Die GroKo und das höfische Zeremoniell

Man sollte die Zeremonialwissenschaft wieder einführen. Die FAZ berichtete 1998 über „die Schauseite des Staatsgeheimnisses“ als Grundmuster im europäischen Absolutismus: Die Zeremonialwissenschaft gab es ab dem späten 17. Jahrhundert nur wenige Jahrzehnte lang. „Die Lehren vom ‚Ceremoniel‘ beschrieben die hochabsolutistische Symbiose von Herrschaft und Repräsentation.“ Es ging um Akte öffentlicher Politik. Diese wurden ästhetisch überhöht und damit den „äußerlichen Sinnen“ eingeprägt.

Als Teil des theatrum politicum absolutistisch-barocker Darbietung von Herrschaft war das „Ceremoniel“ Inszenierung, Absicherung und Rechtfertigung zugleich. Ziel: „Die Gesellschaft sollte festgehalten werden in ihren ständischen Zuordnungen, in ihren Abschottungen nach Rechten, Denk- und Lebensweisen. Vor allem aber war den unteren Schichten zu imponieren, waren die unkontrollierten Affekte des Pöbels zu bedenken, waren dessen Sinne durch ästhetische Demonstration zu ‚kützeln‘ … ein göttlicher Kosmos auf Erden.“

Die Zeremoniallehren für den höfischen Adel handelten von einer Aura, die sich gegen alles Erklären sperrte. „Denn nicht nur sollte, der Ratio des Absolutismus folgend, alle fürstliche Politik im Verborgenen geschehen, ihre höfische Inszenierung sollte auch nicht durch Räsonieren, durch den Blick hinter die Kulissen entzaubert werden.“ Ab dem frühen 18. Jahrhundert geriet dann die Disziplin in den Gegenwind des Naturrechts. Seit den Vertragslehren und der Depersonalisierung staatlicher Herrschaft war die Zeremonialwissenschaft obsolet geworden. Heute sind bekanntlich beide Gründe für den Wegfall der Disziplin in der politischen Praxis revidiert beziehungsweise gelten vor allem theoretisch.  

Ein Phänomen fortgeschrittener Dekadenz

Unerwähnt in der FAZ-Rezension bleibt ein Wegbereiter der Frühaufklärung, nämlich der eigensinnige Philosoph und Jurist Christian Thomasius (1655 – 1728). Der schrieb über das decorum politicum („Das decorum politicum spiegelt die ständische Gesellschaft, in der man mit Höhergestellten, Seinesgleichen und Niederen je anders umzugehen hat.“) als einem Phänomen des Zivilisationsprozesses im Sinne fortgeschrittener Dekadenz. „Die Zunahme der Gebote des decorum politicum indiziert also den Verfall menschlicher Sozialität.“ Die „Ehrbarkeit der Patriarchen“ sei zwar noch vernünftig, aber das pervertierte politische decorum speise sich aus Hass und Misstrauen.

Alsdann identifizierte Thomasius auch das Zeremoniell und übte durch „biblizistische Einkleidung eine fulminante Kritik am überbordenden Zeremonienwesen der barocken Ständegesellschaft“. Die Kritik konkretisierte sich in der Übersteigerung privatpolitisch motivierter bürgerlich-höfischer Interaktionsformen und gipfelte in der Aufdeckung der Selbstinszenierung als Mittel der Staatsraison: „Derowegen ist kein Zweiffel / daß man getrachtet / durch angenehmes Aergernüß die Begierden der Unterthanen zu irritieren / damit sich dieselbigen zur Unterthänigkeit und blinden Gehorsam desto eher bequemten.“      

Aktueller Anknüpfungspunkt einer wiedereingeführten Zeremonialwissenschaft in der Epoche des Internet könnte zum Beispiel dieses Selfie sein.

Dieser Beitrag erscheint auch auf Susanne Baumstarks Blog Luftwurzel

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Leserpost

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Dr. H. Böttger / 10.03.2018

Auftritte von Merkel sind Beispiele sorgfältig geplanten Hofzeremoniells. Der Weg zum Mikrofon, mit raumgreifendem, energischem Schritt, den Blick seitwärts den Kameras gemäß ausgerichtet. Dann sofort eine Katheder-Verkündung, Tatkraft vermittelnd. Oder die Technologie des Nichtbeachtens von Störenfrieden, und das sind bei ihr alle, die nicht gerade zum Hofknicks vorgelassen wurden. Interessant wie sie über ärgerliches Volk hinweg, im Kreis von Hofschranzen mit dem Finger in die Ferne deutet (wohin? Rathaus? Kirche? Uhr? Jubellosung?Wolke?) und damit ihrer Entourage ihre Unbeeindrucktheit suggeriert. Usw.

Hans-Peter Dollhopf / 10.03.2018

Zur Tätigkeit des “Hofberichterstatters” in der Zeremonialwissenschaft ein Beispiel: “Heiko Maas besitzt wenig internationale Erfahrung – und wird Chef aller deutschen Diplomaten. Macht er seine Arbeit klug, wird er bald populär sein. Dann liegt es nahe, in ihm einen möglichen Kanzlerkandidaten der SPD zu sehen.” Daniel Friedrich Sturm, Welt online,  19:03 Uhr, Lead zu “Europäer, Sozialdemokrat, Außenminister”

Elmar Schürscheid / 10.03.2018

Ja, schönen Dank auch. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Das Selfie ist irgendwo zwischen Hitchcock und Loriot. Suche Jeder sich was Ihm gefällt. Ich tendiere zu Hitchcock! Obwohl?........ Loriot?!?

Andreas Mertens / 10.03.2018

Alle Politiker mit Geschmack an höfischer Selbstgefälligkeit sollten sich stets einer ganz speziellen Jahreszahl gewärtig sein. 1789! Klar, wir sind hier in D-Land .. und Revolution gibt’s entweder nach Vorlage des Rezepts oder nach Lösen der Bahnsteigkarte ... aber das bedeutet nicht das der tranige Michel auf alle Zeiten weiterschläft .. egal wie sehr man ihn piesackt. Allerdings befürchte ich das der Michel beim Erwachen gleich in den Furor Teutonicus verfällt. Sagt mir bitte rechtzeitig Bescheid .. ich wohn in der Nähe der holländischen Grenze ... ich mach dann rüber.

Dolores Winter / 10.03.2018

Ich fand den Artikel nicht so “baumstark” wie sonst, aber das Bild von Merkel als Sonnenkönigin passt wie Arsch auf Eimer. Gestern las ich ein Interview mit Dorothee Bär auf WeltOnline, in dem sie die 330 Millionen twitter-Nutzer als Psychopathen beleidigte. Noch nicht im Amt, aber schon Herrenmenschin.

Bargel,Heiner / 10.03.2018

Also das Bild zum Text kann man ungeändert übernehmen, wenn Frau Merkel dereinst den Kanzlersessel räumt und ihr Bild in der Kanzlergalerie aufgehängt werden muss. Spart Steuergeld!

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