Wolfram Weimer / 23.04.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay / 51 / Seite ausdrucken

Wann stürzt Nahles?

Seit der Wiedervereinigung wechselt die SPD im Durchschnitt alle zwei Jahre ihre Vorsitzenden aus. Andrea Nahles hätte demnach die Hälfte ihrer Amtszeit schon hinter sich. Vor genau einem Jahr wurde sie mit 66 Prozent (es war das zweitschlechteste Ergebnis der SPD-Geschichte) zur ersten Frau an der SPD-Spitze gewählt. Die SPD lag in den Umfragen damals bei schlechten, ja historisch miserablen 20, 21 Prozent. Nahles sollte das Siechtum beenden wie eine zupackende Notärztin – heute wirkt sie eher wie eine Sterbebegleitung.

Die SPD ist in den Umfragen weiter abgesackt, und der Niedergang nimmt existentielle Züge an. Nur noch 16 bis 17 Prozent der Deutschen würden heute SPD wählen. Unter Nahles haben die Genossen also noch einmal 20 Prozent der verbliebenen Stammwähler verloren. Die SPD kommt in den Kraftzentren der Republik (Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen) nur noch auf einstellige Werte. Für die Europawahl bahnt sich ein Desaster an. Erstmals dürften die Grünen bei der bundesweiten Wahl vor der SPD landen; und sogar die AfD könnte der SPD bedrohlich nahe kommen. Obendrein droht Ende Mai der Stadtstaat Bremen verloren zu gehen – die letzte Hochburg (seit 1946 von Sozialdemokraten regiert) würde zu allem Ungemach auch noch fallen. 

Andrea Nahles hat den historischen Niedergang gewiss nicht alleine zu verantworten, sie stemmt sich tapfer gegen das Ausbluten ihrer Partei (“Ich habe Steherqualitäten”). Auf der Habenseite ihres Jahres steht, dass sie die Große Koalition und damit die Regierungsstabilität professionell verteidigt, ja gewährleistet hat. Sie hat die SPD-Minister zu einer emsigen Sacharbeit getrieben, eine verlässliche Beziehung zur CDU gefunden und kann sich auch zugute halten, dass die innerparteilichen Grabenkämpfe leiser geworden sind. Sie hat zudem das Profil der SPD mit sozialpolitischen Vorstößen zu schärfen versucht.

Und doch ist die Logik der Politiker wie die der Fußballtrainer: Wenn der Verein dauerhaft verliert oder absteigt, muss der Trainer gehen. Ein Wahlergebnis von deutlich weniger als 20 Prozent dürfte den Stolz der Genossen tief erschüttern und einem gefühlten Abstieg in die zweite Liga der Politik gleich kommen. Erschwerend kommt hinzu, dass Nahles katastrophale persönliche Umfragewerte hat. Gegenüber Annegret Kramp-Karrenbauer liegt sie seit Monaten hoffnungslos zurück. Nach einer neuen Umfrage trauen ihr nur noch 9 Prozent der Deutschen das Kanzleramt überhaupt zu. Der Grünen-Politiker Robert Habeck kommt immerhin auf respektable 20 Prozent. Die Grünen werden nach der Europawahl daher mit der Frage konfrontiert, ob sie anstatt der SPD künftig einen Kanzlerkandidaten aufstellen sollten. Die Demütigung für die SPD wäre perfekt.

Das Rollback als Trauma-Bewältigung

Was hat Nahles falsch gemacht? Neben den stilistischen Fehltritten der Pippi-Langstrumpf-in-die-Fresse-Rhetorik (ihr jüngster Karaoke-Auftritt in Suhl mit dem “Humba humba humba tätäräää Mindestlohniii” ist ein viraler Hit des Fremdschämens) wirkt die SPD-Kehrtwende nach links und zurück hinter die Agenda-Reformen als ihr großer strategischer Fehler. Nahles hat – schon in der vorherigen Legislatur – tief hinein geschnitten ins Agenda-Fleisch der SPD. Eine Schröder-Reform nach der anderen lässt sie – auch weil sie es Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel zeigen will – zurück drehen und verkündet stolz: “Wir können mit Fug und Recht behaupten: Wir lassen Hartz IV hinter uns.”

Das Rollback betreibt sie als Trauma-Bewältigung für die Partei, doch für das Land bleibt es ein rückwärts gewandter, wenig populärer Reflex. In Wahrheit hat Deutschland von den Agenda-Reformen enorm profitiert, der Aufschwung der letzten Jahre war durch sie erst ermöglicht. Nahles hat daher die strategische Weiche schlichtweg falsch gestellt. Anstatt die innerparteilichen Kämpfe von 2004 wie in einer Endlosschleife weiter zu fechten, hätte sie ein Zukunftsthema besetzen müssen. Denn die klassische Umverteilungspolitik ist im Digitalzeitalter in etwa so populär wie Telefonzellenkleingeld für Handynutzer.

In der SPD mehren sich nun die Stimmen, die eine personelle Neuaufstellung mit Blick auf die Bundestagswahlen 2021 haben wollen. Berliner Genossen-Zirkel beraten emsig, wie man Nahles zum freiwilligen Rückzug bewegen könnte. Sie möge Fraktionsvorsitzende bleiben, aber den Parteivorsitz abgeben, raunt es. Große Teile der Partei wollen sowieso lieber heute als morgen raus aus der Merkel-Umarmung, die der SPD offenbar die Luft zum Atmen nimmt.

Da der SPD im zweiten Halbjahr bei den Wahlen in Ostdeutschland weitere bittere Niederlagen drohen, dürfte Andrea Nahles sich nur schwer als Parteivorsitzende halten. Ihre politische Lebensversicherung ist ironischerweise die Schwäche der SPD selbst. Mittlerweile wirkt die Partei so verunsichert, dass sie selbst Angst vor einem Neubeginn ausstrahlt. Die amtierenden Bundesminister klammern sich an ihr Amt und haben kein Interesse an Nahles-Sturz und Regierungsausstieg. Und da kein überzeugender Volkstribun als Nahles-Ersatz in Sicht ist, kann sie sich möglicherweise von Tiefpunkt zu Tiefpunkt weiter retten – zumindest noch ein Jahr bis zum Ablauf der üblichen Vorsitzenden-Frist.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European hier.

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Martin Wolff / 23.04.2019

“In Wahrheit hat Deutschland von den Agenda-Reformen enorm profitiert ...” Inzwischen stellt sich das als Nachteil heraus: die Deutschen haben ihren Haushalt auf Vordermann gebracht, jetzt steht er bereit, um EU-Lasten zu übernehmen. Oder Kosten für ungeplante Einwanderung. Wer genau profitiert denn nun von unserem Haushalt? Das Leistungsdenken wird abgeschafft. Die SPD ist die Letzte, die daran etwas ändern wird.

Volker Kleinophorst / 23.04.2019

1. Wofür waren die Schröder-Reformen jetzt gut? Damit wir genug Geld zur humanitären Unterstützung der Welt haben? Den deutschen Arbeitnehmern und Steuerzahlern hat die SPD mit Hartz und Co. ins Gesicht gespuckt. Schon auffällig, die SPD schreddert den Sozialstaat, die Union öffnet die Grenzen, beides Wendungen in der “Kernkompetenz” um 180 Grad, die nicht wirklich diskutiert wurden. 2. Habeck wollen 20%. Laut “Spiegel” kennen ihn aber nur 51 % der Deutschen. Heißt es jetzt eigentlich nur 10% der 49% wollen ihn und man hat die 49% einfach mal hochgerechtnet auf 100 %. Oder heißt das jetzt 20% der 100% wollen ihn, und Habeck hat noch Potential bei den 51%, die ihn nicht kennen?

Peter Braun / 23.04.2019

“Kipppunkte” gibt es nicht nur im Klima, sondern auch in der Politik. Wenn man sich die erste REihne der SPD anschaut, stellt sich die Frage wieso ein intelligenter Mensch sich dort einbringten und unter Vorgesetzen wie Nahles, Schäfer-Gümbel, Maas, Dreier und Schwesig arbeiten sollte wenn er auch andere Möglichkeiten hat? Drittklassige Führungskräfte finden eben selten erstklassige Angestellte (die dann auch noch länger bleiben ...).

Martin Stumpp / 23.04.2019

Was macht ein halbwegs intelligenter Mensch, wenn er etwas ändert und er feststellt, dass er schlechtere Ergebnisse erzielt als zuvor? Richtig er geht zum Anfang zurück, Back to Roots! Was macht die SPD? Richtig sie macht genauso weiter wie bisher, immer nach dem Motto, die Hose ist noch zu kurz, schneiden wir noch ein weiteres Stück ab. Tatsächlich müsste die SPD zurück zu ihren Wurzeln, d.h. sie müsste die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertreten und vor allem die Realität zur Kenntnis nehmen. Was tut sie? Sie vertritt die Interessen des Prekariats, das kann die Linke aber glaubwürdiger, sie vertritt die Interessen von Islamisten und Migranten, aber das Gutmenschentum ist nun einmal bei den Grünen besser aufgehoben und sie vertritt die Interessen der Pensionsempfänger, also die eigenen, dafür aber ist die CDU die effektivere Partei. Die SPD wird nur noch aus Tradition gewählt von Menschen die politisch uniformiert sind oder an Demenz leiden. Einige neue Wählerschichten spricht die gute alte Tante SPD Abi dann doch an. Die Islamisten mit den SPD-Protagonisten Celebi und Özoguz. Diese Wählerschaft garantiert derzeit aber noch nicht den Sprung über die 5% Hürde.

Jutta Schäfer / 23.04.2019

Nahles?? Nahles??? Wer war das nochmal?? Würde die irgendjemand vermissen?

Lothar Finger / 23.04.2019

War es nicht Nahles, die dafür gesorgt hat, einen der fähigsten deutschen Beamten aus dem Amt zu jagen? By the way : Die Grenzen sind immer noch offen!

Robert Jankowski / 23.04.2019

Nur so nebenbei: Hartz 4 ist war und ist ein weiterer Grund für viele Deutsche gewesen, sich keine Kinder zu leisten, weshalb der demografische Wandel noch stärker beschleunigt wurde. Man hat(te) schlicht Angst vor Armut wegen der Kinder. Insofern kann man diese Reform, welche die Sozialdemokraten auf Kosten ihrer eigenen Kernklientel in die Wege geleitet haben, auch nur schwierig hinterher schönreden. Zudem ist die ehemalige SPD Klientel ja auch nicht die Schicht der Bevölkerung an welche anschließend die gewonnenen Steuergelder als Förderpaket gegangen sind. Diese Gelder sind für die ungewollte Zuwanderung aus dem islamistischen Raum verballert worden und der doofe Deutsche schaut weiter in die Röhre oder wird, wie auf dem Wohnungsmarkt, gegenüber den Zuwanderen auch noch schlechter gestellt. Als Ex-SPDler würde ich diese Partei mittlerweile umbennen in ISPD-Islamistische Partei Deutschlands, ich kann Deutsche, die weiterhin dieser Partei ihre Stimme geben, nicht verstehen. Die SPD hat Alles verraten für das die Partei vor 30 Jahren noch gestanden hat.

Lars Bäcker / 23.04.2019

Was hat man denn erwartet? Gute Umfrageergebnisse hatte die Dame nie. Wir haben es hier mit einer Politikerin zu tun, die seit Jahr und Tag im Bundestag sitzt, wichtige Ämter inne hatte und bis heute nicht ein einziges Mal ihren eigenen Wahlkreis für sich gewinnen konnte. Das liegt daran, dass sie in ihrem Wahlkreis ebenso wahrgenommen wird, wie über diesen hinaus, nämlich als ein wenig infantil („Bätschi“), zuweilen auch etwas primitiv („Ab nächster Woche gibt‘s auf die Fresse“) und somit insgesamt wenig geeignet, die Geschicke dieses Landes oder der einer stark angeschlagenen Partei zu lenken. Für mich ist sie der Markus Lanz der SPD. Diesem hat man „Wetten, dass…?“ auch nur deshalb anvertraut, um der leckgeschlagenen Samstagabenshow den Todesstoß zu verpassen, ohne dass diese Schmach am TV-Dino Gottschalk hängenbleibt. Lanz war quasi Opfer seiner Eitelkeit. Er hatte, ebenso wie Nahles im Hinblick auf die Parteiführung, nicht verstanden, warum man gerade ihm, diese Sendung anvertraut hat. Der Unterschied wird darin bestehen, dass man, kurz bevor der SPD das Licht ausgeht, einen neuen Retter präsentieren wird, möge er nun Kühnert oder (wieder einmal) Gabriel heißen. Mit einem bisschen Glück aber auch 100-Prozent-Europa-Schulz oder gar Ralf Stegner. Dann hätte das Leiden ein Ende.

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