Moritz Mücke, Gastautor / 01.05.2020 / 15:00 / Foto: Vít Švajcr / 18 / Seite ausdrucken

Vorsicht Wokeness!

Bei der Wortschöpfung „The Great Awokening“ handelt es sich um eine humoristische Meisterleistung. Der Begriff, zuerst vom Journalisten Matthew Yglesias eingeführt, ist zweischichtig. Erstens spielt er auf die historisch bedeutsamen christlichen Erweckungsbewegungen an, die Amerika zivilgesellschaftlich und politisch geprägt haben. Jeweils eine sogenannte Great Awakening hat es in den Vereinigten Staaten im 18. und im 19. Jahrhundert gegeben. Es waren soziale Verfestigungen privaten Eifers, die nicht selten in politisch erfolgreiche Reformbestrebungen mündeten: Die Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei, für die stärkere Verbreitung des Frauenwahlrechts und zur Bekämpfung der öffentlichen Trunkenheit profitierten erheblich von den Eingaben dieser überwiegend protestantischen Strömungen.

Zweitens versteckt sich in dem Terminus „Awokening“ das neue Wort „woke“, ein auf die afro-amerikanische Popkultur zurückgehender Modebegriff der 10er Jahre, der sich in den sozialen Medien einer erstaunlichen Viralität erfreut. Als eine Spielart von „awake“ stand der Begriff ursprünglich für den wünschenswerten Besitz eines sozialen Bewusstseins, das sich etwa in der Kenntnis diskriminierender gesellschaftlicher Strukturen äußern mochte. Denn nur aus Wachheit erwächst Wachsamkeit. Freilich hängt die Beliebtheit des Wortes auch an seinem phonetischen Gehalt: Bei der Aussprache von „woke“ formt sich der Mund wie der eines gekonnten Pfeifenrauchers, der amüsiert Rauchringe durch die Luft pustet.

Seinen angenehmen Klang hat der Begriff allerdings weitgehend eingebüßt. Zu leicht bot er sich der feindlichen Übernahme durch Sozialkonservative und Rechtsliberale an, die ihn zu einem höhnischen Sammelbegriff für jene Tendenzen umgestalteten, die sich in den vergangenen Jahren an der Speerspitze des linken Kulturfortschritts verdichtet haben. Insbesondere auf College-Campussen, aber auch in Hollywood, dem Silicon Valley und den sozialen Medien, pocht ein zunehmend strenger Puls autoritärer Korrektheit, der, ganz der Weltrettung gewidmet, gegen Andersdenkende hart ins Gericht gehen zu dürfen glaubt.

Unterdrückte Identitäten aufeinander stapeln

Der Eifer fordert Opfer. Längst beschränkt die nordamerikanische Wokeness ihre unsanften Eingriffe in die öffentlichen Debatten nicht mehr auf Intellektuelle wie Jordan Peterson, Heather Mac Donald oder Bret Weinstein. Diese hatten in einem akademischen Kontext Kritik an den „intersektionalen“ Verschränkungen geübt, mit denen die woken Hohepriester die Identitäten tatsächlich oder vermeintlich unterdrückter Minderheiten aufeinanderstapeln wie bei einem Totempfahl, um so deren politische Ansprüche gegen die Mehrheitsgesellschaft auszuhandeln. 

Kevin Hart beispielsweise gehört zu Amerikas erfolgreichsten Komikern, aber als er 2018 als Moderator der Oscar-Verleihung im Gespräch war, wurde er Opfer einer woken „Empörungs-Archäologie“: Kritiker hatten alte Tweets von Hart ausgegraben, in denen dieser Witze über Homosexuelle gemacht hatte. Die Oscars konnte er sich daraufhin abschminken. Dabei übersahen die Brigaden der Wokeness nicht nur, dass es zum Berufsbild eines Komikers gehört, gesellschaftliche Tabus auszuloten, sondern auch, dass Hart sich längst für die Tweets entschuldigt hatte – allerdings offenbar nicht enthusiastisch genug. Auch seine Identität als Mitglied der afro-amerikanischen Minderheit schützte ihn nicht, denn auf dem woken Totempfahl steht diese gelegentlich unterhalb der ebenfalls als diskriminiert wahrgenommenen sexuellen Minderheit. Das Phänomen auf ethnische Kategorien zu beschränken, wie es Wortschöpfer Yglesias tut, geht also fehl.

Die im Begriff „Great Awokening“ verballhornte Neigung zu einer übermäßig sensiblen sozialen Einstellung, die sich oft mit Forderungen nach Einschränkung der Redefreiheit Anderer verbindet, ist allein deshalb ernst zu nehmen, da sie ein wissenschaftlich greifbares Phänomen geworden ist. Der in London lehrende Politikwissenschaftler Eric Kaufmann etwa datiert die ersten Anzeichen des Phänomens in den amerikanischen Debatten um eine striktere Einwanderungspolitik vor bereits einem Jahrhundert. 

Das heutige Resultat dieses „Linksmodernismus“ als eine Mischung aus „liberalem Kosmopolitanismus“ und „kulturellem Egalitarismus“ beschreibt Kaufmann folgendermaßen: „Wo einst Kommunisten, Atheisten und Elvis den Stachel einer konservativen moralischen Panik spürten, ist die heutige Inquisition progressiv, erzwingt Paniken über Rassismus und Sexismus und erschafft gekünstelt-rassistische Konzepte wie das der ‚kulturellen Aneignung‘“. Wer die Kultur einer Minderheit an sich zieht, und sei es nur spielerisch, bedroht in den Augen der Wokeness ihre kollektive Authentizität, die sich auch aus erfahrener Unterdrückung herleitet.

Schwache gesellschaftliche Trends künstlich verstärkt

Noch faszinierender ist jedoch die quantitative Dimension dieses großen Erwachens. Forscher wie der Doktorand Zach Goldberg arbeiten sich durch große Datensätze und Umfragen, um ihr auf den Zahn zu fühlen. Er beschreibt sie in einer Zusammenfassung als eine Amerika neu denkende und sich „rapide ändernde politische Ideologie weißer Linksliberaler“. In vielen politischen Fragen stünden diese mittlerweile weiter links als jene nicht-weißen Minderheiten, die zu beschützen sie sich mit missionarischem Eifer zum Ziel gesetzt haben. Es handele sich sogar um die einzige demographische Gruppe in Amerika, die in Umfragen eine stärkere Präferenz für andere ethnische Gruppen ausdrücke als für die eigene.

Goldbergs Daten sprechen eine deutliche Sprache. Bei Themen wie der positiven Rassendiskriminierung (affirmative action), Skepsis gegenüber Israel, stärkerer Einwanderung und Reparationen für die bereits vor anderthalb Jahrhunderten abgeschaffte Sklaverei befänden sich weiße Linksliberale auf einem Kurs zunehmender intellektueller Verselbstständigung. Ein nachvollziehbarer Indikator hierfür sei, dass sowohl im Archiv der progressiven New York Times als auch bei Eingaben in gängige Suchmaschinen ein starkes Anwachsen von Begriffen wie „Weißes Privileg“, „institutioneller Rassismus“, „Unterdrückung“ oder „Marginalisierte Gruppen“ zu beobachten sei. 2010 sagten nur ein Viertel befragter Linskliberaler, dass Diskriminierung gegen Schwarze aktuell ein „sehr ernstes Problem“ sei – 2016 waren es deutlich mehr als die Hälfte.

Dass die gesellschaftlichen Probleme tatsächlich existieren, wird fast niemand bestreiten. Allerdings ist es nicht plausibel, dass ihre Verbreitung sich ausgerechnet in dem von der Präsidentschaft Barack Obamas abgedeckten Zeitraum im Sinne der von Linksliberalen wahrgenommenen Eskalation entwickelt haben soll. Nicht nur handelt es sich bei Obama um einen Demokraten und den ersten schwarzen Präsidenten der USA. Auch die unter ihm gedienten und für Fragen der Diskriminierung zuständig gewesenen Justizminister, Eric Holder und Loretta Lynch, sind Demokraten und schwarze Amerikaner. Kein Wunder, dass Goldberg auf die unter Linksliberalen besonders stark vertretene Nutzung sozialer Medien als eine mögliche Erklärung verweist. Auch schwache gesellschaftliche Trends würden dort künstlich verstärkt.

Das Argument ist entscheidend, nicht die Identität des Autors

Aber es gibt noch eine weitere Erklärungsmöglichkeit. Das große Erwachen kann nur im Schatten der gesellschaftlichen Säulen nachvollzogen werden, die vom amerikanischen Linksliberalismus fast unangefochten dominiert werden. Neben der Unterhaltungsindustrie, den Gewerkschaften und der öffentlichen Verwaltung sind das insbesondere die Universitäten, die in den letzten Jahren immer wieder als neuralgische Punkte gesellschaftlicher Zuspitzung in die Schlagzeilen gerieten. Man kann freilich einwenden, dass die politische Schlagseite der amerikanischen Geisteswissenschaften ein altes Phänomen ist.

Allerdings übersähe man damit die gewaltigen Implikationen aktueller akademischer Trends, die in die „Great Awokening“ eingewoben sind und die der Philosoph Peter Boghossian, der sich selbst als „liberalen Atheisten“ bezeichnet, unlängst auf der Meinungsseite des konservativen Claremont Institute beschrieben hat. Den ersten amerikanischen Kulturkampf, der sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts insbesondere um moralisch-religiöse Fragen drehte, erklärt er schlicht für beendet, seitdem der oberste Gerichtshof 2015 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Mittlerweile aber tobe ein „Kulturkrieg 2.0“, in dem es um den Modus nicht nur des öffentlichen Debattierens, sondern der Zugänglichkeit politischer Wahrheit überhaupt gehe.

Boghossian findet sich plötzlich auf der Seite der Konservativen wieder, da er mit ihnen zwar in religiösen Fragen uneins ist, nicht aber in der zunehmend entscheidenden Frage. Beide glaubten an die „Korrespondenztheorie der Wahrheit“, also daran, dass sich politische Aussagen an ihrem überprüfbaren Realitätsbezug messen lassen müssen, dass sie also mit einer allen Menschen gleichermaßen zugänglichen Wirklichkeit korrespondieren. Auf so einer Grundlage machen freie Debatten Sinn, denn alle Teilnehmer sind sich über die zugrundeliegenden Regeln einig, wenn auch nicht über das angestrebte Ziel. Das Argument ist entscheidend, nicht die Identität seines Autors. 

Sumpf der Identitäten bringt Sprengstoff

Laut Boghossian hat ein Teil der akademischen Welt das von ihm umrissene Spielfeld längst verlassen. Denn wer die Welt „intersektional“ betrachtet, schreibe unterschiedlichen demographischen Gruppen in Abhängigkeit ihres Grades an erfahrener Diskriminierung unterschiedlich stark legitimierte Zugänge zur sozialen Wirklichkeit zu. Schwarze Frauen seien beispielsweise anders diskriminiert als weiße Frauen oder schwarze Männer. Das Resultat seien verschiedentlich privilegierte Einblicke in die Lebenswahrheit. Je größer die im einzelnen Menschen gebündelte gesellschaftliche Unterdrückung, desto authentischer seine politische Perspektive.

Ob man wie Goldberg von der „Great Awokening“ oder wie Boghossian von einem neuen „Kulturkrieg“ spricht, läuft letztendlich auf dasselbe hinaus. Jener Linksliberalismus, der sich zunehmend im Sumpf der Identitäten verliert, birgt Sprengstoff für eine Nation, deren Gesellschaftsvertrag sich aus der natürlichen Gleichheit der Menschen ableitet. Genau die hat die Unabhängigkeitserklärung von 1776 nämlich eingefordert. Keine abweichende Schattierung von Identität wiegt so schwer wie die politische Hinsicht, in der alle einander identisch sind, nämlich in ihrem Wirklichkeits- und Rechtsanspruch. Dass die Linksliberalen zum Partikularismus hinabsteigen, während sich die Konservativen zu Universalisten emporschwingen, ist der Treppenwitz einer amerikanischen Zeitenwende. 

Dieser Beitrag erschien auch auf der Homepage des Deutschen Arbeitgeber Verbands.

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Leserpost

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Thomas Taterka / 01.05.2020

Verzeihung, Herr Mücke! Mein Hinweis war ungenau : die Folge ” Columbus Day” ist richtig , aber es sind Mohawk - Casinobetreiber + Mafia, die schwarzen korrupten Gewerkschaftler werden in einer anderen Folge behandelt. Mein Gedächtnis hat mich verlassen. Sehenswert sind beide und überhaupt alles an dieser Produktion. Vielen Dank für die Lektüre.

Gereon Stupp / 01.05.2020

Wenn in den Vereinigten Staaten ein Unfug ersonnen wird, dann übernehmen den die Deutschen mit einem gewissen Zeitversatz, immer. Vernünftige Dinge, die sich in Amerika bewährt haben nicht, nie. Ich würde das inzwischen zu den Naturgesetzen zählen.

R. Gremli / 01.05.2020

Mir wird jedesmal übel, wenn ich über solche Themen lese! Da denkt man, man hätte es in punkto Gleichberechtigung der Frau auf einen Stand gebracht, den es nicht mehr weiter zu diskutieren braucht und als mehr oder weniger abgeschlossen anzusehen wäre. Dann kommt dieser Mist von Postkolonialismus, Intersektionalität (Habe immer noch nicht begriffen, was das soll), die Alphabeth - Community und deren eingebildete Diskriminierung. Geht es denn nicht mal eine Zeit lang ohne künstlich herbeigeredete Probleme? Wir hätten genug echte Probleme zu lösen und echte Standpunkte zu vertreten! Aber sicher nicht diesen Mist von Genderzeugs, das den Steuerzahler erst noch Millionen kostet, nichts Konstruktives bringt, sondern nur eine weitere Spaltung der Gesellschaft aufbricht.

Gerd Heinzelmann / 01.05.2020

Jeder, der hier schon einmal Feindkontakt hatte, wird sehr genau abwägen was er sagt. Die Gefahr, den Gegner stärker zu machen, ist allgegenwärtig. Deswegen mag ich die Achse!

Andreas Stueve / 01.05.2020

Das ganze ist linkes Rentseeking. Ausgebruetet an linken Universitäten, die ihre Existenz vermittels Rekrutierung von eigentlich Studierunfaehigen sichern. Und lange kein US-Phänomen mehr. Man sehe sich die “Leer-Stuehle” an den BRD- Unis an. Alles, bloß nicht forschen oder gar arbeiten. Am Ende gibt’s ‘nen Job als GleichstellungsbeauftragtIn* beim Staat oder in der Sozialindustrie. Da hat man dann Zeit und Musse, über Rassisten, alte weiße Männer und Verschissten zu reüssieren. Warum muss ich eigentlich immer an Spargel denken, wenn ich “soziologische” Themen hoere???

Ralf Pöhling / 01.05.2020

Der Trick bei der ganzen Sache ist einfach: Wer sich als unterdrückte Minderheit deklariert, der kann sich auf diesem Weg einen Vorteil erheischen. Wenn der Prof einem Studenten oder einer Studentin eine schlechte Note reinwürgt, weil die Leistung eben bescheiden war, dann kommt heutzutage sofort der Vorwurf zurück, die Note basiere nicht auf der schlechten Leistung, sondern auf der Hautfarbe, dem Geschlecht, oder was auch immer des Studenten oder der Studentin. Das ist natürlich in weiten Teilen völliger Blödsinn. Aber Menschen suchen sich im Normalfall eben den Weg des geringsten Widerstands. Und sich auf den Hosenboden zu setzen und zu pauken, ist nun mal deutlich anstrengender, als dauernd Party zu feiern und dem Prof einfach Rassismus oder “Ungleichbehandlung” vorzuwerfen, wenn die Note deshalb nicht wie gewünscht ausgefallen ist. Noten sind dafür da, ungleiche(!) Leistung ungleich(!) zu bewerten, damit die echte Leistung und Kompetenz des Studenten oder der Studentin vom zukünftigen Arbeitgeber richtig eingeschätzt werden kann. Wenn nun Noten nicht ungleich nach ungleicher Leistung, sondern jeweils gleich nach Hautfarbe oder angeblicher Unterdrückung durch “weiße alte Männer” verteilt werden, dann ist das nicht nur an den Anforderungen des Arbeitsmarktes und damit am realen Leben vollkommen vorbei, sondern auch noch rassistisch bis auf die Knochen. Die Links-“liberalen” sind Rassisten. Wie die Nazis. Nur diesmal mit umgekehrter Präferenz für Hautfarben. Und die Ursache dafür ist Faulheit! Nichts anderes! Wenn dieser grenzdebile Wahnsinn so weiter geht, wird die gesamte Welt bald von “bunten”, rassistischen Vollidioten regiert, deren einzige Kompetenz darin besteht, zu einer angeblich unterdrückten Minderheit zu gehören. Das Wort “linksliberal” gehört aus dem Wortschatz der Menschheit getilgt, denn wer rassistisch ist, der kann unmöglich liberal sein.

Thomas Taterka / 01.05.2020

Wird glänzend parodiert in der HBO - Produktion ” Sopranos ” , - in der Folge ” Columbus Day “. Durch die Darstellung der Korruption von schwarzen Gewerkschaftlern durch italoamerikanische Mafia- Interessen. Die Serie war u.a. ein Meilenstein in der Kennzeichnung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen im ersten Jahrzehnt. Jahre voraus. Ziemlich intelligentes Fernsehen. Ein Meisterwerk von A-Z. Grossartig im Original und in der Synchronisation des ” Studio Hamburg “.

Ricardo Sanchis / 01.05.2020

Und jetzt malen wir uns einmal aus zu was awokeness führt, wenn sie mit typisch deutscher identitätslinker Läuterungsagenda ( Sandra Kostner ) zusammentrifft. Im Ansatz ist das schon deutlich zu erkennen. Freuen wir uns also auf die Zunahme von Denk-, Sprech-  und Berufsverboten und wohl bald kommenden grünfaschistischen Umerziehungslagern.

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