Wert der Freiheit

Was ist der Wert der Freiheit? In langen Friedenszeiten erlahmt unser Reflex, sich diese Frage immer wieder erneut zu stellen. Das Laisser-faire und die Gedankenlosigkeit einer gewohnheitsbetäubten Gesellschaft halten dann Einzug in den anlasslosen Alltag voller „Sicherheiten“, die eigentlich gar keine sind. Wir erleben gerade die Auflösungen von Sicherheiten, die sich in der Freiheit begründen. Nahtlos löst dabei Putins Krieg den Krieg gegen das Virus ab.

Die Derbheit der Wirklichkeit kommt irgendwann krachend zurück. Den Deutschen, den Europäern und dem Westen wird der Wert der Freiheit gerade in der Ukraine vorgerechnet – schmerzlich am meisten für das Volk der Ukrainer, an denen stellvertretend für uns alle ein Exempel statuiert wird. Es belegt, mit welch hohen Kosten die Freiheit geschützt und zurückgeholt werden muss, wenn sie einer jahrelangen Inflation und Verwahrlosung ausgesetzt war. Dem deutschen Finanzminister ist das jetzt plötzlich 100 Milliarden Euro wert. Vor zehn Tagen noch undenkbar. 

Nichts ist von Dauer. Es gibt keine Garantien für unseren Anspruch auf Freiheit, der sich allein mit routinierter Banquette-Diplomatie auf der großen Geschichtsbühne würde halten lassen. Rückblickend scheint es, dass mit dem Überfall Putins auf sein Nachbarland die lange Friedensperiode seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes beendet worden ist. Dieser lange Frieden speiste sich vornehmlich aus den Konstrukten idealistischer, westlicher Bewegungen, welche richtigerweise zwar Säbelrasseln und Kriegsrhetorik für tot erklärt hatten, aber Wehrhaftigkeit und Entschlossenheit ebenfalls mit zu Grabe trugen. Gleichzeitig nutzte der Westen die Gunst der Stunde, um die Schwächung des Ostens dort zu begünstigen, wo er sich den westlichen Bündnissen nicht anschließen konnte oder wollte.

Die abrupte Kehrtwende des Kanzlers

Jegliche Vorsicht im Vorbereitet-Sein, die Präventionspolitik, war damit kategorisch verdammt und einer romantisierten Weltsicht gewichen, die vor allem den Deutschen mit ihrer „historischen Verantwortung“ entgegenkam. Im Kanzleramt war man sogar noch im Angesicht des Putin'schen Aufmarsches an den Grenzen der Ukraine deutlich idealistisch und realitätsfremd unterwegs: Es dürfe kein Blutvergießen durch deutsche Waffen geben – als wäre allein schon dieses Diktum ein humanitärer Akt der Abschreckung in alle Richtungen. Das war der Grund, warum die deutsche Regierung noch am Tag des Einmarschs den Ukrainern jegliche Waffenlieferungen verweigerte. Man kann es nur als peinliche Symbolpolitik brandmarken, die nun überall auf der Welt mit der deutschen Lieferung von Helmen in Verbindung gebracht werden wird. Der Helm als Markenzeichen der „German Angst“. Freiheit aktiv verteidigen geht anders.

Dass man hier völlig falsch lag, illustriert die abrupte Kehrtwende des Kanzlers und seiner Minister, veranlasst auch durch die längst erfolgten Reaktionen der Bündnispartner. Im Geiste hat man Scholz schon rufen hören: „Leute seid nicht feige, lasst mich hinter den Baum.“ Es brauchte mehrere Tage, um auf der Prioritätenliste die Abhängigkeit vom russischen Gas und andere Schönwetter-Konstrukte nach unten zu setzen, um endlich Partei für die Freiheit der Ukrainer zu ergreifen.

Die tief im westlichen Denken verankerte Hoffnung, dass gegenseitige wirtschaftliche Teilhabe genügend Bindekräfte entwickeln würde, um allerorten Frieden und Freiheit zu garantieren, war schon immer naiv. Wie schnell dieses Kartenhaus zusammenfällt, sieht man an der Entwicklung der letzten Woche. „Wandel durch Handel“ hat sich schnell erledigt, die Sanktionen gegen Russland und der Ausschluss russischer Banken aus der SWIFT-Gemeinschaft katapultieren jetzt nicht nur den Aggressor Putin, sondern das ganze russische Volk in die Ausnüchterungszelle eines neuen Kalten Krieges, als hätte es nie einen Wandel gegeben. Nun werden alle russischen Bürger in Sippenhaft genommen und sind damit für antiwestliche Propaganda empfänglicher als zuvor.

Der sich hierzulande ausbreitende Bekenntniszwang

Umso charakterloser und vorhersehbarer ist der sich hierzulande ausbreitende Bekenntniszwang, den man glatt als Auswuchs von Gegenpropaganda bezeichnen könnte. Die gleichen Leute, die noch vor wenigen Tagen Waffenlieferungen und konsequenteste Sanktionen, wie die bankentechnische Isolierung Russlands, ablehnten und nicht müde wurden, Bedenken zu hegen, um nicht selbst in den Sog einer für sie schädlichen Parteinahme hineingezogen zu werden, fordern von Promis wie der Opernsängerin Anna Netrebko oder dem Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Waleri Gergijew, nun Distanzierungserklärungen. 

Deutschen Politikern, Bürgermeistern und Intendanten fällt es immer leicht, den schmierigen Gratis-Mut ihrer eigenen moralischen Grundsätze zum Maßstab zu machen. Für die Erpressten ist dieser Mut aber nicht gratis zu haben, sondern im Gegenteil teuer erkauft. Sie befinden sich in der Zwickmühle aus Exponiertheit und russischer Herkunft. Sie der Cancel-Culture-Meute zum Fraß vorzuwerfen, ist einfach nur schäbig. Nein, wir brauchen keine erpressten Bekenntnisse von Menschen, die – vor allem wenn sie nur schweigen – sich ihrer Nationalität schämen sollen, während unsere Berufsopportunisten wieder einmal auf dem hohen deutschen Ross sitzen, das eigentlich ein lächerlicher Esel ist.

Für Deutschland ist es hingegen beschämend, dass die Erkenntnis, Freiheit habe auch generell etwas mit dem Überleben des freien Individuums und dessen freien Entscheidungen zu tun, so spät und zögerlich von der deutschen Politik auf das Existenzrecht der Ukrainer übertragen worden ist. Ja, diesen Reflex einer aufgeklärt liberalen Gesellschaft hat die deutsche Politik in den Corona-Jahren austherapiert, weggeimpft und rausgemobbt. Nun hat Deutschland deutliche Defizite bei den Themen „individuelle Entscheidung“, „persönliche Freiheit“, „Zweifel an der Kompetenz der Regierung“.

Unsere Großeltern hatten davon erzählt

Es brauchte erst den ethischen Super-GAU einer militärischen Aggression mit zivilen Toten und Verwüstungen, um darin die Primitivität atavistischer Reaktionsmuster zu erkennen, die es dringend zu bekämpfen gilt – zur Not auch mit eigenem Atavismus. Doch davor schreckt jeder normale Mensch anfangs zurück. Erst der Adrenalinschub der weltweiten Empörung, die unausweichliche Aufforderung an die Politik, Position zu beziehen, und die Einsicht, dass Ausweichmanöver aus wirtschaftlichen Erwägungen einfach feige sind, haben dem Westen klar gemacht, wessen Werte in der Ukraine auf dem Spiel stehen, nämlich auch unsere eigenen.

Die menschlichen Tragödien, die die Ukrainer jetzt im Kampf gegen eine Übermacht der Kriegsmaschinerie erleben müssen, aber auch die jungen russischen Soldaten, die Putin ahnungslos zum „Brudervolk“ geschickt hat, um dort die Hölle loszutreten und in ihr vielleicht auch selbst zum Opfer zu werden, erinnern uns an alte Zeiten, deren Schreckensbilder eigentlich verblasst waren und nun jäh vor Farbe aufglühen. Unsere Großeltern hatten davon erzählt und unsere Jugend war geprägt von der dumpfen Ahnung, die Bilder von Verlust, Verheerung und Vergewaltigung ganzer Nationen und Ethnien könnten in der Zukunft wiederkehren. Diese Angst ist begründet, denn seit letzter Woche ist der Spruch des Philosophen Thomas Hobbes wieder auferstanden: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

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Foto: Matthias Laurenz Gräff

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Markus Viktor / 05.03.2022

Die universellen Menschenrechte wurden im Westen proklamiert, erfreulich, dass dies in der real existierenden Menschheit überhaupt gelungen ist. Auch wenn die Nomenklatura des Westens davon tendenziell immer weniger hält und sie verrät, sind diese Werte gegenseitigen Respekts unter dazu willigen Menschen auch jetzt und künftig zu beanspruchen, gegen jeden Superreichen und jeden Machtmenschen (m/w/d) und alle anderen ihrer Verächter. Weil die Nomenklaturen des Westens diese Werte verhöhnen, deshalb anderen Nomenklaturen zu gestatten, sie ebenso oder erst recht oder noch viel mehr zu verhöhnen, ist ein zu nichts führender Irrweg.

Markus Viktor / 05.03.2022

Interessant, wie viele die Ukrainer für die Barbarei der Putinrussen mitverantwortlich machen. Analog zu der abstrusen Vorstellung, dass der Vertrag von Versailles an der Barbarei der Nazideutschen schuld war, dass die Deutschen gar nicht anders konnten, als irrational bösartig exzessiv zu reagieren. Wie ja auch gewisse Familien nicht anders können, als die freiheitsliebende Tochter hinzurichten. Alles eine Frage der Ehre.

Stephan Maillot / 05.03.2022

Ich frage mich auch, welche “Werte” sollen es denn genau sein, die da verteidigt werden? Der Westen verfügt über ein kapitalistisches System, von dem die Menschen ein ziemlich genau zutreffendes Gespür haben, dass es sie unglücklich macht. Freiheit? Ich habe in meinem Leben einige Zeit in Staaten verbracht, die man nach außen als “autoritär” bezeichnen würde, mich dort aber wesentlich freier gefühlt als im Deutschland der letzten zwei Jahre. Rechtsstaat? Man schaue sich die Entscheidungen des BVerfG zum Thema Corona an. Vernunft, Rationalität, Diskurs? Wiederum, siehe Corona, sieh Impf-“Debatte”. Wahlrecht? Was soll das in der Praxis bringen, wenn eine Allparteienkoalition regiert, die praktisch eben doch gar nicht abgewählt werden kann, die die Bürger aus Dummheit immer wieder wählen (und die auch zu härteren Maßnahmen greifen würde, wenn die Bürger auf die Idee kämen, andere Parteien wählen zu wollen). Die Demokratie als Chance zur Auswechslung des Führungspersonals, damit die Besten nach vorne kommen? Ich sage nur Lauterbach, Scholz, Ricarda Lang. Einhegung der Wirtschaft? Man sehe sich an, wie Scholz wie ein streberhafter, schüchterner Schüler sein Referat vor Klaus Schwab abliefert. - Die freiheitlichen Ideen des Westens haben eine Ochlokratie hervorgebracht, die um das goldene Kalb des Geldes tanzt.

Irmgard Grünberg / 05.03.2022

Jeden Tag und jede Stunde wurde in Deutschland nahezu einmütig USA-bashing betrieben - der Gipfel laut Umfragen, Trump werde mehr gefürchtet als Putin. Die Forderung Trumps, mehr für die eigene Sicherheit zu tun, wurde empört zurück gewiesen. Die politische Kehrtwende ist wohl mehr der Angst geschuldet, die Russen könnten vor der eigenen Haustür stehen und es gibt nichts, rein gar nichts, um sich zu verteidigen - nun sind die Amerikaner wieder gut genug.

Juliane Mertz / 05.03.2022

Die Ukraine steht Russland keineswegs in der Verfolgung andersdenkender oder anderssprechender Menschen nach. Morde, Progrome, Rassismus - völlig normal und oft ungesühnt.  Vor paar Wochen wurden z.B. 4 Oppositionssender abgeschaltet.  Diese ganzen großen Worte und die weisen Schlussfolgerungen der Achse-Schreiber bei diesem Thema basieren auf Uninformiertheit. Fangt an zu recherchieren.

Chr. Kühn / 05.03.2022

Gerade eben in der Tagesschau. Die Journalistin berichtet vom Bahnhof im ostpolnischen Przemysl, redet irgendwas von Männern, die dort helfen, weil aus der Ukraine jeder zweite Flüchtling ein Schulkind sei. Und was läuft just in diesem Moment hinter ihr vorbei? Richtig, ein N….icht-Ukrainer, afrikanischen Ursprungs. Und das Leute Schilder hochhalten für Mitfahrgelegenheiten. Und was steht auf dem Schild hinter der Journalistin? In Kyrillisch? Irgendwas mit Nimetscha, also Deutschland. Mann, hab ich einen Hals.

Bernd Schreller / 05.03.2022

Wenn das die Werte sein sollen, auf die wir uns berufen sollen, sind wir sehr bald allesamt tot. Wahrscheinlich werden das viele, schon jetzt unabweisbar, am eigenen Leib erfahren. Für Freiheit wird von Deutschen gern ‘gekämpft’, wenn sie anderswo in Gefahr ist, hier wird das Teufelszeug eher gemieden von den Gutmenschen und Scheindemokraten, wie seit 2 Jahren an der Corona-Plandemie gut zu erkennen ist. Die Schäbigkeit deutscher Politiker, ‘Journalisten’huren, Funktionäre, Gutmenschen usw - geschenkt. Ansonsten: absurd, was Sie schreiben

T. Schneegaß / 05.03.2022

@Christoph Horrix: Erstaunlicherweise scheinen das auch die Werte des Autors zu sein!

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