112-Peterson: Wie entsteht der totalitäre Staat? 

Solschenizyn beschreibt, wie die Insassen im GULAG selbst zur Aufrechterhaltung des GULAG-Betriebs beitrugen. Dies ist eine perfekte Metapher für den totalitären Staat. Oft wird das anders gesehen, nämlich so, dass der totalitäre Staat aus lauter schuldlosen unterdrückten Opfern besteht, die unter dem Joch eines teuflischen Tyrannen leben und alles Üble ausschließlich von oben kommt.  

Ich glaube nicht, dass das stimmt. Der totalitäre Staat hat eine holografie-ähnliche Struktur, in der die Tyrannei in jeder einzelnen Schicht präsent ist. Sie ist psychologisch verankert und existiert innerhalb von Familien genauso wie in Organisationen auf mittlerer Ebene.  

Die Tyrannei ist etwas, was gleichzeitig überall da ist und alles durchdringt, wenn sie einmal Fuß gefasst hat. Viele Menschen behaupteten nachträglich, dass sie lediglich Befehlsempfänger waren. Ich will damit keineswegs behaupten, dass ich mich in einer vergleichbaren Lage der Befehlsausführung verweigern würde. Dennoch steht für mich die Notwendigkeit einer individuellen Verantwortung im Mittelpunkt. 

Wenn wir die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts begreifen wollen, sollten wir davon ausgehen, dass Individuen die Verantwortung für sie tragen. Es könnten nämlich auch Individuen sein, die Verantwortung für das Gute im Menschen übernehmen, um das Böse zu verhindern. Dies ist eine Alternative zum nihilistischen Leugnen und auch zur Ideologie-Besessenheit. Wenn die Gruppenidentität zu eng geknüpft ist, agiert man leicht wie ein Zahnrad inmitten aller anderen Zahnräder in der Maschinerie. Ist aber gar keine Gruppenidentität vorhanden, so steht man alleine und verlassen da. 

Wo ist der dritte Weg?

Ob also mitten drin oder außen vor – beides sind schlechte Alternativen. Es war nicht einfach, zu erkennen, dass es einen dritten Weg zwischen jenen beiden geben könnte. Menschen brauchen Glaubenssysteme für ihre Existenz, ihre seelische Stabilität und ihre Stabilität in der Gesellschaft. Aber wenn die Glaubenssätze bedingungslos und unflexibel sind, kann das die Menschen in einen wütenden Mob verwandeln. Will man das Spiel nicht mitspielen, verliert man außerhalb der Masse leicht seine Identität, was auch nicht akzeptabel ist. Als ich mir das auf diese Weise zurechtlegte, hatte ich ein großes Problem, weil ich keinen dritten Weg sah.   

Erst als ich die zugrundeliegende Struktur der Mythologie verstand, erkannte ich die Bedeutung der Heldenreise als Option: Man bekennt sich als Individuum zur höchsten moralischen Verantwortung.  

Im Neuen Testament taucht die Vorstellung auf, dass Christus die Sünden der Menschheit auf sich nimmt. Damit verbunden ist das Konzept der Erlösung. Das ist eine bedrohlich dunkle Ideenwelt. Die Implikation ist, zumindest auf der psychologischen Ebene, dass dem Leser dieser schrecklichen Geschichten bewusst sein muss: Er liest über sich selbst. Wer das nicht versteht, versteht diese Geschichten nicht. Er positioniert sich dann als ein guter Mensch, der niemals solche schlimmen Sachen tun würde, im Gegensatz zu den anderen teuflischen Wesen, über die er liest. Umso schrecklicher die Erkenntnis, dass der Teufel, den man da draußen wähnt, auch in einem selbst wohnt. Wozu man selbst fähig ist, weiß man erst, wenn man sich in einer entsprechenden Situation befindet. 

Mit Durchschnittsmenschen in die Katastrophe

Es waren gewöhnliche Durchschnittsmenschen, die die Katastrophen in Nazi-Deutschland, in der Sowjetunion und in Maos China erzeugten. Sie waren zwar nicht die ursprünglichen Verursacher, aber sie hatten die Möglichkeit, in bestimmten Situationen „Nein“ zu sagen, was sie aber nicht taten. Es passiert ja nicht alles auf einmal, die Katastrophen gliedern sich in einzelne Situationen. Das sieht man deutlich im großartigen Buch „Ganz normale Männer“ von Browning*. Darin wird beschrieben, wie ein deutsches Polizeibataillon nach Polen geschickt wird. Es besteht aus lauter alltäglichen Männern mit bürgerlichem Hintergrund, die noch vor der Ära der Hitlerjugend aufgewachsen waren – sie wurden also keineswegs bereits in jungen Jahren indoktriniert. In Polen verwandeln sie sich in Menschen, die schwangere Frauen nackt aufs Feld jagen und sie dort per Kopfschuss von hinten töten.

Der Autor beschreibt die einzelnen Etappen, die zum Verbrechen führen. Den Männern wird gesagt, was ihre Aufgabe ist, aber auch, dass sie nach Hause gehen könnten, wenn sie es wollten. Es gab also einen Ausweg. Aber insbesondere in einer militärisch orientierten Organisation ist Kameradschaft ein starkes ethisches Erfordernis: Es gilt als feige, die ganze Drecksarbeit seinen Kameraden zu überlassen. Einmal in diese Falle hineingeraten, wuchsen die Verstrickungen, die sie in Richtung ihrer Taten trieben. Jedesmal, wenn sie zu einer Grausamkeit Ja sagten, wurde die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie für die nächste auch bereit sein würden. All dies ließ die Männer keineswegs kalt, sie haben gelitten. Sie waren krank, übergaben sich, zerfleischten sich ... aber sie hörten nicht auf. 

Es ist ein großartiges Buch* für alle, die wissen möchten, wie Menschen dazu verführt werden können, einen solchen abscheulichen Weg Stück für Stück bis zum Ende zu gehen. Was am meisten erschüttert, ist die Tatsache, dass die Täter lauter unauffällige, alltägliche Durchschnittsmenschen waren.

Christopher R. Browning: Ganz normale Männer

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel How a Totalitarian State is Actually Formed auf dem YouTube-Kanal Jordan B Peterson Clips von Jordan B. Peterson.

Foto: jordanbpeterson.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Anders Dairie / 10.10.2018

Ein TERRORREGIME ist, wenn Primitive, wie Erich Mielke als StaSi-Chef,  möglichst alle fassbaren Informationen aller fassbaren Bürger sammelt, archiviert, um jeden Opponenten nach Gusto, und ohne rechtliches Verfahren, verschwinden lassen zu können.  Das geht soweit, dass politsiche Morde im Ausland geplant waren und ausgeführt wurden. Ohne jede Sühne, weil Tatwaffe und/oder Leiche un-auffindbar sind.  Der Fall SKIPAL ist in sowjektischen Geheimdienst-Kreisen eine erwartbare Maßnahme zur phys. Zerstörung von Verrätern.  Der Westdeutsche bastelt sich eine Scheinwelt, weil ihn der Rechtsstaat permanent verwöhnt. @ Herrn MÜLLER, das KZ Buchenwald war auch ein normales Gefängnis, mit allen unfassbaren Regeln, die in solchen Anstalten gelten. Äußere und innere Gewalt allenorts und permanent.  Lettische SS hat die Zäune bewacht und das Lager selten betreten, sie konnten kaum Deutsch. Die interne Lagerleitung bestand aus (hauptsächlich deutschen) Kommunisten. Der komm. Chef fuhr Dienstwägen mit Chauffeur und agierte als Unternehmer. Es gab 2 Dutzend Außenlager, teils von kriegswichtiger Bedeutung:  Infantriewaffen und Flugkörper.  Der Gauleiter in Weimar, Gaukel, war Kommissar für Arbeitskräftebeschaffung im Reich. Ein echter Verbrecher.  Die heutigen Vorstellungen davon sind überwiegend falsch.  Solidarität ?  Von wegen.  Nur die Demokratie kann Völker retten !

Martin Lederer / 10.10.2018

“Den Männern wird gesagt, was ihre Aufgabe ist, aber auch, dass sie nach Hause gehen könnten, wenn sie es wollten. Es gab also einen Ausweg. “: Nichts für ungut. Aber das ist naiv. Vielleicht stimmt das vielleicht auch nicht. Es gibt genügend Beispiele, wo Leuten “etwas gesagt wurde” und dann - oh Wunder - es ganz anders war. In einer Diktatur kann ich mich ja “auf das Wort von Oberen verlassen”?

willi eberhartinger / 10.10.2018

der gulag war keine selbstverwaltete kommune gleichberechtigter freier menschen. jedem insassen drohten knüppel, verschärfung des arbeitsdienstes und schlimmeres. das prinzip, sich ein paar “privilegien” - also dinge wie eine halbwegs annehmbare mahlzeit oder sich NICHT zu tode arbeiten müssen - durch kollaboration mit den peinigern zu erwerben kann man dann wohl kaum für rückschlüsse auf eine allgemeine menschliche natur benutzen. zuerst kommt der knüppel, das man den dan später wieder versteckt ändert nichts an seiner präsenz.

Anders Dairie / 10.10.2018

“Wer Kunst hat und Wissenschaft, hat auch (seine eigene)  Religion.  Wer beides nicht hat, der habe Religion.”  Goethe wird wohl Recht haben.  Herr Peterson sagt nicht, wieviele sich den Exekutionen verweigert haben.  Es ist aber noch schlimmer als er sagt.  Das damalige Kriegsrecht deckte bei Partisanen-Erschießungen nach Angriffen aus dem Hinterhalt (Haager Landkriegsordnung)  ein Opferverhältnis von 1 zu 10.  Mit Diktaturen hat das nicht viel zu tun.  Wenn die Furie Krieg von der Leine ist,  ist von einem Tag auf den anderen alles möglich.  Wenn Pappa erzählte, haben die Jungs gebannt gelauscht;  die Mädchen sind abgehauen. Während einfache Leute kaum über das Geschehen im Haus hinaus denken,  sehen die Solschenizyns und Sacharows die Systeme der Gewalt.  Sie können nur noch opponieren, um sich die Selbstachtung zu erhalten.

Albert Pflüger / 10.10.2018

Ach wenn mich das angesprochene Buch sehr interessieren würde, ich bringe es nicht fertig, es zu lesen. Es würde mich lange umtreiben, und was geschehen ist, kann man nicht ändern. Und so erspare ich mir das Grauen. Leider sind die beschriebenen Mechanismen Grundkonstanten menschlicher Gesellschaften, die niemals einfach Geschichte sein werden.  Ähnliches begegnete mir in Bamberg in diesem Sommer, wo ich mich über die Hexenverfolgungen erkundigte. Schon die Bibel berichtet ja über die Ermordung aller Neugeborenen, veranlasst durch Herodes. Das hat er nicht allein vollbringen können! Insofern bin ich auch ein Gegner der These von der Einmaligkeit der Shoa. Sie ist nicht plausibel. Die Shoa steht vielmehr in einer langen Reihe vergangener und zukünftiger Untaten. Die Nazis sind sozusagen Platzhalter, die jederzeit durch andere ersetzt werden können, die sich in vielerlei Hinsicht durchaus unterscheiden können. Die Gemeinsamkeiten liegen abseits der jeweiligen Ideologie.

Hans-Hasso Stamer / 10.10.2018

Das ist erschütternd und überzeugend zugleich. Wieviel mehr gilt das erst bei Handlungen, die nicht auf Anhieb als inhuman zu erkennen sind, die durch einen Verdrängungsmechanismus als human erscheinen, in Wirklichkeit aber nur Interessen und Ideologien bedienen.  Der Konformitätsdruck ist in jeder Gesellschaft hoch. Die westliche Gesellschaft ist in kleine Gruppen zerfallen, in denen selbst jedoch durchaus hoher Konformitätsdruck herrscht. In Diktaturen ist dieser noch höher. Aber auch Diktaturen funktionieren nicht vorrangig durch einen von oben vorgegebenen Zwang, sondern aus den inneren Mechanismen heraus, die sich die herrschende Schicht zunutze macht. Letztendlich lebt jede Gesellschaft, vom atavistischen Stammesclan bis zur bürgerlichen Demokratie, von der Autokratie bis zur Diktatur, vom Mitmachen. Die Peitsche ist die gesellschaftliche Ausgrenzung und das Zuckerbrot ist der gesellschaftliche Erfolg und die Anerkennung durch die Mitmenschen.

Michael Hoffmann / 10.10.2018

Ich glaube, es ist bei le Bons oder Machiavelli gelesen zu haben (sinngemäß): Selbst eine Diktatur kann sich nur halten, wenn der größte Teil des Volkes hinter ihr steht. Ein Diktator braucht auch Menschen, die ihm folgen. Ertragen und dulden ist in diesem Fall auch eine Form der Zustimmung.

Helmut Rott / 10.10.2018

Fragen Sie Herrn J. mal nach “Gott”. Es folgt ein unerträgliches Geschwurbel (siehe youtube,Sam Harris - Peterson)

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Jordan B. Peterson, Gastautor / 08.11.2023 / 11:00 / 15

112-Peterson: Leben ohne Vaterfigur

Ich wurde gefragt, was ich raten würde, wenn man seinen eigenen Vater nicht aus dem „Bauch des Wals befreien kann“ (wie in der Geschichte von…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 31.05.2023 / 10:30 / 26

112-Peterson: Auch Frauen sind grausam

Wir reden viel über toxische Männlichkeit, vor allem in Gestalt körperlicher Gewalt. Was ist das weibliche Gegenstück dazu? Ausgrenzung und Rufmord. Als ich mich mit…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 19.04.2023 / 11:00 / 8

112-Peterson: Schule ist nicht auf Jungs ausgerichtet

Die Schule ist nicht besonders gut auf Jungs ausgerichtet. Sie sind nicht dafür geschaffen, sieben Stunden am Tag still zu sitzen und sich zu Tode…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 28.12.2022 / 10:00 / 4

112-Peterson: Der Feind in uns

Wer ist hier der Feind? Die Schlange in unserem Herzen? Die Lüge auf unserer Zunge? Die Arroganz unseres Intellekts? Die Feigheit unserer Weigerung zu sehen?…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 21.12.2022 / 10:00 / 25

112-Peterson: Die israelische Frage

Jordan B. Peterson sprach mit Benjamin Netanyahu über das Existenzrecht Israels. Im Folgenden geben wir einen Auszug aus einem Gespräch zwischen Jordan B. Peterson und…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 27.07.2022 / 10:00 / 52

112-Peterson: Der Westen spielt mit dem Feuer

Was würde es für die Russen bedeuten, zu verlieren? Glauben Sie, Russland wird einfach klein beigeben? Und wir werden nicht ebenso mitverlieren? Das wird nicht…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 30.06.2022 / 10:00 / 9

112-Peterson: Kollektivisten landen immer beim Individuum

Vertretern der postmodernen Identitätspolitk ging plötzlich folgendes auf: Man müsse in puncto Unterdrückung Rasse und Geschlecht zusammen denken, also etwa anhand des Beispiels einer schwarzen…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 08.06.2022 / 10:00 / 7

112-Peterson: Der Weg zur Besserung

Wenn man sich eingesteht, dass das eigene Leben schrecklich ist, weil man 50 Dinge falsch macht, heißt das, dass man diese Dinge auch richtig machen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com