Rainer Bonhorst / 09.10.2014 / 23:12 / 5 / Seite ausdrucken

Was Frauen von Männern unterscheidet

Im Zeitalter der fließenden (fluiden) Gendersituation, suche ich nach letzten Fixpunkten. Eine ganz sichere Nummer sind natürlich die strengeren Moslems.

Wenn einer mit coolen Jeans und T-Shirt vorangeht und in drei Schritten Abstand ein schwarzes Ganzkörperzelt folgt, dann ist der Vordermann ein Mann und die Gestalt im schwarzen Zelt eine Frau. So viel ist klar. Aber so klar hat man es heute selten, und das orientalische Genderwesen soll auch nicht mein Thema sein. (Obwohl es ein schönes Thema ist.) Ich versuch’s lieber mit Goethe.

Beziehungsweise mit Goethe im übertragenen Sinn. Mit Literatur also. Darauf gekommen bin ich während einer Literaturveranstaltung im freundlichen bayerisch-schwäbischen Örtchen Diedorf bei Augsburg. Ich erwähne das Dorf, weil ich als notorischer Provinzler gerne daran erinnere, dass die so genannte Provinz durchaus Interessantes hervorbringt.

Also, in dem schwäbischen Dorf diskutierten vier Kenner über aktuelle Romane, ganz im Stil des „literarischen Quartetts“, kaum weniger interessant und viel weniger aufgedonnert. Und plötzlich erwähnte einer der Diskutanten das „F-Wort“. Als Freund der englischen Sprache habe ich erst mal das Schlimmste befürchtet. Aber dann die Erleichterung: Mit dem „F-Wort“ war nur der Verdacht gemeint, der Roman „Aller Liebe Anfang“ von Judith Hermann könnte vielleicht ein „Frauenbuch“ sein.

Ein Frauenbuch? Gibt es das überhaupt? Darf es das geben? In der heutigen Zeit? Der männliche Fragesteller bot schleunigst eine männlich-bescheidene Erläuterung an: „Ein Frauenbuch ist ein Buch, das ich als Mann nicht verstehe.“ Keine schlechte Idee. Aber wenn ich mich als Mann frage, ob ich „Finnegans Wake“ von James Joyce verstanden habe, müsste ich antworten: „Nein.“ Folgt daraus, dass „Finnegans Wake“ ein Frauenbuch ist? Abermals nein. Also muss eine andere Erklärung her.

Was also ist ein Frauenbuch? Hier hilft, wie so oft, die Statistik. Denn wer liest Bücher? Über Bücher allgemein sagt die Statistik: Zwei von drei Lesern sind Leserinnen. Und da wir von Romanen reden, wird die Sache noch schlagseitiger. Männer lesen, wenn überhaupt, dann Zeitung. Und wenn Bücher, dann Sachbücher, Politisches, Historisches, Biographien, Nützliches. Das hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgefunden. Frauen aber lesen Romane. Und das schon seit vielen Generationen. Ohne Frauen könnte die ganze Romanindustrie zumachen. (Beim Zeitungslesen hinken die Frauen allerdings hinter den Männern her.)

Damit ist, erstens, die Frage nach dem Frauenroman beantwortet. Praktisch jeder Roman ist ein Frauenroman, weil Romane sowieso fast nur von Frauen gelesen werden. Und zweitens sagt die Romanstatistik auch Erhellendes zu meinem eigentlichen Thema: Die Art der Lektüre ist ein nahezu untrügliches Merkmal der Gender-Erkennung.  Also, ganz einfach: Wenn jemand in der Bahn eine Zeitung oder ein Sachbuch liest, dann ist das wahrscheinlich ein Mann. Liest aber jemand einen Roman, dann darf man getrost davon ausgehen, dass es sich um eine Frau handelt. Wer hätte gedacht, dass sich in der fluiden Gendergegenwart noch so klare Fixpunkte finden lassen!

Vielleicht fühlt sich nun die kleine radikale Minderheit männlicher Romanleser ein wenig verunsichert. Ihnen möchte ich aufmunternd zurufen: Schauen Sie den Tatsachen ins Auge! Wenn Sie ein Mann sind und trotzdem Romane lesen, dann sollten Sie sich eingestehen, was Sie wirklich sind. Sie sind ein Crossreader! Das klingt hart, ist heutzutage aber nichts Schlimmes mehr. Man muss kein Crossdresser sein, um ein Crossreader zu sein. Einige meiner besten Freunde sind Crossreader. Und ich selbst möchte diese Zeilen für ein Coming out nutzen: Ich habe gerade erst einen heiteren Roman von Alexander McCall Smith angefangen. Und als nächstes warten schon ein Grisham und ein Seethaler. Als Crossreader kann man einfach nicht aus seiner Haut.

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Roland Stolla-Besta / 10.10.2014

Eine interessante Beobachtung! Auch ich lese – ich gestehe es errötend ein – außer biographischer und allgemein bildender Sach-Literatur auch Romane. Ein anderes Phänomen gendermäßiger „Ungerechtigkeit“ scheint meiner Beobachtung nach die Zusammensetzung des Opern-Publikums zu sein. Hier dominieren ebenfalls Frauen (im Schlepptau ihre Ehegemahle, die meist aus Liebe o. ä. mitgehen) und Schwulen. Ohne diese beiden Gruppen könnten die Opernhäuser wohl schließen.

Gerhard Keller / 10.10.2014

In den Familien, egal ob arm oder reich, sind in der Regel die Frauen die Kulturträger. Aber mit Mozart, Goethe oder Marquez kann man der Volkserziehungsministerin natürlich nicht mehr kommen.

Thomas Bonin / 10.10.2014

Herrlich, wie Sie es immer wieder verstehen, mit leisen Tönen und ostentativer Gemütsruhe prekäre Sachverhalte zu sezieren -  übrigens, in schöner Ergänzung zu manchem Ihrer (nicht desto weniger geschätzten) Mitstreiter (äh, Mitmacherinnen), deren Talente vornehmlich per Gebrauch des publizistischen Schneidbrenners resp. Bolzenschussgerätes zur vollen Entfaltung gelangen.  Ob ich mir Ihre Beiträge allerdings weiterhin im öffentlichen Raum (wie heute im U-Bahn-Berufsverkehr) zu Gemüte führe, bleibt abzuwarten: mit Leibeskräften unterdrücktes Lachen kann nämlich ganz schön anstrengend sein. Trotzdem (oder gerade deswegen) herzliche Grüße!

Michael Schlenger / 10.10.2014

Werter Herr Bonhorst, darf ich Ihre Beobachtungen ergänzen und ein klein wenig variieren? In der Bahn - dabei lege ich die Pendlerzüge in die Kulturmetropole Frankfurt zugrunde - liest nach meinem Eindruck im Unterschied zu noch vor zehn Jahren nahezu niemand mehr eine Zeitung. Tut man es selbst, kommt man sich mittlerweile als Exot vor und fühlt sich je nach Erscheinungsbild der Mitreisenden ein wenig unwohl. “So ein Ewiggestriger, bestimmt hält er sich für etwas Besseres, und dann noch der Papierverbrauch!” Es gibt ja auch viel interessantere Nachrichten auf den kleinen Apparaten zu studieren, die manche wie einen Rosenkranz den ganzen Tag in den Händen halten. Das Nachvollziehen der Probleme von Freunden und Prominenten ist wesentlich wichtiger und spannender als das ferne Weltgeschehen oder der Heilige Krieg, den die Politikerkaste hierzulande gegen das Bürgertum führt. “Mir ist das zu kompliziert und abstrakt - außerdem geht es uns doch gut. Für das Reflektieren bezahlen wir die Gesprächsrunden im öffentlichen Rundfunk und für das Problemelösen wählen wir ja die Politiker”. Nein, Zeitunglesen ist “retro” und aus Sicht der zufriedenen Arbeitsbienen fast eine Provokation, weil es der Umgebung die eigene geistige Schläfrigkeit vor Augen führt. Immerhin sind Blätter wie die FAZ in weiten Teilen inzwischen so beliebig und unkritisch, dass man auf dem Bahnsteig dafür angegangen wird, diese rechte Hetzpostille zu lesen (wie vor etlichen Jahren selbst erlebt).    Nun aber zu den Büchern. Da möchte ich anmerken, dass außer der Spezies der Informationstechniker auch keiner mehr Sachbücher zu lesen scheint. Wenn ich männliche Reisende Bücher lesen sehe, handelt es sich um Taschenbücher aus schlechtem Papier, wahlweise Agentengeschichten, Historienkrimis oder in erfundenen Welten spielende Phantasien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun haben und keine Gedanken von Relevanz für das eigene Dasein transportieren. Doch sie erlauben eine billige Flucht aus dem öden Alltag, das gefahrlose Erleben drastischer Ereignisse und die risikolose Identifikation mit großen Helden. Derweil liegt der Fahrradhelm stets in Reichweite - manch einer behält ihn auch gleich auf. Am unvermeidlichen Plastikrucksack baumelt gern auch ein Teddybär. Von den Damen unterscheidet sich dieses Personal nur dadurch, dass sie (noch) keine Liebes- und Landarztromane lesen. Das kann sich aber mit zunehmender Ausbreitung schmaler Schultern und blasser, weicher Gesichtszüge beim “starken” Geschlecht auch noch ändern. Auf sportliche Figur legen nach meinem Eindruck fast nur noch junge Männer aus arabischen Ländern und fanatische Führungskräfte Wert. Lesen tun die aber auch nur schlichte Phantasiegeschichten eines Wüsten-Propheten oder Werke zur praktischen Lebenshilfe “How to become an agile leader” - “Fitsein ohne Reue” usw. Fazit: Es nervt, so erkennbar von so vielen Menschen ohne geistige Interessen umgeben zu sein. Der Rückzug ins Private hilft zwar, dennoch schmerzt der Gedanke, dass sich hier ein Kulturvolk aufgelöst hat.        Michael Schlenger

Martin Lahnstein / 10.10.2014

Davila, der kolumbianische Philosoph, empfiehlt, sich gewissen Diskussionen duch eine gut gespielte Begriffsstutzigkeit zu entziehen. Mit dem Risiko, etwas verblödet dazustehen (Augen halb zu, Mund halb offen). Es ist eine Art von Energiesparen.

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