Es gibt Massendemonstrationen „gegen rechts". „Wir sind mehr“, stand auf den hochgehaltenen Spruchbändern. Aber repräsentieren sie alle wirklich die Mehrheit der 81 Millionen Deutschen? Was erreichen sie? Ist der stetig wachsende Zuspruch für die AfD jetzt gebrochen?
An die eine Million Menschen waren am Wochenende „gegen rechts“ auf der Straße. Sie selbst und ihre Sympathisanten – sie alle sehen in den Massen die bisher „schweigende Mehrheit“, die „nun endlich aufgestanden sei.“ „Wir sind mehr“, stand auf den hochgehaltenen Spruchbändern. Aber repräsentieren sie alle wirklich die Mehrheit der 81 Millionen Deutschen? War das Wochenende die Wendemarke? Ist zum Beispiel der stetig wachsende Zuspruch für die AfD jetzt gebrochen? Komisch: Hierbei waren sich die jubelnden Kommentatoren aus Presse, Funk und Fernsehen eher unsicher. Auch die Teilnehmer selbst. Darauf komme es gar nicht an, heißt es von diesen meist in den sozialen Medien. Haltung zeigen sei das Gebot der Stunde, „Zeichen setzen“, „kein Fuß breit“ skandieren.
Die ersten „Sonntagsfragen“ seit den Enthüllungen über das Potsdamer „Geheimtreffen“ scheinen – was die Parteienpräferenz angeht – diese Skepsis zu bestätigen. Die Werte für die AfD sind bundesweit ungebrochen (INSA und Emnid, Umfrage 20.1.). Dies erhält um so größeres Gewicht vor dem Hintergrund, dass das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) jetzt, nach seiner offiziellen Gründung als Partei, mit ganz anderer Kraft mitspielt – und nach Einschätzung von Experten doch ein großes Stück vom Kuchen der AfD streitig machen sollte, wegen seiner betont migrationskritischen Haltung. Doch diese Wanderung fand offenbar nennenswert nicht statt. Nicht einmal in Thüringen, wo das BSW in der letzten INSA-Umfrage (veröffentlicht am 20.1.) einen Sprung von vier auf 17 Prozent hinlegen konnte. Von diesen 13 Punkten Zuwachs gingen lediglich vier zu Lasten der AfD, so dass diese auch dort, wo sie mit ihrem rechtesten aller Landesverbände antritt, weiterhin mit 31 Prozent stärkste Partei bleibt, vor der CDU mit 20. Die Linke, Partei des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, kommt mit 15 Prozent nicht mal auf die Hälfte. Das BSW – mithin noch vor den Linken, ihrer politischen Heimat – darf mit Fug und Recht als zweites größeres und potenziell parlamentarisches Kaliber angesehen werden, das sich mit Leidenschaft und Schärfe gegen die Migrationspolitik der Ampelregierung wenden wird. Ergo: Dieses Spektrum hat vor allem zuletzt, gerade in diesen bewegten Tagen, gehörig zugelegt. Dass Wagenknechts Anhänger am Wochenende massenweise bei jener angeblichen „schweigenden Mehrheit“ mitgelaufen sind, wäre nun zu allerletzt anzunehmen. Umso berechtigter sind die Zweifel insgesamt, dass die Massen vom Wochenende in ihrem Impetus eine Mehrheit im Land repräsentrieren.
Das Ganze hat natürlich – zunächst – inhaltliche Ursachen: Die konsequente Verweigerung der Bundespolitik gegenüber einer Entwicklung, die in der ganz großen, tatsächlichen Mehrheit der Bevölkerung als immer katastrophaler empfundenen wird. Laut jüngsten Umfragen zum Jahreswechsel fordern 70 Prozent aller Deutschen eine Verringerung der Zuwanderung in deren heutigen Spielart. Und genauso viele trauen der Bundesregierung nicht zu, diese Herausforderungen lösen zu können oder auch nur zu wollen (beachtlich: sogar die Anhänger der Grünen sprechen zu 59 Prozent der Ampelkoalition hierbei die nötige Kompetenz ab). Tatsache ist denn auch: Im Jahr 2023 kamen um die Hälfte mehr Asylbewerber als 2022 nach Deutschland, angezogen von Europas Hauptmagnet für die zum großen Teil illegalen Migrationsströme.
Die Spaltung wird hermetischer
Für viele ist diese offensichtliche Diskrepanz schwer zu ertragen, sie fühlen sich von der Politik verraten. Es fällt deshalb schwer, den jüngsten Coup der Ampelregierung nicht als volkserzieherische Maßnahme zu interpretieren, wenn sie ausgerechnet in dieser Situation meinte, zu Beginn des Jahres 2024 mit dem deutschen Pass in die Welt hinauswinken und rufen zu müssen: Kümmert euch nicht um die Stimmung hier bei uns, wir, die Regierung, machen es euch ab sofort leichter mit der Einbürgerung, und das mit der Integration ist auch nicht mehr so wichtig, etwa was die Sprachkenntnisse angeht. Oder etwa auch der Respekt vor Frauen, denn strenggläubige Muslime, freut euch: Wer den Handschlag mit Frauen aus Prinzip ablehnt, darf jetzt auch ein guter Deutscher sein. Das haben wir auch geändert für euch.
Wundert es da noch einen, dass – laut einer Umfrage von „Insa“ für die Welt am Sonntag vom 21. Januar – knapp zwei Drittel der Deutschen meint, die Bundesregierung trage durch ihre Politik aktiv zur Spaltung der Gesellschaft bei? Diese Spaltung wird zunehmend hermetischer, da die – bisher noch (!) – größte Oppositionspartei, CDU/CSU, bei diesem Thema zwar heftige Kritik an der Regierung übt, sie aber nach 16 Jahren mit Angela Merkel an der Spitze, der Mutter aller illegalen Flüchtlingsströme ins Land, trotz erster Erfolge damit noch lange nicht das nötige Vertrauen zurückgewonnen hat. Immer mehr Wähler oder auch Teilnehmer bei Meinungsumfragen sehen deshalb keine andere Chance, als durch ihr Bekenntnis zur AfD auf diese schreiende Diskrepanz zwischen Volkswillen und Regierungshandeln aufmerksam zu machen.
Auch die Enthüllungen über die angebliche „Wannseekonferenz“ haben dies offenbar nicht ändern können. Diese, aber auch die Massenmobilisierung zu Demonstrationen gemeinsam mit den Regierungsspitzen, scheinen die Zustimmung eher noch erhöht zu haben. Die „Alternative“ bleibt für jene Menschen bislang noch alternativlos, wie die allerletzten Umfragen vom 20. Januar zeigen. Gerade die Massendemonstrationen jetzt wegen des Geheimtreffens könnten mithin ihrem Ziel, „Rechts“ zurückzudrängen, einen Bärendienst erweisen. Man hätte sich dies nach den Erfahrungen aus der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger denken können. Führend war hierbei im Herbst die Süddeutsche Zeitung gewesen, wie wir uns alle erinnern, und wie es aussieht, ist sie auch dieses Mal wieder dabei, durch ideologische Überspanntheit die Spaltung zu vertiefen. Eine wahre Haltungs-Zeitung.
Überwinden ließe sich diese Spaltung – wie auch sonst – nur durch eine offene, politische Diskussion über die zugrundeliegenden Probleme. Und die liegen nun mal vor allem anderen im Ausbleiben jeglicher Aussicht auf politischer Besserung in der Migrationsfrage. Da aber diese Diskussion – notwendigerweise zwischen den Parteien – angesichts der Stimmung im Land die Notwendigkeit zu restriktiven Maßnahmen zügig offenbaren würde, wird diese Diskussion schon wieder als unanständig hingestellt. Nicht in diesen Tagen, nicht jetzt, heißt es, da es schließlich einzig und allein gegen Rechts gehen darf. Natürlich darf diese Frage schon gar nicht bei den großen Demonstrationen irgendwie auch nur annähernd zur Sprache kommen. Es ist schon grotesk. Die Million Menschen, die jetzt gegen den wachsenden Zuspruch zur AfD auf die Straße gehen, haben offenbar ein unausgesprochenes Agreement, dass die nur allzu sichtbaren Ursachen dafür auf gar keinen Fall zur Sprache kommen dürfen. Niemand musste sich hierbei absprechen. Allen ist klar, dass der Elefant im Raum steht, doch keiner darf ihn benennen. Er würde umgehend aus dem Demonstrationszug ausgesondert werden.
Keine Fragen stellen!
Auch die große Politik sollte sich nach dem Willen maßgeblicher Medien dieser Debatte aus Anstand enthalten. Die Begründung: Gerade sei schließlich die Wannseekonferenz, bei der 1942 der millionenfache Mord an den Juden beschlossen wurde, ein zweites Mal abgehalten worden, hören und lesen wir allenthalben. Als ernstgemeinter Vergleich, man stelle sich vor. Gemeint ist: Es würde heute schließlich auch keiner irgendwelche inhaltliche Begründung für den Holocaust suchen, also gehört sich so etwas heute auch nicht. Keine Fragen stellen! Gegen rechts kämpfen!, lautet die Devise.
Am 19. Januar, zur Eröffnung des Wochenendes der Großdemonstrationen forderte (wieder mal) die Süddeutsche, und zwar im Nachrichtenartikel wie im Kommentar, dass alle nur noch das eine zu betonen haben: das „Gemeinsame“. Sie kritisiert den parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag allen Ernstes dafür, dass der im Parlament gesagt habe, die derzeitige Migrationspolitik der Bundesregierung mache die Rechten stark. Das geht in den Augen von Haltungsjournalisten natürlich nicht. Als vorbildlich stellt das Blatt die Debatte im Berliner Landesparlament dagegen, wo die CDU des Merkel-Freundes und Regierungschefs Kai Wegner auf diese Diskussion wie selbstverständlich verzichtete und alle Fraktionen brav das Plenum verlassen hatten, als die AfD-Fraktionsvorsitzende ans Rednerpult ging. Zeichen setzen!
Man hält es in dieser Stunde, da nichts wichtiger, zielführender wäre als die politische Debatte auch im Parlament, dann lieber mit Kaiser Wilhelm, der in einer noch etwas heikleren Situation, 1914 zu Kriegsbeginn, jede politische Diskussion ersticken wollte mit den Worten: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Heute geht der Kampf nicht mehr gegen den „Russ“, den „Tommy“ oder den „Franzmann“, sondern gegen rechts, aber auch da, so insinuierten die Sonntagsreden, wäre jetzt jede Ursachenanalyse, jede Debatte über eine angemessene Asylpolitik ein Dolchstoß ins Herz „unserer“ Demokratie. Eine solche Haltung, das Beschwören der Einheit aus Angst vor offenen, ehrlichen Debatten, kennen wir Deutschen gleich aus mehreren Epochen. Die Nationale Einheitsfront marschiert wieder. Die allerdings wird vor allem bei den Menschen in den östlichen Bundesländern, wo demnächst Wahlen stattfinden und die AfD besonders stark ist, besonders gut ankommen. Dort hat man so eine Einheitsfront zwischen allen Parteien, Demonstranten, Leitungen von Unternehmen und Gewerkschaften, Sportvereinen und gesellschaftlichen Einrichtungen vierzig Jahre genießen dürfen und hatte sich schon lange zu ihnen zurückgesehnt.
Und da sind wir bei der anderen Ebene der derzeit so desolaten politischen Lage angelangt: der fatale Hang zur Einheitsfront. Es ist geradezu grotesk, dass Vertreter der Ampelregierung jetzt, bei ihrer am Boden liegenden Performance, bei einstelligen Zustimmungsraten, meinen, sie könnten bei den Massen einen Blumentopf gewinnen, wenn sie sich an die Spitze der Bewegung stellen und in der ersten Reihe mitdemonstrieren oder sich öffentlichkeitswirksam mit Ansprachen dazuschalten. Unterstützt von einem Bundespräsidenten, der von der Masse nur noch als braver Grüßaugust wahrgenommen wird. Dass sich der Präsident des Verfassungsschutzes einreiht, macht die Sache nicht weniger absurd. Die Exekutive hat schließlich alle Hebel der Politik und ihrer Umsetzung, der politischen Überzeugung in der Hand, um der Bevölkerung den Boden zu bereiten für eine Stimmung, die nicht ins Rechtsradikale abkippt. Ein Kanzler, der hierfür auf die Straße geht, um gegen eine konkurrierende Partei Stimmung zu machen – auf die Idee muss man erst mal kommen (wenigstens hatte er überhaupt mal eine Idee, könnte man in seinem Fall natürlich auch sagen).
Massen und Mehrheit
Deutschland ist kein Sonderfall, was rechte Parteien angeht. Es ist ein europaweites Phänomen. Wie man sie zurückdrängt, zeigen die dänischen Sozialdemokraten mit ihrer erfolgreich restriktiven Migrationspolitik, aber darüber soll man ja heute angesichts der Wannseekonferenz 2.0 nicht reden. Vielleicht lohnt es aber, einen Blick in die USA zu werfen. Was Donald Trump dort 2016 ins Präsidentenamt gehoben hat, war auch weniger die große Politik seiner Vorgänger, als eine ganz besondere Stimmung in sehr großen Teilen der Bevölkerung, vor allem abseits der großen hippen Metropolen, eine Stimmung des Ausgeliefertseins gegenüber einer allzu selbstgewissen städtischen, woken Elite, die allen sagt, wo es langgeht, ohne auch nur im Geringsten ein Ohr zu haben für das, was im Land los ist. Geblendet auch von Millionen, die Obama als begeisterte Massen auch auf die Straße gebracht hat. Aber war es die Mehrheit? Offensichtlich nicht.
Ist eine solche Stimmung, eine tiefsitzende Spaltung in der Gesellschaft erst einmal da, ist es schwer, sie wieder zurückzudrehen. Je länger man es auf die lange Bank schiebt, dagegen anzuarbeiten, ihre Ursachen zu beseitigen, um so länger wird es dauern, wenn es dann überhaupt noch gelingt.
Es hilft nichts. Eine frühzeitige weitsichtige Politik hätte es nicht so weit kommen lassen müssen. Da alle Parteien, in jenem wichtigsten Feld allen voran die Union, sich einer realistischen Politik allzu viele Jahre verweigert und der AfD denjenigen Standpunkt als Alleinstellung überlassen haben, den heute eine tatsächliche Mehrheit von knapp drei Vierteln der Gesamtbevölkerung einnimmt, sieht es so aus, als folge man der rechten Partei. Leider führt vernünftigerweise daran kein Weg vorbei. Vielleicht ist es da ja ein kleiner Trost, dass man ganz nebenbei damit auch dem Willen der übergroßen Mehrheit folgen würde.
Unerfüllter Traum
Die jetzige Bundesregierung, die jetzt ihr Heil in Demonstrationen und Kundgebungen sucht, propagiert die falschen Präferenzen. Es steht keine Machtergreifung von Nazihorden (wie denn?) bevor, beileibe nicht. Berlin ist nicht Weimar, weder was die Parteien noch was die demokratischen Instrumente und Mechanismen angeht. Was bevorsteht, ist der Kollaps unserer Sozialsysteme, der kommunalen Handlungsfähigkeit sowie, ja, auch der inneren Sicherheit, und zwar nicht zuletzt durch eine aus dem Ruder geratene illegale Immigration, der eine enorme, vieldimensionale Eigendynamik innewohnt. Nicht zuletzt, was die Parteienpräferenzen angeht. Wer meint, gerade in dieser Situation die Diskussion über die zugrunde liegenden Probleme beiseite drücken zu müssen, dem ist deren Lösung offensichtlich weniger wichtig als „Haltung“, „Zeichen“, „die richtige Seite“. Der ist gefangen in der Spaltung.
Ein Traum wird wohl unerfüllt bleiben: dass jene tatsächliche Mehrheit, die Mitte, von halbrechts bis halblinks, die weder mit Rechts- noch mit Linksradikalen zu tun haben will, sich möglichst bald millionenfach Gehör verschafft, um die tatsächliche politische Lösung der Probleme einzufordern. Und sich auch traut, sie zu benennen. Eine Bewegung, die der Regierung Dampf macht, nicht allein aus „Haltung“ blindlings mit ihr fraternisiert. So etwas stünde in der Gefahr, in die Zange genommen zu werden. Von Linksradikalen des Faschismus angeklagt und von Rechtsradikalen vereinnahmt zu werden. Schon deshalb wird es wohl ein schöner Traum bleiben. Die schweigende Mehrheit wird weiter schweigen.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.