Rainer Bonhorst / 10.09.2019 / 16:00 / Foto: Pujanak / 14 / Seite ausdrucken

Was die Welt von England lernen kann

In Deutschland sind die letzten Familien aus den Schulferien zurückgekehrt, in England haben fünf Ferienwochen der anderen Art begonnen. Unter Protest der Opposition sind die Abgeordneten des britischen Unterhauses vom Premierminister in eine ungewöhnlich lange Zwangspause geschickt worden. Jemand hinterließ auf dem nun leeren Stuhl des Speakers ein Plakat mit der Aufschrift: "Zum Schweigen gebracht".

So endete im Parlament vorerst ein mehrspuriger Machtkampf, der sich nun über drei Jahre hinzieht, seit 52 Prozent der abstimmenden Briten gegen 48 Prozent im Brexit-Referendum für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stimmten. Die knappe Volksentscheidung wurde Auslöser eines politischen Tauziehens, bei dem es inzwischen nicht mehr nur um den Brexit geht, sondern um die Gültigkeit und das Überleben der britischen Verfassung. Die ist nur teilweise aufgeschrieben und uralt, angefangen mit der Magna Carta von 1215, als der Adel dem König weitgehende Rechte abtrotzte. Sie wurde mehrfach auch schriftlich ergänzt, aber sie lebt bis heute weitgehend von Sitte und Gebrauch, also von Tradition.

Mit der Tradition ist es wie mit dem Handschlag: Der hat nur Vertragskraft, wenn beide Seiten sich in Treue und Glauben daran halten. In der Geschäftswelt sind diese guten alten Zeiten längst vorbei. Heute wird für jede Pippifax-Absprache ein mindestens zehnseitiges Vertragsdokument erstellt. Die Juristerei hat Treue und Glauben abgelöst. Im britischen Parlament aber gilt bis heute teilweise noch das Prinzip Treue und Glauben. Die Verfassung funktioniert, solange sich alle Seiten an die Tradition halten beziehungsweise, solange sich alle Seiten auf schrittweise Anpassungen an neue Herausforderungen einigen.

Die Verfassung: Ein prekäres Gebilde

Es geschieht nicht zum ersten Mal, dass dieses prekäre Gebilde an Grenzen stößt. Der Brexit-Machtkampf aber hat die britische Verfassungstradition stärker ins Wanken gebracht als erwartet. Der Grund: tiefstes Misstrauen. Die Opposition, ob Labour, Liberaldemokraten oder schottische Nationalisten verdächtigen Boris Johnson der Duplizität. Die Männer und Frauen, die links vom Speaker auf den grünen Bänken sitzen, halten den Premierminister für einen Mann, auf dessen Wort kein Verlass ist und beschimpfen ihn, wenn Speaker John Bercow gerade mal nicht hinhört, als Lügner. Sie befürchten, dass er systematisch die Handschlag-Verfassung missachtet.

Hauptverdachtsmoment: die Zwangsferien. Sie anzusetzen, steht dem Premierminister durchaus zu, zum Beispiel zur Vorbereitung der Regierungserklärung, die dann in der Queen's Speach vorgetragen wird. Das ist auch diesmal der offizielle Grund. Doch die extreme Länge der Denkpause nährt bei seinen Gegnern den Verdacht, dass Johnson die Zeit nutzen will, um gegen den Willen des Parlaments einen Brexit ohne Abkommen mit Brüssel durchzuboxen. Sie glauben ihm nicht, dass er – wie er sagt – ernsthaft mit Brüssel verhandelt, sondern befürchten aufgrund mehrerer Indizien, dass er schnurstracks auf einen harten Brexit zusteuert.

Um dies zu verhindern, hat ihm das Parlament mit einem Gesetz die Hände gebunden: Es verbietet ihm vorab, einen solchen harten Brexit zu vereinbaren und trägt ihm auf, den Brexit nochmal um drei Monate hinauszuschieben, für den wahrscheinlichen Fall, dass er kein neues Abkommen zustande bringt. Boris Johnson hat aber bereits angekündigt, dass er sich – wie auch immer – aus der gesetzlichen Handfessel befreien wird und zum 31. Oktober das Königreich aus der EU verabschieden wird. Der Verfassungskonflikt um die Rechte des Parlaments und die der Regierung wird sich in einem solchen Fall weiter zuspitzen und wird letzten Endes gerichtlich entschieden.

Wie soll man den Brexit gestalten?

Der schrittweise Abschied von der Verfassungstradition begann ja schon mit dem in Britannien eher unüblichen Brexit-Referendum. Und seit der knappen Volksentscheidung ringt das Parlament darum, wie der Ausstieg aus der EU zu gestalten ist. Eine Frage, die das Referendum völlig offen ließ.

Erstes Opfer diese Ringens war Theresa May, die mit Brüssel ein Ausstiegs-Abkommen vereinbarte, damit im Parlament mehrmals scheiterte und nach und nach zur tragischen Figur wurde. Das geschah, weil die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Partei ihr die Gefolgschaft verweigerten. Der Brexit geriet zum Machtkampf innerhalb der konservativen Partei. Er spülte den harten Brexit-Mann Johnson an die Spitze. Das wiederum hatte zur Folge, dass zwei Dutzend Torys die verhärteten konservativen Bänke verließen und sich in die Nähe der weicheren Liberaldemokraten begaben. So ist Johnson, kaum im Amt, selber ein König ohne Land geworden.

Jetzt war es an der Reihe der Opposition, die Trickkiste auszupacken und gegen den Trickser Boris Johnson zu verwenden. Johnson, seiner von Beginn an knappen Mehrheit verlustig, drang auf Neuwahlen, um sich wieder eine Mehrheit zu sichern. Die Opposition mit ihrer klaren Mehrheit verweigerte den sofortigen Regierungssturz, weil sie fürchtet, Johnson werde die Zeit bis zu den Neuwahlen nutzen, das Land und das Parlament auf diesem Weg doch noch vor vollendete Tatsachen zu stellen und blitzschnell einen harten Brexit hinzudeichseln, ehe die Wähler und das Parlament zu Wort kämen. So fand der eigentlich überfällige Regierungssturz nicht statt. Boris Johnson bleibt im Amt und erlitt so absurderweise eine weitere Niederlage, während die Opposition ebenso absurd siegreich nicht an die Macht kommen wollte. 

So erlebt die Welt ein traditionsreiches Parlament, ein Vorbild für viele andere Parlamente, das scheinbar die Altersschmerzen einer Demokratie erleidet. Sie erlebt eine Regierung, die nach drei schier endlosen und fruchtlosen Debattenjahren endlich Nägel mit Köpfen machen will, und dabei die demokratische Kontrolle durch ihr Parlament als nur noch lästig empfindet. Die neue Regierung will endlich zu Potte kommen und notfalls die Kontrolleure austricksen. Die wiederum kämpfen mit Zähnen und Klauen gegen die Versuche an, sie auf kaltem Wege zu entmachten. 

Der Überlebenswille eines traditionsreichen Systems

Die ungeschriebene Verfassung scheint diesem Zerren kaum mehr gewachsen. So ist es kein Wunder, dass in dem Debattenmarathon mehrmals der Ruf laut wurde, England möge sich endlich eine von A bis Z geschriebene Verfassung geben. Das allerdings wäre das endgültige Scheitern einer demokratischen Tradition, die England bisher besser gedient hat als manche geschriebene Verfassung, die bei Bedarf und oft auch nach Belieben umgeschrieben werden kann.

Oder erlebt die Welt gar nicht die Altersschmerzen einer unzeitgemäßen Demokratie sondern den kämpferischen Überlebenswillen eines traditionsreichen Systems, also ein geradezu vorbildliches Stück Demokratie? In manchen anderen, zum Einschlafen müden Parlamenten wünschte man sich mehr von der temperamentvollen, oft auch chaotischen Debattenkraft des britischen Unterhauses. 

Im übrigen ist das außerordentlich unterhaltsame, scheinbare Chaos, das in spießigeren Einrichtungen so viel Kopfschütteln bewirkt, keineswegs chaotisch. Was so wild aussieht wie die andere englische Erfindung, der Rugby-Sport, folgt in Wahrheit strengen Regeln. Gentlemen halten sich, im Rugby wie im Parlament an diese Regeln. Die Krise entsteht erst, wenn die Regeln, ob aufgeschrieben, ob ungeschrieben, nicht mehr eingehalten werden. Wenn sich also der Gentleman vergisst. Das gilt nicht nur für England, das gilt weltweit. Und die Welt kann – Brexit hin, Brexit her - einiges davon lernen, wie England in seiner Verfassungskrise mit sich und um seine Demokratie ringt.

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Wilfried Cremer / 10.09.2019

Englische Geduld wird vorgeführt, wie es der Name sagt. Woanders wird schon mal gerempelt in den Parlamenten, in Deutschland eher nicht, da stößt so manche Fahne ab.

Hermann Neuburg / 10.09.2019

Sorry, aber es steht mehr auf dem Spiel, was ein Parlamentarier so treffend formulierte: Die Mehrheit der Parlamentarier ist gegen den Brexit und benutzt, dieser Eindruck drängt sich auf, die Weigerung einem No-Deal-Brexit zu widersprechen, insgesamt den Brexit zu verhindern. Damit erhebt sich das Parlament über den Souverän, denn wie in England ist der einzige Souverän das Volk, so steht es im Grundgesetz in Deutschland. In England ist der Souverän wahrscheinlich die Königin, aber durch die demokratische Tradition ist die Stimme des Volkes, hier durch die Abstimmung konkretisiert, der Souverän in Praxi.  Aber einer ist auf keinen Fall der Souverän: das Parlament, schon gar nicht das House of Commens.  Denn: der Backstop ist für die Integrität des UK und damit für den Souverän des UK nicht hinnehmbar, Prof. Sinn hat dazu alles ausgeführt. Was soll sich bis zum 31.01.20 geändert haben, wenn die EU (und Irland) sich keinen Zentimeter bewegen werden?  Also es geht, auf Seiten der EU, mal wieder darum, ein nicht genehmes Votum zu hintergehen. Im Übrigen verhält sich die EU alles andere als freundschaftlich.  Es geht nicht um Boris Johnson, sondern um No-Deal-Brexit oder no Brexit. Der Ausgang ist offen, es bleibt spannend.

sybille eden / 10.09.2019

Jawoll, Herr Walkenbach, es muss “kurzer Prozess” gemacht werden ! Nach deutscher Art und möglichst Alternativlos !

Karla Kuhn / 10.09.2019

„Zum Schweigen gebracht“.  Brexit hin, Deutschland her,  DAS würde ich mir für die MEISTEN DEUTSCHEN POLITIKER wünschen, vor allem für die, die mit ihrem kompetenzlosen Gefasel nur Unruhe stiften !

Hans-Peter Dollhopf / 10.09.2019

Herr Bonhorst, schon in Ihrem Brexit-Artikel vom 6.9. (“Machtkampf in London”) hier auf Achgut schrieben Sie zunächst, dass den Brexit “eine knappe[sic!] Mehrheit der Briten (52 Prozent gegen 48 Prozent)” beschlossen habe, um gleich darauf bei der von Johnson verlorenen Abstimmung im Unterhaus von “deutlicher Mehrheit” gegen ihn zu fabulieren. Aber wenn man genauer hinschaut, dann waren das 329 zu 300. Und das ist eben auch nur 52 zu 48! Also stelle ich fest, dass Sie bei diesem Thema an einer Wahrnehmungsverzerrung leiden. Man die Geschichte schon so sehen wollen wie Sie. Ich sehe sie anders. In Ihrer Brexit-Geschichte hier ist Theresa May gescheitert, “weil die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Partei ihr die Gefolgschaft verweigerten.” In meiner Geschichte des Brexit dagegen scheiterte sie, weil die hardcore-Remainer ihrer eigenen Partei den Brexit mit allen Mitteln sabotieren. Mays Schatzkanzler Philip Hammond hat da nahtlos den Verrat seines Amtsvorgängers George Osborne fortgesetzt. Als May die Wahlen zu gewinnen drohte, durch die sie eine satte Mehrheit für die Brexitverhandlungen erhalten hätte, kündigte er unter Bruch eines Torry-Versprechens verhasste Steuererhöhungen an. Genau diese Brutalität hat May der Mehrheit beraubt. Dann ließ er Studien anfertigen und veröffentlichen, die im Falle des Brexit die Apokalypse an die Wand malten. Und zum Schluss brachte er ein Gesetz ein, das die Brexit-Kriegskasse für andere Ausgaben plündern sollte. Diese Agenten Brüssels, einer fremden Macht, sind tödlich für die freien Nationen. Für GB wie für Deutschland. Aber Ihre Geschichstschreibung verniedlicht und verdeckt diese Tatsache.

D. Walkenbach / 10.09.2019

Das Einzige, was man davon lernen kann ist, wie man es nicht macht. Ich glaube immer noch, dass die Knallchargen wie Johnson irgendwann ihre Masken abnehmen und die Monty Pythons zum Vorschein kommen ;-) Ernst kann das Schmierentheater ja nicht mehr gemeint sein.

Sepp Kneip / 10.09.2019

Für einen, der auf die letzten Jahre gesehen, in einer Kasperletheater-Demokratie lebt, sind diese Herzblut-Debatten im britischen Parlament etwas völlig Neues. Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als den Willen des Volkes durchzusetzen. Natürlich mag das Votum der Briten für einen Brexit nicht jedem passen. Vor allem nicht der EU. Aber die wurde ja auch nicht gefragt. Daher stehen hinter dieser Anti-Brexit-Kampagne auch der EU nahestehende Kräfte mit viel Geld ohne demokratische Legitimation. GB sollte sich die widerliche Rolle Merkels und der EU im Falle Italien vor Augen führen und froh sein, wenn sie diesen Laden verlassen kann.

Klaus Demota / 10.09.2019

War nicht die Inaugurierung des seltsam ausserirdisch (bzw. -britisch) erscheinenden Supreme Court schon der entscheidende Treffer gegen die erwähnte Verfassungstradition?

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