Demokratie Paradox in Thüringen, mal wieder. Was zählt Volkes Stimme, was soll sie zählen? Vor allem aber: Was darf sie zählen – und was darf sie nicht? Das anstehende Schicksal eines Gesetzesantrags der CDU im dortigen Landtag könnte uns da womöglich Auskunft geben.
Laut einer aktuellen Umfrage des MDR wollen 85 Prozent seiner Hörer und Leser, dass die Kinder an den Schulen im offiziellen Schriftdeutsch unterrichtet werden, dem Duden-Deutsch sozusagen, das so auch vom „Rat der deutschen Sprache“ empfohlen wird. Und sie befürworten auch, dass in Briefen, die sie von Landesbehörden bekommen, sie auch mit ebendieser doch landesüblichen Sprache angesprochen werden. 29.000 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben sich an der Umfrage beteiligt. Fast alle sind sie also dagegen, dass sich im offiziellen Schrift- und Sprachverkehr das „Gendern“ breit macht, mit Sternchen mitten im Wort, mit Unterstrichen, plötzlichen Großbuchstaben und mit Glucks- und Knacklauten beim Reden. Gerade einmal elf Prozent sprechen sich für das Neusprech aus, nur gut einer von zehn.
Es gibt keinen Anlass zu vermuten, dass dieses denkbar klare Meinungsbild allein auf Thüringen bezogen davon abweicht. Doch völlig ungeachtet davon sind in dem Bundesland Lehrer wie Amtspersonen angewiesen, das Neusprech, das – wie man sieht – niemand haben will, im offiziellen Verkehr anzuwenden und sich zu eigen zu machen. Im Thüringer Landtag liegen bei diesem Thema die Mehrheitsverhältnisse derzeit so, dass auch dort womöglich eine Mehrheit (aus CDU, AfD, FDP und vier Fraktionslosen) zustande käme für einen Beschluss, der dieser Missachtung der öffentlichen Meinung ein Ende bereiten und dem Mehrheitswillen zu seinem Recht verhelfen könnte. Die Minderheitsregierung aus Linken, Grünen und SPD allein könnte dies nicht verhindern. Und so hat die CDU kürzlich einen entsprechenden Antrag ins Landesparlament eingebracht. Sein Inhalt: Schul- und Amtssprache soll sich wieder nach dem Duden richten.
Schon trommeln die selbsternannten Wächter der Demokratie in ganz Deutschland die Bataillone im linksgrünen Minderheiten-Spektrum und der ihnen wohlgesonnenen großen Mehrheit in der Medienlandschaft zusammen. Die sollen nun mit allen Mitteln verhindern, dass der CDU-Antrag im Erfurter Landtag zur Abstimmung kommt. Das Argument: Die Demokratie sei in Gefahr, wenn ein Beschluss nur deshalb zustande käme, weil auch die AfD zugestimmt hat. Demokratie in Gefahr offenbar auch dann, wenn fast jeder Bürger im Land den Inhalt des Beschlusses gutheißt. Es darf nicht sein.
Geht es wirklich „ums Prinzip“?
Wir hatten das ja gerade. Die CDU-Fraktion im Landtag brachte erst vor wenigen Wochen einen Antrag auf Absenkung der Grunderwerbsteuer mit den Stimmen von FDP und AfD durch. Das Ansinnen entsprach dem, was die drei Parteien in Programm und Wahlkampf immer versprochen hatten. Dennoch gab es einen Sturm der Entrüstung bei Presse, Funk und Fernsehen gegen die CDU, weil sie die nötige Anzahl der Ja-Stimmen nur mit der als rechtsextrem vom Verfassungsschutz beobachteten Partei zusammen bekam. Dass die Bevölkerung im Land mit großer Mehrheit auch diesen Beschluss bereits guthieß, spielte in den geharnischten Kommentaren keine Rolle (auch bundesweit zeigten Umfragen übrigens deutliche Zustimmung zu der Steuersenkung, ausdrücklich auch zum Prozedere der Thüringer Union). Es geht den Linken ums Prinzip, wie sie geltend machen. Die AfD sind die Schmuddelkinder, mit denen spielt man nicht. Auch wenn das Spiel Demokratie heißt. Ihnen, denen man den Willen zur Vernichtung der Demokratie unterstellt, wird die Teilhabe an derselben untersagt, in der Hoffnung, sie klein zu halten
Aber geht es wirklich „ums Prinzip“? Geht es Grünen, Sozialdemokraten und Linken, die bei solchen Gelegenheiten, immer dann, wenn die CDU mit ihrer Politik Zustimmung von rechts erhält, am lautesten protestieren, wirklich darum, mit der Brandmauer gegen jede solche „Stimmengleichheit“ mit der AfD dieselbe zurückzudrängen? Dass diese Strategie in letzter Zeit Früchte getragen hätte, kann man ja nun wirklich nicht behaupten. Die „Einheitsfront“ gegen Rechts hat eher das Gegenteil bewirkt, gerade im Osten, wo man sich genau dadurch an die ganz besondere Art von Demokratie vor 1989 erinnert fühlte, nun aber die Chance sah und sie wahrnehmen wollte, bei Wahlen gegen eine solche Einheitsfront zu stimmen. In der die CDU, die immer noch als Merkelpartei gesehen wird, locker eingereiht wird. Mangelt es da also bei Rotrotgrün lediglich an der Einsicht in das Offensichtliche, das Scheitern der Methode Ausgrenzung, Brandmauer? Ist es nur Blindheit?
Oder geht es um den verzweifelten Versuch, die grüne Deutungshoheit aufrechtzuerhalten? Die dank ungeheurer medialer Hilfe sowieso immer schon viel stabiler schien, als sie tatsächlich war. Deren Fragilität nun in der Bevölkerung, in der Öffentlichkeit immer deutlicher – und absehbar auch in den Parlamenten – nicht mehr gegeben sein wird? Auch in Fragen Gesellschaftspolitik, in nur scheinbar unwichtigen Bereichen wie der „Genderkrise“, in die man durch Hartnäckigkeit und Blindheit gerade stolpert? Tatsächlich ist die gewollte Sprachverirrung in den Köpfen mancher Zeitgenossen eines der größten Hassobjekte, obwohl zu einem großen Teil von Symbolkraft getragen, oder auch gerade deshalb. Die mangelnde Akzeptanz dafür wird jedenfalls immer deutlicher.
Vom Wahlvolk ganz weit entfernt
Dabei ist gerade dies doch ein so hoch gehaltenes Element der Besserungsanstalt Deutschland, deren Leitungskollegium sich bestätigt sehen will durch wachsende Zustimmung in dieser für alle präsenten Angelegenheit. Jede Zeitung, jeder Sender, jedes Amt, jeder Konzern, die sich einreiht in den Gebrauch von Unterstrichen und Knacklauten, war ein Etappensieg mehr, entweder toleriert oder ausdrücklich unterstützt von der veröffentlichten Meinung. Doch gerade das ist derzeit in Gefahr, wenn ein Landesparlament die Behörden und Schulen anweist, die von ihnen Abhängigen nicht mehr qua Macht zum Gendern zu zwingen. Das schmerzt.
Wenn Rotrotgrün der Meinung ist, dass ein gemeinsamer Beschluss von CDU, FDP, und Fraktionslosen deshalb demokratiegefährdend sei, weil er nur mithilfe der AfD zur Mehrheit kam, so hätten die Parteien der Minderheitsregierung die Chance, sich selbst mit der CDU in der Genderfrage zu einigen, ganz im Sinne der erdrückenden Mehrheit in der Bevölkerung. Doch so weit reicht es dann doch nicht. Selbstherrlich, im vollen Wissen um des Volkes Willen, weist man das weit von sich. Entfernter vom Wahlvolk kann man sich nicht positionieren.
Vollends deplaziert in dem Zusammenhang ist die ständige Behauptung, dass man das Gendern auch in der Amtssprache schon deshalb dulden müsse, „weil Sprache sich ständig weiterentwickele“. Das hört sich basisdemokratisch, ja graswurzelartig an, ist bei Lichte betrachtet aber verlogen. Eine Entwicklung wird eher untergraben durch normative Vorgaben für etwas gewollt Neues, durch Vorschriften für schlechte Noten oder Punktabzug an Schulen und Universitäten, oder indem man die amtliche Sprache durch die Behördenleitungen oder regierungsseitige Vorgaben in die gewünschte, künstliche, unsinnige Richtung treibt. Und übrigens: Auch von unten „entwickelt“ sich da erst mal gar nichts. Sogar bei der Altersgruppe unter 30 unterstützen zwei Drittel der Befragten in der Sache den CDU-Vorstoß gegen das Gendern.
Vor einem knappen Jahr gab es in Erfurt einen etwas flacher eingeflogenen Antrag der CDU-Fraktion mit dem Ziel, dem Thüringer Landtag in seiner öffentlichen Kommunikation das Gendern zu untersagen. Er wurde mit den Stimmen unter anderem der AfD verabschiedet. Der Vorgang im November 2022 schlug geringere Wellen als kürzlich der CDU-Vorstoß zur Steuersenkung und jetzt die neuerliche Initiative in Sachen Gendern. Kein Zweifel: Die seither in die Höhe geschossenen Umfragewerte der Rechten haben die Aufregung im rotgrünen Lager erheblich anwachsen lassen. Die Brandmauer, die bundesweit nahezu vollständig beachtet wird, sollte helfen. Dass sie eher das Gegenteil bewirkte, will man in jenem Spektrum nicht wahrhaben. Aus besagten, eher parteiegoistischen Motiven. So dass sich die Tendenz vorerst fortsetzen dürfte. In Sachsen-Anhalt wurden die Schulen im vergangenen August auf eleganterem Weg auf den Pfad der offiziellen deutschen Sprache gebracht. Durch einen einfachen Erlass der Bildungsministerin Eva Feußner (CDU).
Zu dem jetzt neuerlichen Vorstoß der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag gegen das Gendern hat sich die Bundesspitze der Union noch nicht offiziell geäußert. Wie man aber anhand von Einzelstimmen vermuten darf, sortiert sie sich schon mal in der Front der Gegner, offenbar eingeschüchtert. Tenor: Es gebe relevantere politische Felder, Gendern sei doch unwichtig. Wenn sie sich da mal nicht täuscht in der Macht der Symbolik. Schon jetzt dürfte klar sein, wie es bei den Wählern in Thüringen ankäme, würde der CDU-Landesverband auf Weisung von oben einen Gesetzesantrag zurückziehen, nur weil er womöglich die Zustimmung der AfD erhalten könnte. Dies auch noch bei einem Anliegen, dem die Bevölkerung fast einstimmig folgen würde, und zwar leidenschaftlich. Ob so etwas der CDU bei der Landtagswahl im nächsten Jahr Punkte wohl einbringen würde? Oder doch dann eher wieder einer anderen Partei? Die man ja eigentlich bekämpfen wollte. Man darf gespannt sein.
Zieht die CDU den Antrag zurück, kann sie sich auch bis zur Wahl selbst gleich ganz aus dem Landtag zurückziehen. Die Fraktion wäre unnötig, sinnlos, kastriert, zum bloßen Anhängsel der rotrotgrünen Landesregierung verkommen.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.