich schon bereits vor 1989 westlicherseits nicht etwa fröhlich geprahlt: Eher war es ein unentspanntes Polaroid-Vorzeigen des eigenen Wohlstandes, wobei nie die Formel fehlte, dieser sei “nun wirklich sehr hart erarbeitet”. Im übrigen gelte: Auch bei uns im Westen ist nicht alles Gold, was glänzt. Die östliche Verwandtschaft konterte diese Schmallippigkeit nun nicht etwa mit Geschichten gewitzten Widerstehens und Staatsaustricksens, wie man sie in Polen oder Tschechien hörte.
Nein, die westliche Jammerigkeit musste noch überboten werden (was mühelos gelang), und selbst wenn der Mir-ham-ja-gor-nischt-Sermon mal Pause machte, kam der Stolz auf eigene Leistungen reichlich ranzig daher: Uns Ostlern macht keiner was vor, gesunder Menschenverstand und immer schön auf’m Teppich bleiben, außerdem wollen wir genialen Bastler erst mal sehen, was die ganzen Westler täten ohne ihre Technik.

Die gelungene Revolution

Ja, solcherart waren die Geschichten. Auch nach 1989/90 wurden sie kaum je erweitert um die berechtigte Freude über eine gelungene Revolution und ein Neuerfinden der eigenen Existenz unter nunmehr gänzlich anderen Umständen. Dafür geschieht es nun, dass inmitten tatsächlich blühender Kleinstadtlandschaften (saniert mit westlichen Transfergeldern und dank ostdeutscher Handwerkergeschicklichkeit) allerlei Depravierte in die Kameras grölen, die “Lügenpresse” höre sie nicht an.

Wenn man so will: Ressentiments verpulvern als letzte Travestie deutsch-deutschen Geschichtenerzählens. Dagegen kommt selbst die optimistische Gestimmtheit des Bundespräsidenten nicht an. Wie auch, wenn man ihm doch unterstellt, längst ein abgehobener Bellevue-Schlossherr zu sein, entfremdet den Sorgen der sogenannten einfachen Menschen?

Dennoch. Rund um diesen 3. Oktober muss das Land keineswegs Sorge tragen, in einer rhetorischen Endlosschleife stecken zu bleiben. Um es mit dem hoffnungsfrohen Skeptiker Heinrich Heine zu sagen: “Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich euch dichten.” Es kommt aus den Kehlen der Davongekommen, der vor Krieg und Terror zu uns Geflüchteten.

Die Kinder sind die Hoffnung

Mögen die kommenden Herausforderungen auch riesig sein und eher mit robustem Wertebewusstsein als mit amorpher “Willkommenskultur” zu meistern: Gerade zum Wiedervereinigungsjubiläum täte ein Blick auf jene Kinderzeichnung gut, die vor einigen Tagen in die Hände der Bundespolizei im bayrischen Passau gelangt ist.
Links die in unbeholfenen, doch eindringlichen Strichen gezeichnete Dunkelwelt der zerstörten syrischen Nicht-Heimat, rechts ein geordnetes Haus, ein geharkter Weg, die Farben von Schwarzrotgold und ein rührend eingekreiseltes “Polizi”. Wem kämen beim Anblick eines solchen Bildes nicht die Tränen?

Emigrantenkinder aus der ganzen Welt hatten einst Ähnliches gezeichnet, als ihre Seelenverkäufer endlich Ellis Island erreichten und sie der New Yorker Freiheitsstatue ansichtig wurden. Bis heute zieht Amerika genau daraus seine Kraft, bewahrt die Euphorie des Anfangs auch in den Mühen der Ebene – denn würden wohl andernfalls weiterhin Unzählige dort ihr Glück versuchen und auch finden?

Gerade weil nun hiesige Facebook-Rechtsextreme und Linksautonome dieses kindlich-syrische Urvertrauen ins sogenannte Schweinesystem mit Häme und Spott überziehen, sollten wir genau hinhören: Da kündigt sich womöglich ein ganz neues Lied an. Man muss kein Psychologe sein, um dieses Grundbedürfnis vieler Flüchtlinge zu erspüren: Frieden und Sicherheit, wirtschaftliche Chancen und – ja auch das: law and order.

Ohne die Gefahr kleinzureden, die von eingeschleusten Islamisten oder schlicht frustrierten, machistisch und homophob geprägten Jungmännern ausgeht: Die Mehrheit derer, die ihr Leben riskiert hat, um Anarchie und Massenmord zu entkommen, sucht hier gewiss nicht zuvörderst neuen Trouble oder ein Plätzchen in der “sozialen Hängematte”.
Die Geschichten und Erwartungen, die sie mitbringen, könnten gleichwohl verstören – durchaus auch zum Guten. Wie sich einst Balzacs Romanheld Rastignac aufmachte, um sich mit der großen Stadt zu messen – “À nous deux, Paris” lautet das legendäre Zitat –, so strömen heute Menschen zu uns, die weder Geld noch Zeit haben für die lauen Wonnen antikapitalistisch-postmaterieller Melancholie.

Stimulierende Neuzugänge

Gewiss, sie mögen vielleicht keine Veganer sein und auch noch nie etwas von Gender-Mainstreaming, Feinstaubbelastung und universitärem “Trigger-Warning” (der neueste irre Schrei politischer Korrektheit) gehört haben, dafür aber bringen sie uns etwas zu Gehör: Pragmatischer Aufstiegswille ist kein belächelnswerter Spießertraum, sondern Teil der Condition humaine, und der flexible Mensch ambivalente Realität anstatt lediglich neoliberale Schimäre.

Im längst stagnierenden deutsch-deutschen Dauergespräch können diese neuen Töne nur stimulierend sein. Selbst wo sie zum Widerspruch reizen und womöglich mit den Usancen einer ausdifferenzierten Zivilgesellschaft in Konflikt geraten, provozieren sie nämlich Nachdenken und Horizonterweiterung.

Die Beispiele Kanadas, Australiens und der USA beweisen, dass dies eine Gesellschaft noch selbstbewusster und vitaler macht. Die hiesige Schlumpfmützen-“Generation Maybe” jedoch, allzu schlaffes Kind der Wiedervereinigung, könnte in Bälde gehörig durchgeschüttelt werden. Und auch das ist verdammt gut so.

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