Quentin Quencher / 05.09.2021 / 16:00 / 19 / Seite ausdrucken

Die Briefwahl und meine Sandalen

Die Briefwahl ist ihrer Heiligkeit beraubt. Keinerlei Ritus ist noch damit verbunden, ich kann ungewaschen in Unterhosen am Frühstückstisch sitzen und meinen Wahlzettel ausfüllen.

„Aber der Moment, in dem er [der Wähler] dann wirklich wählt, ist beinahe heilig; heilig sind die versiegelten Urnen, die die Wahlzettel enthalten, heilig der Vorgang des Zählens.“ (Elias Canetti in „Masse und Macht, Das Wesen des parlamentarischen Systems“)

Die Briefwahl ist dieser Heiligkeit beraubt, es wird eine Verrichtung in etwa so, wie die Teilnahme an irgendeiner Online-Umfrage. Keinerlei Ritus ist noch damit verbunden, ich kann ungewaschen in Unterhosen am Frühstückstisch sitzen und meinen Wahlzettel ausfüllen.

Wäre eine Briefwahl für den Wähler genauso bedeutsam wie die persönliche Stimmenabgabe im Wahllokal, dann bräuchten wir auch keine Abstimmungen im Bundestag mehr. Die Abgeordneten schicken ihren Zettel per Post, das Ergebnis wird dann in einer Pressemitteilung bekanntgegeben. Besonders linientreue Parlamentarier, die nie gegen ihre Fraktion stimmen würden, können gleich noch eine „Stimmeneinzugsermächtigung“ ihrem Fraktionsvorsitzenden geben und müssen sich nicht mal mehr gedanklich damit beschäftigen, was sie gerade getan haben. Der bucht einfach die Stimme ab.

Die verlorene Heiligkeit der Handlung

Nein, ich gehe persönlich ins Wahllokal, ziehe mir vorher etwas Vernünftiges an, trage sogar richtige Schuhe, obwohl ich sonst das ganze Jahr nur barfuß in Sandalen rumlaufe. Nur wenn es kalt wird, ab null Grad Celsius, benutze ich Socken und ab minus zehn wechsle ich dann zu richtigen Schuhen. Oder aber bei besonderen Anlässen, dazu gehört die Wahl zum Bundes- oder Landtag, trage ich Schuhe. 

Der Ritus, der Gang in die Wahlkabine, das Einwerfen des Wahlzettels in die Urne, ja, auch schon die Vorbereitung darauf, dass ich mich rasiere, etwas Anständiges anziehe, macht mir klar, dass meine Stimmabgabe wichtig ist, von den alltäglichen Verrichtungen und Gepflogenheiten getrennt.

Mag sein, dass es noch andere gute Gründe gibt, die Briefwahl abzulehnen, etwa weil Manipulationen denkbar sind, allerdings, für mich spielen diese Bedenken keine große Rolle, es ist die verlorene Heiligkeit der Handlung, die mich davon abhält, meine Stimme per Briefwahl abzugeben. Ich gehe persönlich ins Wahllokal, zeige mich und mache damit meinen Mitmenschen klar, wie wichtig mir dieser demokratische Vorgang ist, sogar meine geliebten Sandalen bleiben im Schrank.

Dieser Beitrag ist auch auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser erschienen.

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Leserpost

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Manni Meier / 05.09.2021

Habe gerade eben in “Politico” einen Artikel zum Protrokoll beim Tod der britischen Monarchin gelesen: „London Bridge is down.“ Mit diesem Satz wird ein ranghoher Beamter den britischen Premierminister informieren, dass Königin Elizabeth II. tot ist. Und in GB läuft die „Operation London Bridge“ an. Die Aufbahrung der Queen läuft unter Code „Feather“, die Inthronisierung des neuen Königs ist die „Spring Tide“. Einheitlich werden alle Banner der staatlichen Social-Media-Accounts in schwarz erscheinen und als Profilbild das Behördenwappen verwendet.” Was hat das nun mit Quenschers Sandalen zu tun? Viel, es zeigt dass ein Land oder eine Person noch Stil besitzen. Ebenso, wie manche in Badelatschen und Jogginghose zur Wahl gehen, wären in Deutschland die Abläufe mit den seelen- und herzlosen behördlichen Aktenzeichen xy/123/§35|Merk gekennzeichnet und gut ist. Nur Wenige besitzen bei noch das Gespür oder Gefühl für besondere Tage oder Anlässe.

Hans-Peter Dollhopf / 05.09.2021

Lustige Meldung: “In einer Insa-Umfrage hat die SPD den Vorsprung auf die Union auf fünf Prozentpunkte ausgebaut.” Wusste ich es nicht schon immer, dass es die SPD ist, die bei Insa-Umfragen für ihre Prozentpunkte sorgt? Sonst müsste es ja lauten: “In einer Insa-Umfrage gewährten die Befragten der SPD einen Vorsprung von fünf Prozentpunkten auf die Union.” Hier wurden ganz klar Ross und Reiter vertauscht. Schmunzeln musste ich auch hierbei: “Die Grünen verlieren erneut.” Hey, noch drei lange Wochen. Da geht noch ziemlich viel mehr. Da kann noch viel Luft raus zwischen zurückliegendem Höhenflug und bevorstehendem Aufprall! Es geht nicht darum, dass eine CDU nicht gewinnt. - es geht darum, dass die Grünen verlieren. Und die Wähler sind den Grünen ganz und gar nicht so sehr grün.

Marion Knorr / 05.09.2021

Ich geh da im zivilisierten Erscheinungsbild hin. Im Wahlvorstand sitzt mein ältester Sohn und da will ich mich nicht blamieren.

Sirius Bellt / 05.09.2021

Bislang habe ich meistens im Wahllokal gewählt. Bin auch schon mit Wachsjacke und Gummistiefel wählen gewesen, weil ich keine Zeit mehr hatte mich umzuziehen.

Klaus Keller / 05.09.2021

Zum Ritus gehört die innere Haltung. Das können sie zu Hause auch machen. Der Wahlumschlag landet halt zunächst in der gelben Tonne oder ähnlichem und erst später in der Urne, was auch nicht so nett klingt. Das mit der Heiligkeit der Handlung sollten Sie nicht überbetonen. Im ungünstigen Fall übertragen Sie unbewußt diese Heiligkeit auf die Gewählten. Sie sind aber nur Wahlbeamte. Ob Beamte Heiligenscheine haben weiß ich nicht. Es gibt wenige die im Arbeitseifer leuchten. Das müssen sie auch nicht. Normal würde mir genügen. PS Eine Trauerfeier im Anschluß wäre angemessen. Ihre “Wählerstimme” ist ja dann erst mal weg und man wird jahrelang nichts mehr von ihr hören wollen, was traurig ist. Beste Grüße an die Wählerstimmen in der Schweiz bei dieser Gelegenheit. Von denen hört man ja öfter was interessantes.

Hans-Peter Dollhopf / 05.09.2021

Frau Kuhn: “URNEN ?? Bei uns waren es MÜLLTONNEN !!” Bei uns sehen die Wahlkabinen, die iim Wahllokal herum stehen wie Papphütten aus einem 5. Welt-Slum aus. Zusätzlich wird an dem Abfall, den sie zum Zusammentackern wohl im Sperrmüll gesammelt haben, auch noch gespart, sodass der Oberkörper der Wähler nicht verdeckt ist. Jeder im Raum kann einem beim Ankreuzen direkt ins Gesicht glotzen. Also bei uns hat das Wählen den Flair von Altpapier wegbringen.

b. stein / 05.09.2021

Stutzig wurde ich in der letzten Woche als bekannt gegeben wurde, dass durch Olaf Scholz in Brandenburg jetzt schon 11% mehr für die SPD stimmen als man erwartet hat. Schon klar! Und ich frage: wie viele Köfferchen mit fertig angekreuzten Stimmzetteln sind 11%?

Günter H. Probst / 05.09.2021

Sie können doch auch aus der Briefwahl eine heilige Handlung machen, wie die Großmeister der Demokratie es gerne sehen. Sie rasieren sich, ziehen sich die besten Sachen an, versammeln Ihre Liebsten um sich und zünden eine Kerze an. Dann nehmen Sie sich den Wahlzettel vor, teilen die Anzahl der Kandidaten/Listen duch 6. Sie nehmen sich die vier oder fünf Würfel, schütteln einmal kräftig durch und werfen. Die Summe der Augen aller Würfel ist der Listenplatz, den Sie ankreuzen. Sie können auch ein Gesellschaftsspiel daraus machen. Alle dürfen würfeln und zum Schluß wird die Gesamtsume der Augenzahlen durch die Anzahl der Teilnehmer geteilt. Das setzt aber mindestens einen voraus, der rechnen kann. Sind mehrer Wahlberechtigte dabei, kann das Spiel reihum stattfinden.

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