Gastautor / 02.03.2024 / 12:00 / Foto: W. Sofsky/privat / 19 / Seite ausdrucken

Was ist radikale Aufklärung?

Von Wolfgang Sofsky.

In einer Welt, in der sich die Menschen an Ideologien und vermeintlich richtige Grundsätze klammern, stellt der radikale Aufklärer vernichtende Fragen und prüft jedes Argument auf seine Richtigkeit. Diese Kritik macht vor keiner Theorie halt.

Zur Zeit erwägen manche Zeitgenossen, was es denn mit der Aufklärung noch auf sich habe, angesichts politischer „Umbrüche“, gesellschaftlicher Konflikte, klimatischer, polemischer oder viraler Bedrohungen und menschheitsgeschichtlicher Fatalitäten. Natürlich blicken viele zuerst zurück auf Immanuel Kants klassische Empfehlung, ein jeder solle seine Vernunft selbstständig gebrauchen, ohne sich an Autoritäten, Traditionen, Gewohnheiten, Vorurteile anzulehnen. Doch setzt der Gang aus der selbst- und fremdverschuldeten Unmündigkeit voraus, dass sich der Mensch seiner Feigheit und Faulheit, seiner Bequemlichkeit und Beflissenheit enthebt, das Rückgrat aufrichtet, Augen und Sinne öffnet und sich daran macht, selbst zu denken, ohne aus dem Augenwinkel darauf zu schielen, wie andere das finden, was er denkt und tut.

Wer sich über die Welt und sich selbst aufklärt, hat mit einer Vielzahl innerer und äußerer Widerstände zu rechnen, mit sozialen Reserven und mit der selbstauferlegten Vorsicht, es bloß nicht zu radikal zu treiben und es sich mit den Göttern und irdischen Machthabern nicht gänzlich zu verderben. So kommen dann gebremste, moderate Aufklärer heraus, Bedenken tragende Denker wie M. Mendelssohn, Lessing, Kant, Montesquieu, Voltaire oder Hume, die sich mit der Obrigkeit und ihren ideologischen Propagandisten zuletzt nicht anlegen wollen. Diese angepasste, halbherzige Aufklärung schließt rasch ihren Frieden mit den intellektuellen und sozialen Verhältnissen und verrät so den Impuls, den jede Aufklärung antreibt.

Seit den Studien von Margaret C. Jacob (The Radical Enlightenment 1981), Jonathan Israel (Radical Enligthenment, 2001), Martin Muslow (Moderne aus dem Untergrund, 2002) und einigen anderen sind die frühen, häufig klandestinen Radikalaufklärer in England, Frankreich (darunter P. Bayle, La Mettrie, Diderot, Baron d´Holbach, Tom Paine, Condorcet, etc.), vereinzelt auch in Deutschland wieder an die Öffentlichkeit gelangt. Diese Freidenker, Schriftsteller, Pamphletisten und Reformer hielten meist keine akademischen Lehrstühle besetzt, sondern bewegten sich im Halbdunkel des Untergrunds.

Sie stellten damals Fragen wie die folgenden: Wie viel religiöse Toleranz ist sinnvoll, ohne den Selbstbetrug der Untertanen zu fördern? Warum glauben Menschen an Götter? Wie viel persönliche und sexuelle Freiheit ist erlaubt, wie viel Presse- und Meinungsfreiheit ist geboten? Ist Zensur überhaupt gestattet? Was ist besser: Monarchie oder Republik, Oligarchie, Demokratie oder Anarchie? Bedarf es einer Aristokratie? Sind Kolonialreiche und Sklaverei zu rechtfertigen? Was sollen junge Menschen lernen, sollen Mädchen dieselbe Erziehung erhalten wie Jungen etc.? Im 17. und 18. Jahrhundert diskutierten die Vordenker der radikalen Aufklärung solche Fragen, lange bevor die großen Revolutionen die Gleichberechtigung aller Bürger proklamierten und den Status des Untertanen kurzzeitig infrage stellten.

Nichts ist vor der Kritik sicher

Die moderate Aufklärung mündete nicht selten in neue Ideologien, in humanistischen Anthropozentrismus, in den ungetrübten Glauben an Fortschritte, Wissenszuwächse, moralische Verbesserung, technische Entwicklungen, schließlich in politische Religionen der Menschheitsbeglückung etc. Diese Irrwege sind nicht dadurch zu vermeiden, dass man die Aufklärung verabschiedet, wie es schlechte deutsch-romantische Tradition ist, sondern indem man ihr Prinzip stetig aufrechterhält. Aufklärung, die den Namen verdient, gewährt keine Schutzzone. Sie unterzieht alles einer kritischen Prüfung, auch die Grundlagen der gegenwärtigen Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbilder, die normativen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, darunter nicht nur die vulgärromantischen Ideen von sozialer oder ethnischer Gemeinschaft, von allgemeiner Versöhnung, Solidarität und Gleichheit, sondern auch die Werte von individueller und politischer Freiheit, von Versorgung, Konkurrenz, Wachstum, Globalismus, Demokratie, Weltgesellschaft etc.

Nichts ist vor der Kritik sicher, der Relativismus der Kulturen ebensowenig wie der „Universalismus“ gewisser „Werte“. Die Klärung von Begriffen, die Prüfung von Argumenten und Theorien, von ideologisch-moralischen Versatzstücken, von unbefragten Traditionsbeständen oder neu installierten Vokabularien und Zensurregeln, all dies gehört zum Geschäft der radikalen Aufklärung. Alle Meinungen und Überzeugungen stehen unter dem Verdacht des unbefragten Vorurteils. Nichts ist der Aufklärung heilig, weder die Religion noch das Gesetz, weder der Monotheismus noch der Polytheismus in allen Varianten, weder die Oligarchie, die sich als Demokratie zu tarnen pflegt, weder die Regierung, das Parlament, die Parteien, Bürokratien, Protestbewegungen noch die Appellpolitik zur Rettung der Welt, des Klimas, der Gesellschaft etc. Auf Autoritäten nimmt die Aufklärung keinerlei Rücksicht. Nur was radikaler Kritik standgehalten hat, kann bis auf Weiteres Achtung beanspruchen. Was nur stumpfsinnig in der Öffentlichkeit repetiert wird, ist als Vorurteil besonders verdächtig. Denn je öfter eine These wiederholt wird, desto fragwürdiger ist ihre Geltung.

Radikale Aufklärung ist ein Geschäft für jedermann. Jeder kann von einer Sekunde zur anderen sich seines Verstandes bedienen und reichlich davon Gebrauch machen. Jenseits falscher Sekuritäten verspricht die radikale Kritik, dass am Ende nur übrig bleibt, was – bis auf Weiteres – den Anspruch auf Wahrheit (im Falle von Tatsachenbehauptungen) oder Richtigkeit (im Falle von moralischen Urteilen) erfüllt hat. Jenseits von Vertrauen, Versprechen und Hoffnungen setzt die Aufklärung allein auf die Waffe der Kritik. Sie trennt das, was zu erhalten ist, von dem, was weiterer Gedanken unwürdig und daher alsbald zu vergessen ist. Hierzu rechnet der gesamte Bestand persönlicher, sozialer und politischer Illusionen. Aufklärung ist stets Desillusionierung. Insofern sorgt radikale Aufklärung für frische Luft im Gehirn, für klare Sicht und für souveränen Abstand zu dem Treiben der Gläubigen, Halbgläubigen, Achtelgläubigen, der Unwissenden und Halbwissenden, der Lügner und Betrüger, Vorbeter und Nachsprecher, der Machthaber in Politik, Wirtschaft, Religion und Gesellschaft – und ihrer Millionen von Helfershelfern.

 

Wolfgang Sofsky ist ein deutscher Soziologe, Autor und Essayist. Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Holbach-Instituts.

Foto: W. Sofsky/privat

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Peter Holschke / 02.03.2024

@Bert Brandt -“Die Ideologie, vor der die Aufklärung halt macht, und die die Aufklärung nicht kritisiert, ist die Aufklärung selbst.” Gut erkannt und wenn man die Aufklärung kritisiert, liegt es in der Zwischenzeit vor einem, die Historie selbst kritisieren zu müssen, was nichts anderes heißt, es wurde und wird gelogen, und alles ist von Dogmen, und Tabus besetzt. In der Tat sitzen wir in einer Gesellschaft der Mega-Lüge, Unehrlichkeit, Unredlichkeit und Korruption, sind das Fundament der Neuzeit. Der Mensch hat sich zum Lügentier entwickelt und sitzt nun in seiner eigenen Falle. Alle globalen Problemchen, sind nur belanglose Erscheinungen und Manifestationen eines Meta-Themas. Alle Politik ist nur der Versuch einer impotenten Bewältigung. Eine Lösung ist nicht in Sicht, der Rest wird sich irgendwie ergeben.

Peter Faethe / 02.03.2024

Karl Marx´ Lebensmotto: “De omnibus dubitare.” (An allem ist zu zweifeln.)

Rainer Niersberger / 02.03.2024

Danke. Das Problem mit der conditio humana, zumal auch noch konditioniert, wird dem Autor klar sein. Der postmoderne Mensch “braucht” seine Gewissheiten und dabei hilft ihm wie immer gerne das Regime. Die “Kritiker” der Aufklärung, von beiden Seiten, schaetzen es gar nicht, wenn ihr “Bild” von dieser, gerne mit bestimmten Personen verbunden, korrigiert wird. Damit faellt ja ihre von vorneherein ideologische Kritik in sich zusammen. Die hier zutreffend angesprochenen “Grenzen” kann man politisch nirgendwo besser verorten als bei den mittigen Liberalkonservativen. Ihre Beiträge strotzen vor Tabus und Distanzierungen, nach einer Seite vor allem. Nicht etwa, weil man sachliche Argumente dagegen fände, was durchaus akzeptabel waere. Man verschweigt, raunt und personifiziert, ziemlich antiaufklaererisch. Aber das Hemd ist nun mal naeher als der Rock, womit wir wieder bei der conditio humana waeren. Wir treffen sie pausenlos, mitunter rationalisiert und getarnt.

Thomas Szabó / 02.03.2024

Ich könnte im Sinne der radikalen Aufklärung einige Gedanken radikal zu Ende denken. Ich glaube nicht, dass die Achse des Guten sie veröffentlichen würde. Aber das könnte ich auch nicht erwarten, denn die Mohamed-Karikaturen-Affäre wäre “harmlos” dagegen. Manch einen Gedanken muss man auf seine eigene Kappe nehmen und niemanden mit hinein ziehen. Erwähnte Gedanken sind völlig berechtigt, aber man würde sie aus unverständiger Dummheit & niederträchtiger Absicht fehlinterpretieren und die Fehlinterpretationen der Achse unterstellen. So schweige ich und rette euer Leben.

Bernhard Freiling / 02.03.2024

Ich, als Freidenker, stelle die radikale Fage: warum müssen heute noch die gesetzlichen Krankenkassen für Hormonbehandlungen und/oder geschlechtsangleichende Operationen von Transmenschen aufkommen? Mit Wirkung ab 2022 hat die WHO “Transsexualität” aus “der Liste der Krankheiten” gestrichen. # Ist “die Krankenkasse” jetzt für die Beseitigung jeglicher Befindlichkeitsstörung zuständig? Dann sollte sie in “Versicherung gegen dies und das und noch was” umbenannt werden. # Bitte nicht mißverstehen. Ich habe keinerlei Vor- oder Nachurteile gegen Transsexuelle. Wenn aber auf Betreiben der Bestmenschen Gender-Dysphorie nicht mehr als “Krankheit” angesehen wird, dann frage ich mich schon, warum die “Behandlung” einer Nichtkrankheit der Versichertengemeinschaft auferlegt wird.

Talman Rahmenschneider / 02.03.2024

Deutschland und Europa rücken immer weiter davon ab. Um so mehr muss man sich darum bemühen: Kritik und radikale Aufklärung. Hierbei muss man viel recherchieren, um falsche von richtigen Fakten zu unterscheiden. Das kostet Zeit. Viele Menschen sind zu faul dafür, können nicht mal einen gut recherchierten Artkel von einem flachen unterscheiden. Als Kritiker einmal etablierter Halbwahrheiten, die von einer großen Menge angenommen werden, ist man immer in der Minderheit und wird nur zu gern geschmäht. Danke für das Stück hier.

Peter Holschke / 02.03.2024

Hochtrabende Worte. “... stellt der radikale Aufklärer vernichtende Fragen und prüft jedes Argument auf seine Richtigkeit. Diese Kritik macht vor keiner Theorie halt.” Na dann machen wir das doch mal und unterziehen die Idee der Aufklärung einer Kritik, denn irgendwo scheint ja wohl ein Fehler zu liegen, sonst hätte das Konzept ja nicht vollständig versagt. 1750 mögen gewisse Aussagen ja noch witzig und inspirierend gewesen sein, heute ist das nur abgedroschenes Zeug. Die Grundlagen derartiger Betrachtungsweisen scheint eben nicht zu stimmen, sonst hätte sich längst ein Fortschritt eingestellt. Nun kann man immer Gegenkräfte postulieren und diesen die Schuld zuschieben, dass die Welt immer noch am Arsch ist und die Leute struntzdumm, aber das ist eine lächerliche Ausrede. Tatsächlich fehlen in der modernen Weltsicht wichtige Aspekte, weshalb alle intellektuellen Bemühungen zu Teufel waren. Das alte Lied der Aufklärung zu singen, ist allenfalls sinnvoll, um sich selbst den Spiegel vorzuhalten, demütig zu sein, statt sich der Erhabenheit zu dünken Was der Autor definitiv macht.

Thomas Szabó / 02.03.2024

Die Radikale Aufklärung ist es einen Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu Ende zu denken. Die letzte Konsequenz ist zumeist abstrakt, lebensfern, menschenfern, inhuman, totalitär, radikal, extrem, sinnlos. Das ist aber kein Grund den Gedanken nicht zu Ende zu denken! Das Motto sollte lauten: Bis zur letzten Konsequenz und zurück. Nachdem man alle Nuancen des Gedankens geistig durchexerziert hat, hat man endlich einen Begriff davon. Dann kann man die sinnvolle Variante des Gedankens bestimmen. Ich bemühte mich auf Facebook Jahre lang mithilfe der “geistigen Weltgemeinschaft” Gedanken in die Runde zu werfen und sie mit Menschen aus aller Welt zu Ende zu diskutieren. Aufgrund Zensur unmöglich!

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