Rainer Bonhorst / 14.12.2019 / 12:00 / Foto: Bryan Ledgard / 36 / Seite ausdrucken

Wenn der Dudelsack zweimal pfeift

Wer das dreijährige, wunderbar absurde Theater um den Brexit verfolgt hat, den kann  in der britischen Politik nichts mehr erschrecken. Darum stelle ich einfach mal die Frage: Wird Boris Johnson auf längere Sicht vielleicht doch noch der Verlierer der Unterhauswahl? 

Zugegeben, die Frage scheint in das Kuriositätenkabinett der jüngsten britischen Geschichte zu gehören. Und damit müsste es doch jetzt vorbei sein, seit Johnson sich eine überwältigende und absolute Mehrheit im Unterhaus gesichert hat. Ja, er hätte alles unter Kontrolle, wäre da nicht das kleine keltische Land im Norden, das sich dem neuen Caesar in London nicht unterwerfen will. Jetzt erst recht nicht.

So könnte es passieren, dass es Boris Johnson ähnlich geht wie seinerzeit dem dritten König George, dem während seiner Regierungszeit Amerika abhanden gekommen ist. Das war sicher ein dickerer Brocken als das kleine Schottland mit seinen fünfeinhalb Millionen Einwohnern. Wenn man aber bedenkt, was vom einstigen Weltreich übrig geblieben ist, dann würde der Verlust von Schottland ein kaum geringeres Desaster bedeuten. Übrig bliebe das Vereinigte Königreich von Kleinengland und Nordirland. Und da Nordirland klammheimlich immer näher an die irische Republik heranrückt, gerät sogar das nördliche Stück der irischen Insel ins Schwimmen.

Könnte also Boris Johnson, der für die Konservativen eine Mehrheit holte, wie es sie seit Margaret Thatchers Zeiten nicht mehr gab, der Verlierer seines schottischen Inselstücks werden? Das Spannende an dieser Frage ist, dass die überwiegend ungeschriebene britische Verfassung – wie üblich – keine eindeutige, in Worten festgemeißelte Antwort gibt. 

Nur einer hat überlebt

Beginnen wir der Einfachheit halber mit der aktuellen Lage nach den Wahlen. Nach Boris Johnson ist die Nationalistin Nicola Sturgeon die zweite große Wahlsiegerin. Sie hat mit ihrer SNP die Labourpartei in Schottland praktisch von den Bildfläche verdrängt. Nur ein einsamer Unterhausabgeordneter hat politisch überlebt. Und die schottischen Nationalisten haben daheim auch die Konservativen halbiert. Die Parole „get Brexit done“, die Johnson zum Gesamtsieger gemacht hat, bescherte Nicola Sturgeon den Kontersieg nach dem Motto: No Brexit. Die Schotten haben beim Referendum vor drei Jahren mit zwei Drittel der Stimmen gegen den Brexit gestimmt. Und diese Stimmung hat sich noch verfestigt.

Also ein neues Referendum über die schottische Unabhängigkeit, um in der Europäischen Union zu bleiben, aus der sich viele durch Johnson zwangsvertrieben sehen? Na ja, beim letzten Unabhängigkeitsreferendum haben sich die meisten Schotten für einen Verbleib im Königreich entschieden. Ein Grund für ihr Zögern: Damals hätte ein Abschied vom Königreich die Gefahr eines Abschieds aus der EU heraufbeschworen. London war EU-Mitglied, und Brüssel war nicht sehr geneigt, irgendwelche Unabhängigkeitsbewegungen zu unterstützen. Der Ärger mit Katalonien reichte den Europäern schon. Also ließ man Schottland zappeln.

Jetzt ist die Lage auf den Kopf gestellt. Schottland soll mit England die EU verlassen und kann nur auf einen Verbleib in der Gemeinschaft hoffen, wenn es sich von London verabschiedet. Die Chancen bei einem zweiten Unabhängigkeits-Referendum stünden für die Nationalisten also deutlich höher.

Immer das letzte Wort

Aber dürfen die das einfach machen? Die letzte Volksbefragung in Schottland fand mit Genehmigung Westminsters statt und war mit der Zusage verbunden: Wir werden die Entscheidung der Schotten respektieren. Und diesmal? Boris Johnson hat kein Interesse daran, sich seinen großen Sieg durch eine Schottland-Pleite verderben zu lassen. Er wird eine härtere Linie fahren. 

Und was wäre, wenn die Schotten einfach ohne den Mann in Downing Street beschlössen, über ihre Unabhängigkeit abzustimmen? Hier kommt spätestens die britische Verfassung ins Spiel, mit ihrer ungeschriebenen und widersprüchlichen Tradition. Zu dieser Form der Verfassung gehört stets der Blick auf frühere relevante Entscheidungen. Und die gibt es. Eine Entscheidung aus dem Jahr 1911 bekräftigt, dass das Parlament des Vereinigten Königreichs in allen strittigen (und unstrittigen) Fragen immer das letzte Wort hat. Westminster ist traditionell der oberste Souverän.

Eine andere Bekräftigung hingegen sagt, dass diese letzte Entscheidungsmacht des britischen Parlaments keineswegs zwingend für Schottland gelte. Die besonderen Rechte Schottlands seien schon im 14. Jahrhundert festgehalten worden. Danach sagt die Verfassungstradition also: Was für England gilt, muss nicht für Schottland gelten.

Keine Lockrufe aus Brüssel 

Da könnte sich ein wunderbarer Verfassungsstreit darüber anbahnen, ob Premierminister Johnson mit seiner absoluten Mehrheit im Parlament das Recht hat, den Schotten eine Entscheidung über ihre politische Zukunft zu untersagen oder nicht. Diesen Kampf will Nicola Sturgeon aber nicht führen. Sie hofft, dass der politische Druck der pro-europäischen, nach Unabhängigkeit lechzenden Schotten ausreicht, um die ehrenwerten Damen und Herren in Westminster davon zu überzeugen, dass man Reisende nicht aufhalten soll.

Wollen die Schotten aber wirklich von England weg nach Europa reisen? Das steht in den Sternen. Die Stimmung hat sich zwar kontrapunktisch zu England zugespitzt. Aber niemand kann den Ausgang eines zweiten Schottland-Referendums vorhersagen. Vielleicht will die Mehrheit des kleinen keltischen Landes dem Caesar in London einfach nur zeigen, dass sie auch wer sind, schreckt aber vor dem letzten Schritt zurück. Und die Europäische Union? Sie schweigt dazu. Lockrufe aus Brüssel nach Edinburgh sind nicht zu vernehmen.

Boris Johnsons beste Hoffnung, dass er als Sieger nicht doch noch zum Verlierer wird, ist also die Vernunft oder die Treue oder die Vorsicht der Schotten. Kommt es so, dann müsste Nicola Sturgeon, wie einst Vercingetorix, am Ende doch die Waffen strecken.           

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Gereon Stupp / 14.12.2019

Zu Schottland gehören >90 % der brit. Ölvorkommen in der Nordsee, in Schottland (Scapa Flow) liegt der nördliche Stützpunkt der brit. homefleet und der strat. U-Boot Flotte. Es ginge also um weit mehr als 5,5 Mio Menschen und deren Vollswirtschaft. Die Schotten müßten es auf einen Krieg ankommen lassen, bei dem sie nicht den Hauch einer Chance hätten. Was sie erreichen können, wenn sie es klug anfangen, sind (u. a. finanzielle) Zugeständnisse aus London. Sturgeon miß ihre gestärkte Position klug nutzen. Ein bißchen Bluff und Krawall könmen hilfreich sein. Die EU tut gut daran, sich dort peinlichst herauszuhalten.

Andreas Rühl / 14.12.2019

@ Herrn Holzer: danke für das schöne “allfällig”. Benutze ich auch gerne. Klingt viel besser als “etwaig”. @ Herrn Jäger: so ist es. Die Schotten lieben nicht die EU, sondern die Subventionen. Wie heisst der Titel eine Buches der “letzten Liebe” Goethes: “Keine Liebe war es nicht.” Die doppelte Verneinung passt wunderbar. Die Schotten werden den Teufel tun und sich der EU anschließen. Sie sind wirtschaftlich von England viel abhängiger als von “der EU”. Sie haben auch nicht FÜR die EU gestimmt, sondern GEGEN London. Das ist nun mal nichts Neues. Bei einem Referendum wird es aber darum gehen, FÜR die EU zu sein. Und da werden die Schotten sich sagen - wie seit 300 Jahren - dass ihnen das Hemd näher ist als der Rock. Unabhängigkeit… ja klar! Aber sich in eine Abhängigkeit zur “EU” zu begeben, ist eine ganz andere Sache. Die Fischer und die Tourismusbranche werden begreifen, dass sie mit England genauso gut fahren. Es geht um Geld. Alles hat seinen Preis. Die “EU” wird diesen Preis nicht zahlen, weil ihr Schottland EGAL ist. England schon. Wie seit 300 Jahren.

Rudolf George / 14.12.2019

Die stolzen Schotten bekommen nun in den EU-begeisterten deutschen Medien verstärkt Aufmerksamkeit, wohl als eine Art Plan B, nachdem die monolithische Bad-Boris-Berichterstattung nach dessen fulminantem Wahlsieg etwas schal geworden ist. Die Causa ist aber wie so oft nicht so schwarz-weiß, wie es deutsche Medienmuftis gerne darstellen. Das Auseinandergehen von Staatsgebilden ist ein wesentlich komplizierter Prozeß als ein EU-Austritt, und die zwiespältige Haltung innerhalb der EU - Stichwort Katalonien - tut sein Übriges. Auch wird vollkommen außer Acht gelassen, dass es innerhalb des Vereinigten Königreichs Assymetrien gibt, z.B. England KEIN eigenes Regionalparlament hat. Man kann hier nur den guten britischen Rat geben: abwarten und Tee trinken.

Gerd Heinzelmann / 14.12.2019

Gut, dass die Schotten keine Deutschen sind.

Dr. Ralph Buitoni / 14.12.2019

Vielleicht sollten die Schotten erst mal ihre eigenen Rechnungen begleichen, bevor sie groß herumtröten - die EU-Alternative ist ja für das schottische Establishment nur deshalb interessant, weil sie auch dort Kostgänger sein können. Im übrigen: die britische Demokratie ist kein “Kuriositätenkabinett” sondern eben gelebte Demokratie. Das müssen offensichtlich nicht nur die ÖR-Regierungsmelder lernen, sondern auch endlich Herr Bonhorst auf der “Achse”. Herr Bonhorst scheint trotz seiner hier regelmäßig herausgestellten “Britannienkompetenz” nur sehr wenig über die inneren Verhältnisse von UK, gerade auch über die komplexen inneren Verhältnisse von Schottland zu wissen. Auch hier dominiert ein von deutschen romantischen Vorstellungswelten geprägtes, imaginiertes “Braveheart-Schottland”. Wenn es wirklich hart-auf-hart kommt (Abstimmung über Abspaltung zugunsten einer EU-Mitgliedschaft) würde sich Herr Bonhorst zusammen mit den Kollegen Kleber, Slomka und Co. sehr sehr wundern.

Anton Weigl / 14.12.2019

Wir Bayern werden dann endlich die Berliner Regierung los. Wenn Schottland dann auch Katalonien. Wenn Katalonien dann auch noch andere Regionen.

Steffen Huebner / 14.12.2019

Ankündigen kann man Vieles, es dann mit allen Konsequenzen durchzuziehen, steht auf einem anderen Blatt.  Die Schotten werden sich das überlegen, spätestens dann, wenn Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen, denn mit der Verabschiedung vom Mutterland werden auch die Vergünstigungen und finaziellen Zuwendungen aus London wegfallen. Schottland wäre für die EU ein weitererer - der jetzt schon viel zu vielen - Subventionsempfänger, deshalb auch das Schweigen zu den Plänen von Nicola Sturgeon. Sollte mich wundern, wenn sich Premier Johnson erpressen ließe.

Gerd-Dieter Langes / 14.12.2019

Welcher Unterschied besteht zwischen Schottland/England und Spanien / Katalonien?

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