Am 24. August 1998 um vier Uhr nachmittags unterzog sich der britische Kybernetikprofessor Kevin Warwick, damals 44 Jahre alt, einer Operation. Der Chirurg George Boulous betäubte in der Tilehurst Surgery Klinik von Reading den Unterarm seines Patienten lokal und platzierte einen Siliziumchip unter seine Haut. Mit dem elektronischen Teil in seinem Körper konnte Warwick von diesem Tag an in seinem Haus Türen öffnen, Licht ein- und ausschalten und die Heizung regulieren, ohne einen Türknopf oder einen Schalter zu berühren. Sein Körper hatte sich eine neue Fähigkeit im Wortsinn einverleibt.
Viele, die davon hörten, hielten das Experiment des Wissenschaftlers der Universität Reading für eine Spielerei. Für die Anhänger der transhumanen Bewegung setzte Kevin Warwick damals zum großen Sprung an. Er verwandelte sich an einem Nachmittag zum weltweit ersten Cyborg – zu einer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Der Maschinenanteil nahm nur einen winzigen Platz in seinem Körper ein, und er erlaubte ihm auch nichts, was nicht jeder Mensch auch mit seinem Finger am Lichtschalter hätte erledigen können. Aber darum ging es ihm nicht. Er wollte die biologische Grenze seines Körpers übertreten. Das versuchen Menschen seit vielen Jahrhunderten, vor allem benutzen sie dabei natürliche und später synthetische Substanzen. Warwicks Pioniertat bestand darin, einen neuen Weg zu diesem alten Ziel zu nehmen.
Der Professor arbeitet heute an der Universität von Coventry. Auf eine Gesprächsbitte reagiert er nicht besonders gnädig. Was daran liegt, dass er einerseits schon sehr oft nach seinem Gerät gefragt wurde, das er immer noch unter der Haut trägt. Außerdem möchte er seine knappe Zeit am liebsten auf die Forschung zur künstlichen Intelligenz verwenden. Auf dem Gebiet zählt er zu den weltweit führenden Kapazitäten. Dann lässt er sich doch auf ein Gespräch per Mail ein.
Stimmt es eigentlich, dass du der weltweit erste Mensch mit einer Mensch/Maschine-Schnittstelle warst?
"Nun", antwortet er, "ich glaube, es gab eine Menge solcher Verbindungen aus therapeutischen Zwecken, zum Beispiel Cochlea-Implantate für Hörgeschädigte, künstliche Hüften und Herzschrittmacher. Aber du hast wahrscheinlich recht, wenn es um den Versuch geht, den menschlichen Körper zu verbessern. Im August 1998 ist mir ein Radio Frequency Identification Chip in meinen linken Arm eingepflanzt worden (das ist gut dokumentiert). Mit dessen Hilfe öffnete der Computer in meinem Haus Türen für mich, machte das Licht an und sagte mir Hallo, wenn ich nach Hause kam. Ich bin sicherlich ein Pionier dieser Technologie gewesen".
Würdest du dich als Vater der Biohacking-Bewegung bezeichnen?
Wir sprechen hier über Biohacking im Sinn von Biotechnologie Kombinationen und Implantaten. Alles, was ich versucht hatte, ist die Ausführung von einigen Experimenten, um sowohl nach Verbesserung des Körpers als auch nach Technologie zu suchen. Das war für mich eine extrem aufregende Zeit, wie das eben ist, wenn man der erste ist, der etwas probiert und sich nicht sicher sein kann, was dabei herauskommt. Was den Begriff Vaterfigur angeht, angesichts der Experimente, die heute stattfinden und die hochspannend sind: ich fühle mich sehr geehrt, wenn ich diese Frage gestellt bekomme.
Einige verstehen Biohacking als Einsatz technischer Mittel, um den Körper zu verbessern, andere nehmen chemische Substanzen für den gleichen Zweck. Manche kombinieren beides. Was hältst du davon? Hast du auch mit psychedelischen Mitteln experimentiert?
Ich bin eher in dem Mensch-Maschine-Lager. Trotzdem war eine meiner Inspirationen sicherlich Robert Louis Stevensons Geschichte von Jekyll und Hyde, die definitv zum anderen Lager gehört. Aber ich habe selbst nichts ausprobiert – vielleicht gerade wegen der Dinge, die in Jekyll und Hyde passieren.
(In Stevensons Geschichte verwandelt sich der Chemiker Jekyll durch ein selbstgebrautes Serum in den bösartigen und egomanischen Mister Hyde; Jekyll, der sich am Ende nicht mehr zurückverwandeln kann, weil das Serum seine Wirkung verliert, beendet sein oder vielmehr Hydes Leben. Stevenson schrieb die Erzählung nach Überlieferungen von Familienmitgliedern innerhalb weniger Tage unter dem Einfluss von Drogen. Die Quellen schwanken zwischen Kokain und Ergotamin, der Vorstufe von LSD.)
Am 30. April 2018 feiern wir den 25. Jahrestag des World Wide Web, also der Anwendung, die das Internet erst groß gemacht hat. Was glaubst du – ist Biohacking eine Technik, die auf einen kleinen Kreis beschränkt bleiben wird – oder wird es in einigen Jahren eine weltweite Auswirkung haben, ob als Mittel gegen Alzheimer, zur Lebensverlängerung oder einfach als Methode, Alltagsdinge schneller und besser zu erledigen?
Ganz klar, das wird sich weltweit verbreiten, in dem Maß, wie es die Gesellschaft annimmt. Leute sind sehr glücklich mit Implantaten für therapeutische Zwecke. Das, womit wir es hier zu tun haben, sind Implantate zur Verbesserung und Steigerung von Körperfunktionen. Es hängt an einer Anwendung, die die Leute einfach haben müssen. Ich glaube, das wird die direkte Kommunikation von Gehirn zu Gehirn sein. Aber ich kann auch falsch liegen.
Jenseits der Technik beschäftigt sich die wichtigste Frage in der Biohackingdiskussion mit den Folgen für die Gesellschaft. Was passiert, wenn der neue Mensch demnächst doch erscheint, nicht durch ein Sozialexperiment, sondern durch individuelle Verbesserungen? Welche Folgen ergeben sich, falls irgendwann ein Teil der Bevölkerung mit weniger Schlaf auskommt, konzentrierter arbeiten kann, unbelästigt von größeren Krankheiten lebt und – das ist ja deine Idee – direkt aus dem Gehirn Verbindung mit Maschinen und anderen Menschen aufnehmen kann? Entsteht dann die Spezies Übermensch, englisch Superman? Was sagen die anderen dazu, die nicht dazugehören?
Es stimmt, dass es eine Debatte um die Ethik gibt. Aber ich glaube, am Ende wird es für viele Leute einfach vorangehen wegen der Vorteile, die sie dadurch bekommen. Trotzdem ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sich die Gesellschaft spaltet, denn wir haben es hier mit erheblichen intellektuellen Unterschieden zu tun. Das kann zu ernsthaften Problemen führen. Aber darüber würde ich mir nur Sorgen machen, wenn ich zu denen gehören würde, die kein Upgrade für sich wollen.
Auszug aus dem Buch Kristall. Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts von Alexander Wendt.