In Deutschland vertraut man auf die Institutionen, auf deren Sicherheit und Berechenbarkeit. Der Breslauer Lehrer und Historiker Willy Cohn schildert in seinen Tagebüchern, die unter dem Titel „Kein Recht, nirgends“ veröffentlicht wurden, seine Situation als deutscher Jude unter den Nationalsozialisten ab 1933. Obwohl er von Anfang an großen Repressalien ausgesetzt ist – sein Sohn erhält Morddrohungen und muss nach Paris fliehen, ein ebenfalls jüdischer ehemaliger Schüler wird am Rand einer Kundgebung kurz nach der Machtübernahme Hitlers erschossen, Cohn wird aus dem Schuldienst entlassen – vertraut er dennoch weiterhin auf das Bestehen geordneter Verhältnisse in Deutschland.
Von einer Reise nach Palästina 1937 kehrt er mit seiner Familie zurück, da seine Frau sich nicht vorstellen kann, jemals in diesem fremden Land glücklich zu werden. Erst im November 1938 erkennt er, dass die Institutionen, an die er so glaubte, längst untergegangen sind. Für eine Auswanderung ist es da zu spät. Er, seine Frau und seine beiden jüngsten Töchter – acht und drei Jahre alt – werden 1941 deportiert und in Litauen erschossen. Ein anderer Zeitzeuge, Sebastian Haffner, hält in seinen Erinnerungen fest, einer der Umstände, der dafür sorgte, „daß ein großes Volk (…) widerstandslos der Schande (des Nationalsozialismus) verfallen konnte (…) war der feige Verrat aller Partei- und Organisationsführer, denen sich die 56 Prozent Deutsche, die noch am 5. März 1933 gegen die Nazis wählten, anvertraut hatten.“ Institutionen sind immer nur so gut, wie die Menschen, die sie ausmachen und verteidigen.
In den USA ist dieses Denken bereits im Gründungsgedanken verankert. Nicht nur das Grundvertrauen, im Gegensatz zum Grundmisstrauen vieler Amerikaner, gegenüber den staatlichen Institutionen, scheint Deutschland so leicht beherrschbar zu machen. Das Herrschaftsinstrument der impliziten Drohung, wenn man sich mit einer abweichenden Position nach vorne wagt, sofort mit den öffentlich gebrandmarkten Schmuddelkindern in einen Topf geworfen zu werden, hält Vertreter diverser Meinungen in Schach.
In Deutschland ist das Freund-Feind-Schema das wirkungsvollste Mittel zur Delegitimation jeglicher Äußerung von Kritik am Mainstream. Der Fall des Bundeswehrsoldaten Marcel Bohnert, der die falsche Dinge auf Instagram mit einem Herzchen markierte und der, wie Panorama nach Ausstrahlung der Sendung empört-betroffen feststellen musste, auch mit den falschen Leuten redete, ist nur eines von vielen Beispielen dafür.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Wie in Deutschland heute üblich, folgt eine Form des Schuldbekenntnisses, das sonst eher in Russland vor einigen Jahrzehnten üblich war. Man kann es verstehen, wird doch die eigene Existenz gerade medienwirksam pulverisiert, und dennoch scheint dieses „guilt by association“ in den USA weniger wirkungsvoll als bei uns. Der Kommentator Ben Shapiro, der durchaus auch mit nuancierten Kommentaren zur amerikanischen Politik auffällt und der nicht als Trump-Fan bekannt ist, hat kein Problem damit, ein Video von der hemdsärmeligen Vickie Paladino aus Queens zu teilen. Und das, obwohl sich seine Partei, die Republikaner, öffentlich von ihr, wegen angeblich rassistischer und antisemitischer Kommentare auf Facebook, ausdrücklich distanzierte.
Dave Rubin, ein anderer politischer Youtuber, der sich der freien Rede und dem offenen Meinungsaustausch verschrieben hat und damit 1,6 Millionen Abonnenten auf der Videoplattform erreicht, sprach auch mit dem bekannten Verschwörungstheoretiker Alex Jones von InfoWars. Jones schreit viel in seinen Videos. Er ist von Youtube, Facebook und Instagram gesperrt, und seine News App wird seit Kurzem nicht mehr im Google Play Shop angeboten, da sie Falschmeldungen zur Covid-19-Pandemie verbreitet haben soll. Ein echtes Schmuddelkind also. Der stets gut frisierte Dave Rubin sprach trotzdem mit ihm. Und entschuldigte sich nie dafür. Wie viele Liberale sind damals naserümpfend von Pegida weggerückt, anstatt die freie Rede der Demonstranten – ohne die übliche Beteuerung, dass man sie ach so unappetitlich finde – zu verteidigen? Wie viele liberal-konservative Positionen sind verbrannt, weil sie im AfD-Parteiprogramm stehen? Wenn man sich CDU/CSU und FPD so anschaut, wohl alle. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder.
Amerikaner scheinen sich nicht so leicht beherrschen zu lassen. Dennoch glaube ich nicht, dass Amerikaner per se mutiger sind als der Durchschnittsdeutsche, auch wenn sie ein Volk von Pionieren sind. Ihre politischen Institutionen sind anders. Trump könnte bei uns niemals in irgendein Amt gelangen. Niemals. Unser gesamtes Wahlsystem ist aufgrund der verheerenden deutschen Geschichte im langen zwanzigsten Jahrhundert darauf aufgebaut, den Souverän zu kontrollieren. Es misstraut dem Bürger heute, da die Bevölkerung damals 1938 in freien Wahlen Hitler wahrscheinlich eine überwältigende absolute Mehrheit beschert hätte. Politische Phrasen in Deutschland zeugen davon: Wir müssen die Leute abholen, wir müssen es ihnen besser erklären. In den USA würde man Politiker für solche Sätze von der Bühne jagen.
Ja, wir lassen uns beherrschen. Die Aufteilung in Freund und Feind sorgt dafür, dass die Kosten der Äußerung einer vom Mainstream abweichenden Meinung hochgehalten werden. So lange Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diffamierung jene Kosten übersteigen, mit denen ich die Missstände bewerte, die ich tagtäglich sehe, solange bleibe ich leise, solange werde ich beherrscht. So wie in unserer Gesellschaft seit Jahren mit Andersdenken umgegangen wird, verlassen wir die demokratische Basis. Wir schlittern auf einer schiefen Ebene herum.
Sofort galt es, sich zu bekennen
Der Feind „am rechten Rand“ ist so groß aufgebaut, dass jeder, der auch nur in seine Nähe kommt, mit ihm in den Abgrund gerissen wird. Sogar die aalglatte Lindner-FDP. Durch die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten sah sie sich auf einmal unfreiwillig in der Ecke der Geächteten. Sofort galt es, sich zu bekennen oder im braunen Sumpf der Stigmatisierung von Meinungen als Verbrechen unterzugehen. Zeig mir wo du stehst. Sind die politischen Lager erstmal nach Freund und Feind sortiert, ist es ganz egal, wer einen bei der Bekämpfung des Feindes unterstützt.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und so stellte sich die angeblich liberale Partei dann umgehend auf die Seite der SED. Natürlich könnte dieses Pendel auch in die andere Richtung schlagen. Wenn die Kosten der Missstände – z.B. in einer Rezession – plötzlich höher gewichtet werden als die Kosten der Diffamierung, hat man es mit einer Bewegung zu tun, die durch die staatlichen Institutionen schon längst an Lügen, Stigmatisierung und Ausgrenzung gewöhnt ist, der jeder moralische Kompass fehlt. Auch dann wird es egal sein, mit wem man Seite an Seite gegen den neuen Feind kämpft.
Politik ist immer Machtpolitik. Die großen Institutionen des Landes sind dominiert von dem allgegenwärtigen linken Mainstream. Die etablierten Parteien, die Bürokratie, die Medien, die Universitäten, die Kunst, die Wirtschaft – niemand, der es wagt, sich außerhalb des legitimen Meinungskorridors zu bewegen, wird es dort zu irgendetwas bringen. Die einzige Institution, die man als Vertreter einer anderen Meinung hat, ist die freie Rede. Doch solange man damit nicht aus seiner eigenen Blase herauskommt, fungiert man lediglich als Chronist unserer Zeit. Ändern wird man nichts. Dave Rubin kann vor allem deshalb etwas bewegen, weil die Medien über ihn berichten: Fox News, CBS. Ben Shapiro wurde einer breiten Masse bekannt, als er im liberalen Sender CNN mit Piers Morgan über das Waffenrecht diskutierte. Wer hingegen ARD und ZDF konsultiert, könnte den Eindruck bekommen, es gebe in Deutschland eine homogene Meinung zu fast allen politischen Fragestellungen. Silence ist sicherlich nicht violence – wie die BLM-Bewegung skandiert – aber Ignoranz ist Herrschaft.
Ein Ghandi in Deutschland? Nicht in der Tagesschau...
Hätte Gandhi nicht damals gegen das britische Empire, sondern heute gegen Merkel aufbegehrt, die Tagesschau würde entweder gar nicht über ihn berichten oder ihn als rechten Wirrkopf abtun. Die Kritik an der Regierung – eigentlich schlechthin die Aufgabe der vierten Gewalt im Staat – hat mittlerweile etwas Anrüchiges, klingt nach ungewaschenen Haaren, nach gesellschaftlichem Verlierer, nach Impfgegner und Verschwörungstheorie. Und die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zementiert diesen Zustand jeden Tag aufs Neue.
Gandhis gewaltloser Widerstand wäre ohne die positive Begleitung der Medien niemals möglich gewesen. Er nutzte die Presse, vor allem die Auslandspresse, ausdrücklich und bewusst für sein politisches Ziel. Sie war elementar für seine Strategie. Die Reise nach Großbritannien und die Wahrnehmung öffentlicher Termine in seiner traditionellen Kleidung war genauso Teil seiner Medienkampagnen wie öffentlichkeitswirksames Leiden mit Symbolkraft.
Die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King Jr., die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Opposition gegen den Irakkrieg, sie alle setzten auf die Medien, die sie positiv und effektvoll begleiteten. Nur durch wohlwollende Pressestimmen konnten sie eine große Anzahl von Protestteilnehmern gewinnen, und nur durch die Verbreitung dieser Bilder in den Medien animierten sie neue Sympathisanten dazu, mitzumachen, frei nach dem Motto, wenn so viele dabei sind, dann kann es nicht falsch sein. William Gamson, Professor für Soziologie in Massachusetts und Aktivist der amerikanischen Friedensbewegung der 60er und 70er Jahre, fasst zusammen, dass jeder Aspekt einer sozialen Bewegung von der Medienkommunikation abhängig sei. Ohne eine effektive Strategie könne eine solche niemals die für den politischen Erfolg der Unternehmung entscheidende Zustimmung der öffentlichen Meinung gewinnen. Mit der Berichterstattung steht und fällt jeder gewaltfreie Widerstand. Findet sie nicht statt oder ist sie negativ, hat die Bewegung keine Chance.
Die Legitimation zum Freidenken von oben
Und damit sind wir am entscheidenden Punkt angelangt. So lange wir nicht in der Lage sind, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen, ist jede Meinungsäußerung, jede Kritik der gegenwärtigen politischen Zustände ein hilfloser Schrei in der Echokammer. Therapeutisch, aber ansonsten wirkungslos. Die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks käme dem Ausruf des Kindes in Andersens Märchen gleich. Der Kaiser ist nackt. Es wäre das Eingeständnis von oberster Stelle, dass es „die eine Wahrheit“ nicht gibt. Ich befürchte, der Deutsche braucht die Legitimation zum Freidenken von oben, sonst traut er sich nicht.
Nun bin ich kein Jurist, obwohl ich schon mal an einem Unigebäude der Juristen vorbeigelaufen bin. Mit diesem Hintergrund an geballter juristischer Expertise habe ich mir ein paar Urteile von Verwaltungsgerichten durchgelesen, die Klagen von Einzelpersonen abwiesen, die sich, mit dem Hinweis auf tendenziöse Berichterstattung von ARD und ZDF und einer damit einhergehenden Verletzung der im Rundfunkstaatsvertrag festgeschriebenen Aufgaben weigerten, den Rundfunkbeitrag zu zahlen.
Ein Argument, welches bei diesen gescheiterten Klagen im Gerichtsurteil immer wieder zu finden ist, ist die Pressefreiheit. Es bestünde demnach kein Rechtsanspruch auf eine wie auch immer geartete Berichterstattung. Die Gerichte argumentieren dabei nicht, dass die Pressefreiheit jede Kontrolle des Programminhalts verbiete. Zur Qualitätsüberwachung existieren die eigens eingesetzten Kontrollgremien, die Rundfunk- und Verwaltungsräte.
Die Seite des Deutschlandfunks belehrt mich in einem alten Beitrag von 2014, dass die Mitglieder dieser Gremien aus allen gesellschaftlichen Schichten kämen und „bei den Rundfunkanstalten diejenigen (vertreten), für die das Programm gemacht wird, nämlich die Bürger.“ Deshalb werden sie zum Beispiel vom Gewerkschaftsbund oder der evangelischen Kirche entsandt. Genauso wie die Abgeordneten des Bundestages. Die Volksvertreter werden ja auch von Gottes Gnaden – ach nee, da war ja was.
Ein gutes Programm – im Sinne der Herrschenden
Aktuell finanziert der Souverän also ein zentrales Herrschaftsinstrument zwangsweise, ohne diese entscheidende Institution direkt kontrollieren zu können. Kontrolle durch den Markt und den Erfolg oder Misserfolg im Wettbewerb, ist gänzlich ausgeschaltet. Wir bekommen ein planwirtschaftliches Produkt geliefert und das obwohl die Geschichte gezeigt hat, dass kein von einem zentralen Verwaltungsapparat vorgegebenes Produkt in seiner Qualität je besser war als jene Produkte, die sich im Marktmechanismus durchsetzen.
Dennoch basiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter anderem auf dem Argument des Marktversagens. Ein ausgewogenes Programm im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags könne nur durch öffentlich-rechtliche Sender geliefert werden. Der Bürger scheint nicht in der Lage, ein gutes Programm – zumindest im Sinne der Herrschenden – freiwillig nachzufragen. Folgen wir einmal diesem paternalistischen Argument, das wieder das tiefe Misstrauen gegenüber der Bevölkerung, verankert in der deutschen Geschichte, widerspiegelt, dann möchte ich diese Journalisten, die diese erheblichen Machtpositionen besetzen, wenigstens wählen. Mehr Demokratie wagen! Alle Rundfunkräte, mit ihren Funktionären und Sitzungen, könnte man sich sparen, ließe man den Souverän selbst abstimmen. Niemand braucht ihn zu vertreten, er kann ganz einfach und direkt selbst entscheiden. Bei der Bundestagswahl wird ihm das ja auch noch zugetraut. Stattdessen hat sich eine Institution, die entscheidend für den demokratischen Prozess ist, gegen Demokratie imprägniert.
Doch diese Reformträume sind müßig. Ein politisches System wird sich nie aus sich selbst heraus reformieren. Die aktuell Herrschenden wären ja schön blöd. Und daher, liebe Juristen da draußen, ist das bisschen Beitrag verweigern, Bargeldzahlung fordern und Übersicht über die gespeicherten Personendaten verlangen, wirklich alles, was ihr als Munition gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk habt? In einer Zeit, in der die Regierung und die staatlichen Institutionen scheinbar sowieso keiner Budgetbeschränkung unterliegen, ist das vielleicht ein nettes Ventil, um seinem Ärger Luft zu machen, ansonsten aber zwecklos.
So wie ich das sehe, haben wir zwei Alternativen: Entweder, wir stürzen den Meinungshegemon und erzwingen somit die öffentliche Anerkennung, dass niemand die Wahrheit kennt. Nur das würde die Grundvoraussetzung der Demokratie, den Respekt vor der freien Meinung eines jeden und damit vor ihm als Mensch, wieder etablieren. Oder wir machen weiter wie bisher, schreiben ein bisschen, ärgern uns ein bisschen, wählen ein bisschen, sehen zu, wie die zum Feind erklärte Meinung weiter zurückgedrängt wird und warten darauf, dass ein externer Schock die Karten neu mischt und die Ebene vielleicht in die andere Richtung kippen lässt. Das wäre dann dasselbe in Grün. Ansonsten sind wir nur Chronisten unserer Zeit.